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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 04.09.2008
Aktenzeichen: 2 AR 37/08
Rechtsgebiete: GVG


Vorschriften:

GVG § 101
GVG § 102 S. 2
Der Verweisung von der Zivilkammer an die Kammer für Handelssachen (oder umgekehrt) kann auch dann wegen Willkür die Bindungswirkung (§ 102 S. 2 GVG) fehlen, wenn die Unrichtigkeit aus der Nichtbeachtung des Erfordernisses einer rechtzeitigen Antragstellung (§ 101 GVG) folgt. Auch insoweit ist das Vorliegen von Willkür nach den allgemeinen Maßstäben zu prüfen (entgegen OLG Brandenburg NJW-RR 2001, 63).
Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 2 AR 37/08

04.09.2008

In dem Rechtsstreit

hat der zweite Zivilsenat des Kammergerichts durch den Vorsitzenden Richter am Kammergericht Dr. Hawickhorst und die Richter am Kammergericht Franck und Dittrich am 4. September 2008 beschlossen:

Tenor:

Die Zivilkammer 18 des Landgerichts Berlin wird als der funktionell zuständige Spruchkörper bestimmt.

Gründe:

I.

Mit der bei dem Landgericht Berlin -Zivilkammer- eingereichten Klage macht der Kläger gegen den Beklagten zu 1. Ansprüche der Hauptunternehmerin W AG gegen die Nachunternehmerin S GmbH und gegen die Beklagte zu 2. einen Zahlungsanspruch aus einer von dieser ausgestellten Vertragserfüllungsbürgschaft geltend. Mit Beschluss vom 18.04.2008 (18 AR 17/08) hat das Kammergericht gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO das Landgericht Berlin als das für die Klage örtlich gemeinsam zuständige Gericht bestimmt.

Nachdem Klage und Aufforderung zur Erwiderung innerhalb von vier Wochen der Beklagten zu 2. ausweislich der Zustellungsurkunde am 24.01.2008 zugestellt worden sind, hat diese am 28.02.2008 die Verweisung des Rechtsstreits an die Kammer für Handelssachen beantragt. Nach Hinweisen der Zivilkammer vom 05.03.2008, dass nach Aktenlage eine wirksame Zustellung vorliege, und vom 18.04.2008, dass daher der Verweisungsantrag gemäß § 101 Abs. 1 S. 2 GVG verspätet sein dürfte, hat die Beklagte zu 2. unter dem 29.04.2008 ihre Rüge der funktionalen Zuständigkeit aufgegeben.

Nach einem Dezernentenwechsel hat die Zivilkammer sodann die Parteien mit Verfügung vom 08.05.2008 darauf hingewiesen, dass der Verweisungsantrag der Beklagten zu 2. als rechtzeitig i.S. von § 101 GVG anzusehen sein dürfte, da "die Zuständigkeit des Landgerichts Berlin als solchem erst durch den Beschluss des Kammergerichts begründet worden sein dürfte". Daraufhin hat die Beklagte zu 2. mit Schriftsatz vom 19.05.2008 den Antrag auf Verweisung an die Kammer für Handelssachen "wiederholt".

Die Zivilkammer hat mit Beschluss vom 28.05.2008 den Rechtsstreit auf Antrag der Beklagten zu 2. an die Kammer für Handelssachen verwiesen und ausgeführt, dass die Verweisung "rechtzeitig beantragt" worden sei.

Nach entsprechendem Hinweis an die Parteien vom 04.06.2008 hat die Kammer für Handelssachen 98 des Landgerichts Berlin sich mit Beschluss vom 25.06.2008 für funktionell unzuständig erklärt und die Akte dem Kammergericht zur Zuständigkeitsbestimmung vorgelegt.

II.

Das Kammergericht ist nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO, der auf Streitigkeiten über die funktionelle Zuständigkeit zwischen einer Zivilkammer und einer Kammer für Handelssachen entsprechend anzuwenden ist (vgl. BGHZ 71, 264 = NJW 1978, 1531, 1532; Gummer in: Zöller, ZPO, 26. Aufl., § 102 GVG Rn 3 m.N.), als das gemeinsame höhere Gericht (§ 36 Abs. 1 ZPO) zur Bestimmung des zuständigen Spruchkörpers des Landgerichts Berlin berufen. Das Bestimmungsverfahren ist eröffnet, da sich sowohl die Zivilkammer 18 als auch die Kammer für Handelssachen 98 jeweils durch nicht anfechtbaren Beschluss und damit "rechtskräftig" i.S. von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO für unzuständig erklärt haben.

Die Zivilkammer 18 ist funktionell zuständig.

Der Verweisungsantrag der Beklagten zu 2. ist nach § 101 Abs. 1 S. 2 GVG nicht rechtzeitig gestellt, so dass es nach den Vorschriften der §§ 98, 101 GVG bei der funktionellen Zuständigkeit der vom Kläger angerufenen Zivilkammer verbleibt. Bereits der (erste) Verweisungsantrag vom 28.02.2008 erfolgte außerhalb der Klageerwiderungsfrist, die nach Zustellung am 24.01.2008 bis zum 21.02.2008 lief, und war daher nach § 101 Abs. 1 S. 2 GVG verspätet. Die Beklagte zu 2. hat gegenüber dem Landgericht weder eine Unwirksamkeit der Zustellung glaubhaft gemacht noch die Verspätung gemäß § 101 Abs. 1 S. 3 GVG i.V.m. § 296 Abs. 3 ZPO entschuldigt. Sodann hat sie mit Schriftsatz vom 29.04.2008 die Rüge "aufgegeben", was als wirksame Rücknahme des Verweisungsantrags (vgl. Kissel/Mayer, GVG, 5. Aufl., § 101 Rn 2; Zimmermann in: MüKo, ZPO, 3. Aufl., § 101 GVG Rn 2) auszulegen ist. Erst recht war der zweite Verweisungsantrag vom 19.05.2008, der in der "Wiederholung" der Antrags vom 28.02.2008 zu sehen ist, verspätet.

