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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Urteil verkündet am 10.06.2002
Aktenzeichen: 12 U 8860/00
Rechtsgebiete: StVO, ZPO, EGZPO


Vorschriften:

StVO § 4 Abs. 1 Satz 1
StVO § 4 Abs. 1 Satz 2
StVO § 25
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713
EGZPO § 26 Nr. 8
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
KAMMERGERICHT Im Namen des Volkes

Geschäftsnummer: 12 U 8860/00

Verkündet am: 10. Juni 2002

In dem Rechtsstreit

hat der 12. Zivilsenat des Kammergerichts auf die mündliche Verhandlung vom 10. Juni 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Kammergericht Grieß, den Richter am Amtsgericht Dr. Wimmer sowie den Richter am Kammergericht Hinze für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 18. September 2000 verkündete Urteil der Zivilkammer 24 des Landgerichts Berlin - 24 O 161/00 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache keinen Erfolg, weil das angefochtene Urteil richtig ist. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils (§ 543 Abs. 1 ZPO). Im Hinblick auf das Vorbringen des Klägers in der Berufung weist er ergänzend auf Folgendes hin:

1. Entgegen dem Vorbringen des Klägers kann eine Vorfahrtsverletzung des Beklagten zu 2. nicht festgestellt werden. Weder der Kläger selbst bei seiner Anhörung noch einer der Zeugen haben den Vortrag des Klägers bestätigt, der Beklagte zu 2. sei bei für ihn rotem Ampellicht in den Einmündungsbereich eingefahren. Der Kläger selbst hat angegeben, die beiden Fahrzeuge, d. h. dasjenige des Beklagten zu 2. und das andere Fahrzeug, welches gleichfalls von der F-E-Allee in die N Straße eingebogen war, seien "bei spätem Gelb" nach rechts in die N Straße abgebogen. Erst kurz danach habe die Ampel auf Rot umgeschaltet. Eine weitere Sekunde später erst habe die für den Kläger maßgebende Ampel auf Grün geschaltet. Die Zeugin hat bekundet, der Beklagte zu 2. und das andere Fahrzeug müssten "ziemlich am Ende der Grünphase ihrer Ampel gefahren sein". Nach der Aussage des Zeugen (Busfahrer) ist der Beklagte zu 2. bei gelbem Ampellicht in den Einmündungsbereich eingefahren. Nach der Aussage des Zeugen hat die Ampel für die Fahrtrichtung des Klägers erst zu dem Zeitpunkt auf Grün geschaltet, als der Beklagte zu 2. und das andere Fahrzeug "im Scheitelpunkt der Kurve" zum Rechtsabbiegen waren. Wenn der Beklagte zu 2. aber noch bei gelbem Ampellicht, nach der Aussage der Zeugin sogar möglicherweise noch bei grünem Ampellicht in den Einmündungsbereich eingefahren ist, hatte er als Nachzügler gegenüber dem Kläger Vorrang. Dieser war verpflichtet, dem Beklagten zu 2. das Verlassen der Kreuzung zu ermöglichen und auf ihn Rücksicht zu nehmen (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 37 StVO Rdnr. 45 m. w. N.). Da sich die eigentliche Kollision mindestens 10m außerhalb des Einmündungsbereichs ereignet hat und eine Vorfahrtsverletzung seitens des Beklagten zu 2. nach dem Ergebnis der vor dem Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme ausscheidet, kommen auch die Grundsätze über eine Haftungsverteilung bei Missachtung des Nachzüglervorrangs, wonach der bei Grün anfahrende überwiegend, aber nicht notwendigerweise allein haftet (vgl. Hentschel a. a. O.) nicht zum Tragen. Aufgrund des Vorrangs des Beklagten zu 2. greift auch die Rechtsprechung nicht ein, wonach dann, wenn ein vorfahrtsberechtigtes Kraftfahrzeug außerhalb des Einmündungsbereiches auf ein aus der untergeordneten Straße eingebogenen Kfz zu einem Zeitpunkt auffährt, zu dem dieses die auf der Vorfahrtsstraße übliche Geschwindigkeit noch nicht erreicht hat, der Beweis des ersten Anscheins für eine Vorfahrtsverletzung des Einbiegenden spricht (Senat, Urteil vom 22. Juni 1992 - 12 U 7008/91; OLG München, NZV 1989, 438).