Die Zuständigkeit der Kammer für Handelssachen folgt nicht aus einer Bindungswirkung der Verweisung (§ 102 S. 2 GVG). Eine solche tritt insbesondere nicht ein, wenn die Verweisung objektiv willkürlich ist (vgl. Zimmermann in: MüKo, a.a.O., § 102 GVG Rn 4; Schreiber in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 3. Aufl., § 102 GVG Rn 4; Kissel/Mayer, GVG, § 102 Rn 5). Das ist nach allgemeinen Grundsätzen auch dann der Fall, wenn die Verweisungsentscheidung nicht bloß unrichtig ist, sondern sich bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) entfernt hat, dass sie nicht mehr zu rechtfertigen ist. Dies ist der Fall, wenn sie nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (s. BVerfGE 29, 45, 49; BGH NJW 2003, 2990, 2991; NJW 2003, 3201 f.).

Danach ist Willkür vorliegend zu bejahen. Die Verweisungsentscheidung unterliegt auch hinsichtlich der Frage der Rechtzeitigkeit des Antrags (§ 101 GVG) der Überprüfung, ob Willkür nach dem genannten Maßstab gegeben ist. Da der Beklagte im Rahmen der §§ 98, 101 GVG den gesetzlichen Richter (mit) bestimmen kann, kommt der Rechtzeitigkeit seines Antrags eine entscheidende Bedeutung zu, und führt eine eklatante Missachtung dieses Erfordernisses zur Annahme von Willkür (vgl. OLG Nürnberg NJW 1993, 3208; OLGR Frankfurt 2001, 242, 243; OLGR Karlsruhe 1998, 281). Der Senat vermag sich somit der Ansicht nicht anzuschließen, wonach die Missachtung des Rechtzeitigkeitserfordernisses die Annahme von Willkür grundsätzlich nicht rechtfertige, da es sich nur um ein "formales" Erfordernis handele, während der Gesetzgeber in § 95 GVG aus Gründen der besonderen Sachnähe und Fachkompetenz eine Zuständigkeit der Kammern für Handelssachen vorgesehen habe (so OLG Brandenburg NJW-RR 2001, 63; ferner im Ergebnis -keine Willkür bei bloß verspätetem Antrag- OLG Braunschweig NJW-RR 1995, 1535; Gummer in: Zöller, a.a.O., § 102 Rn 4; Zimmermann in: MüKo, a.a.O., § 102 GVG Rn 4).

Die Verweisung vom 28.05.2008 war willkürlich. Die Verspätung des Antrags i.S. von § 101 Abs. 1 S. 2 GVG war in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht evident. Eine nachvollziehbare und im Ansatz als vertretbar zu bezeichnende Begründung für die Annahme der Rechtzeitigkeit des zweiten Verweisungsantrags ist vom verweisenden Gericht nicht gegeben worden. Die in seinem Hinweis vom 08.05.2008 zum Ausdruck gebrachte Auffassung, dass Rechtzeitigkeit i.S. von § 101 GVG gegeben sei, da erst mit der Bestimmung des gemeinsamen Gerichtsstands nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO durch Beschluss des Kammergerichts (vom 18.04.2008 ) die Zuständigkeit des Landgerichts Berlin eingetreten sei, ist offensichtlich unhaltbar und vom verweisenden Gericht auch nicht näher begründet worden. § 101 Abs. 1 S. 2 GVG knüpft die Frist zur Stellung des Verweisungsantrags an die Klageerwiderungsfrist. Diese läuft unabhängig von der Frage der (örtlichen) Zuständigkeit des Gerichts, das die Frist gesetzt hat. Das Verfahren vor und nach der Verweisung bildet eine Einheit; frühere Prozesshandlungen wirken fort, gerichtliche Fristen laufen weiter (vgl. Greger in: Zöller, ZPO, § 281 Rn 15a; Gummer in: Zöller, § 102 GVG Rn 8). Die Ansicht des verweisenden Gerichts, die darauf hinausläuft, dass die Klageerwiderungsfrist erst mit (geklärter) Zuständigkeit des Gerichts beginne, ist auch mit dem Zweck des § 101 GVG, durch eine zeitliche Beschränkung des Antragsrechts alsbald Klarheit über die funktionelle Zuständigkeit zu erlangen, nicht zu vereinbaren. Vielmehr führt sie zu einer - auch dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderlaufenden und von anerkennswerten Interessen des Beklagten nicht erforderten- Staffelung der Klärung verschiedener Zuständigkeitsfragen.

Eine Divergenzvorlage nach § 36 Abs. 3 ZPO an den Bundesgerichtshof wegen Abweichung von der Rechtsansicht der Oberlandesgerichte Brandenburg und Braunschweig kommt nicht in Betracht, da der Senat nicht nach § 36 Abs. 2 ZPO, sondern auf Grund originärer Zuständigkeit nach § 36 Abs.1 ZPO zu entscheiden hat (vgl. BGH NJW 2000, 3214). Die Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO) kommt nicht in Betracht, da der Beschluss, der das zuständige Gericht bestimmt, nicht anfechtbar ist (§ 37 Abs. 2 ZPO).

Ende der Entscheidung

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