2. Zutreffend ist das Landgericht in dem angefochtenen Urteils davon ausgegangen, dass gegen den Kläger als "Auffahrenden" der Beweis des ersten Anscheins dafür spricht, er sei entweder zu schnell gefahren oder habe es an der erforderlichen Aufmerksamkeit fehlen lassen.

a) Entgegen der Ansicht des Klägers führt der Umstand, dass das Motorrad des Klägers vor der Kollision mit dem Polizeifahrzeug unstreitig umgestürzt ist, aufgrund der Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Sturzes jedoch anschließend gegen das Polizeifahrzeug gerutscht ist, nicht zu einer anderen Beurteilung. Es ist häufig zu beobachten, dass Zweiräder vor der eigentlichen Kollision mit einem anderen Verkehrsteilnehmer aufgrund einer objektiv zu spät eingeleiteten Brems- oder Ausweichreaktion umstürzen, was bei einem vierrädrigem Fahrzeug nur in Ausnahmefällen vorkommt. Dieses bauartbedingte unterschiedliche Verhalten von zweirädrigen und vier- oder mehrrädrigen Fahrzeugen kann indes nicht zu einer anderen rechtlichen Beurteilung führen.

b) Dem Kläger kann auch nicht zugestimmt werden, wenn er meint, das von ihm behauptete plötzliche starke Abbremsen des Beklagten zu 2. sei geeignet, den gegen ihn, den Kläger, sprechenden Beweis des ersten Anscheins zu erschüttern. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes, wonach der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug in der Regel so groß sein muss, dass auch dann hinter ihm gehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird (§ 4 Abs. 1 Satz 1 StVO). Demgemäß entspricht es der ständigen Rechtsprechung, dass der Auffahrende auch dann in der Regel überwiegend haftet, wenn der Vorausfahrende entgegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO ohne zwingenden Grund stark bremst (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 4 StVO Rdnr. 11).

3. Ein Verstoß des Beklagten zu 2. gegen das Verbot aus § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO, ohne zwingenden Grund stark zu bremsen, hat der Kläger schon nicht hinreichend dargetan. Nach Sinn und Zweck der Regelung des § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO gilt das Verbot scharfen Bremens nur dann, wenn der Hintermann durch das starke Bremsen des Vordermannes überhaupt gefährdet wird (OLG Karlsruhe, VRS 76, 414). Dies ist dann nicht der Fall, wenn wegen ausreichend großen Abstandes des nachfolgenden Verkehrs keine ernstliche Gefahr besteht (Senat, VM 2000, 79 = DAR 2001, 122 = VersR 2001, 1048 = KGR 2001, 59; OLG Hamm, VRS 50, 312; OLG München, DAR 1974, 19; OLG Frankfurt, DAR 1984, 157; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 4 StVO Rdnr. 11). Es wäre daher Sache des Klägers gewesen, darzulegen, wie groß der Abstand zwischen seinem Motorrad und dem vom Beklagten zu 2. geführten Streifenwagen zu dem Zeitpunkt war, als der Beklagte zu 2. bremste, und wie hoch seine - des Klägers - Geschwindigkeit zu diesem Zeitpunkt war. Hierzu hat der Kläger auch bei seiner Anhörung durch das Landgericht keine konkreten Angaben gemacht. Gegenüber dem Landgericht hat er lediglich erklärt, als er losgefahren sei, sei das Fahrzeug des Beklagten zu 2. noch in Bewegung gewesen. Danach habe er, der Kläger, einen Sicherungsblick nach hinten gemacht. An dem Polizeifahrzeug habe er keine Bremsleuchten aufleuchten sehen. Als er mit der Bremsung begonnen habe, sei er etwa 10m von dem vor ihm befindlichen Fahrzeugen entfernt gewesen. Dieser Darstellung kann lediglich entnommen werden, dass der Bremsvorgang des Beklagten zu 2. zu einem Zeitpunkt abgeschlossen gewesen sein muss, als sich das Motorrad des Klägers noch mehr als 10 m von dem Streifenwagen entfernt befunden hat, denn anderenfalls hätte der Kläger die Bremsleuchten am Streifenfahrzeug aufleuchten sehen müssen.

Auch nach den Aussagen der vom Landgericht vernommenen Zeugen kann nicht festgestellt werden, dass das Motorrad des Klägers sich dem vom Beklagten zu 2. geführten Streifenwagen so stark genähert hätte, dass dieser durch ein starkes Bremsen den Kläger gefährden würde.

a) Die Zeugin hatte zwar bei ihrer schriftlichen Aussage vom 1. November 1999 die Auffassung geäußert, ihrer Meinung nach habe der Motorradfahrer (also der Kläger) keine Möglichkeit gehabt, auszuweichen oder anzuhalten. Bei ihrer Vernehmung durch das Landgericht hat sie jedoch ausgesagt, nach ihrer Erinnerung seien "das Anhalten" (des Beklagten zu 2.) "und das Losfahren des Motorradfahrers ... ziemlich gleichzeitig" erfolgt, auch wenn man ihre schriftliche Aussage anders verstehe. Wenn man diese Aussage zugrunde legt, muss jedoch der Abstand zwischen dem Motorrad des Klägers und dem Streifenwagen des Beklagten zu 2., als dieser abbremste, so groß gewesen sein, dass eine Gefährdung des Klägers nicht zu erwarten war. Denn unstreitig hat der Streifenwagen mindestens 10m hinter der Einmündung angehalten. Die Geschwindigkeit des Streifenwagens betrug nach der eigenen Darstellung des Klägers, wie vom Zeugen (Taxifahrer) bekundet, etwas mehr als Schrittgeschwindigkeit also etwas mehr als 1,7 m/sec.2 (vgl. Kuckuk/Werny, Straßenverkehrsrecht, 8. Aufl., § 25 StVO Rdnr. 12 b). Bei dieser Ausgangsgeschwindigkeit beträgt der Bremsweg selbst bei einer normalen Abbremsung mit einer Verzögerung von nur 2,5 m/sec.2 weniger als 1 m, bei der vom Kläger behaupteten starken Abbremsung sogar nur 0,1 m (Kuckuk/Werny a. a. O., XIX. 1. Bremswegtabelle). Mithin ist davon auszugehen, dass sich der Beklagte zu 2. mit dem von ihm geführten Pkw mindestens 9 m jenseits der Kreuzung befand, als der Kläger anfuhr. Berücksichtigt man zudem, dass der Kläger, bevor er mit seinem Motorrad anfuhr, an der Haltelinie der N Straße jenseits der Einmündung der F-E-Allee gehalten hatte, die dort insgesamt fünf Fahrstreifen aufweist, so muss der Abstand der Fahrzeuge, als der Beklagte zu 2. den Bremsvorgang einleitete, deutlich mehr als 20 m betragen haben, wobei die Geschwindigkeit des Klägers, da dieser gerade erst angefahren war, noch gering gewesen sein muss. Unter diesen Umständen brauchte der Beklagte zu 2., als er das von ihm geführte Fahrzeug abbremste, nicht mit einer Gefährdung des Klägers zu rechnen. Dafür spricht auch, dass der Zeuge, der gleichzeitig mit dem Kläger angefahren war, das von ihm geführte Taxi ohne weiteres rechtzeitig vor den haltenden Fahrzeugen abbremsen konnte.

b) Auch aus der Aussage des Zeugen (Busfahrer) ergibt sich nichts anderes. Dieser hat bekundet, als der Kläger angefahren sei, seien die beiden Fahrzeuge (darunter das vom Beklagten zu 2. geführte) noch in Bewegung gewesen. Diese hätten aus einer geringen Geschwindigkeit plötzlich abgebremst. Auch nach dieser Aussage sind das Anfahren des Klägers und das Abbremsen des Beklagten zu 2. zeitnah zueinander erfolgt.

c) Mithin fehlt bereits eine Gefahrensituation für das nachfolgende Fahrzeug (Kläger), aufgrund derer der Beklagte zu 2. verpflichtet war, nicht ohne zwingenden Grund stark zu bremsen. Im Übrigen folgt der Senat dem Landgericht darin, dass der Kläger ein starkes Bremsen nicht bewiesen hat. Auf die weitere Frage, ob der Beklagte zu 2., wie von den Beklagten behauptet, zum Unfallzeitpunkt hoheitlich tätig war, mit der Folge, dass seine persönliche Haftung grundsätzlich ausgeschlossen ist, kommt es mithin nicht mehr an.

d) Entgegen der vom Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geäußerten Rechtsauffassung kann ein unfallursächliches Mitverschulden des Beklagten zu 2. auch nicht darin gesehen werden, dass dieser es unterlassen hat, die Warnblinkanlage einzuschalten, nachdem er in zweiter Spur angehalten hatte. Dabei kann dahinstehen, ob im konkreten Fall eine derartige Verpflichtung überhaupt bestand. Denn jedenfalls fehlt es nach der eigenen Darstellung des Klägers an der Ursächlichkeit der entsprechenden Unterlassung für den Unfall. Der Kläger hat bei seiner Anhörung durch das Landgericht angegeben, zu dem Zeitpunkt, als er angefahren sei, sei das Fahrzeug des Beklagten zu 2. noch in Bewegung gewesen. Er habe dann seinen Sicherungsblick nach hinten gemacht. Als er wieder nach vorne gesehen habe, habe das Fahrzeug bereits gestanden und er, der Kläger, habe eine sehr harte Bremsung durchgeführt. Sodann habe das Vorderrad blockiert und er sei gestürzt. Daraus folgt, dass der Kläger auch dann, wenn der Beklagte zu dem Zeitpunkt, als er angehalten hatte, die Warnblinkanlage eingeschaltet hätte, dies nicht rechtzeitig hätte wahrnehmen können, da er zur fraglichen Zeit nicht in Fahrtrichtung gesehen hat. Zu dem Zeitpunkt, als der Kläger wieder nach vorn gesehen und das vom Beklagten zu 2. geführte Fahrzeug erkannt hat, hat er sofort gebremst, auch ohne dass an dem vom Beklagten zu 2. geführten Pkw die Warnblinkanlage aufgeleuchtet hätte.

4. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Rechtssage weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO n. F.).

5. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

Ende der Entscheidung

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