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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 07.06.2007
Aktenzeichen: 2 Ws 361/07
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 56 f Abs. 1 Nr. 1
StPO § 410 Abs. 3
1. Beruht die Verurteilung wegen der Anlasstat auf einem Strafbefehl, muß die Befugnis, sich allein auf deren Rechtskraft zu stützen, mit Blick auf diejenigen Besonderheiten des summarischen Verfahrens beschränkt werden, die typische Risiken für die Ermittlung des wahren Sachverhalts bergen; denn sie beeinträchtigen die Verlässlichkeit des Erkenntnisses, aus dem das Widerrufsgericht den Schluß zieht, der Verurteilte habe in der Bewährungszeit eine neue Tat begangen.

2. Das für den Widerruf zuständige Gericht darf seine Entscheidung dann nicht ungeprüft auf eine durch einen rechtskräftigen Strafbefehl festgestellte Straftat stützen, wenn nebeneinander kumulativ zwei Voraussetzungen gegeben sind:

a) Der Strafbefehl ist nur auf den hinreichenden Tatverdacht gestützt. Die aus den Akten erkennbare Beweislage läßt eine an Sicherheit grenzende Überzeugungsbildung nicht zu.

b) Der Beschuldigte wollte sich gegen den Strafbefehl zur Wehr setzen oder hat dies bereits getan, und die Rechtskraft ist ohne eine den Strafbefehl anerkennende Willensentschließung des Beschuldigten allein aufgrund seines prozessualen Versäumnisses eingetreten.

[Bestätigung von: KG, Beschluß vom 1. März 2000 - 5 Ws 58/00 - = NStZ-RR 2001, 136] so auch KG, Beschluß vom 7. Juni 2007 - 2 Ws 361/07 -


KAMMERGERICHT

Beschluß

2 Ws 361/07

1 AR 602/07

H 16/152 PLs 4445/02 VRs - 544 StVK 303/05 BwH (N 15/2 Ve Js 2276/99 VRs - 544 StVK 304/05 BwH)

In den Strafsachen gegen

wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis

hat der 2. (ehemals 5.) Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 7. Juni 2007 beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 5. April 2007 aufgehoben.

Der Antrag der Staatsanwaltschaft, die Strafaussetzung in dem Verfahren H 16/ 152 PLs 4445/02 VRs = 544 StVK 303/05 zu widerrufen, wird zurückgewiesen.

Es wird festgestellt, daß in dem Verfahren N 15 / 2 Ve Js 2276/99 VRs - 544 StVK 304/05 die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung nicht widerrufen ist.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.

Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin verurteilte den Beschwerdeführer jeweils zu zehn Monaten Freiheitsstrafe

a) am 2. Juli 2001 - 339 Ds 23/00 - = N 15 / 2 Ve Js 2276/99 VRs - 544 StVK 304/05 - wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs infolge Alkoholgenusses in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis und

b) am 7. Mai 2004 - 323 Ds 52/03 - = H 16/ 152 PLs 4445/02 VRs - 544 StVK 303/05 - wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis.

Diese Strafen verbüßte der Beschwerdeführer in der Justizvollzugsanstalt Düppel. Mit gleichlautenden Beschlüssen vom 3. Juni 2005 setzte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Berlin die Vollstreckung der Reststrafen aus beiden Verurteilungen nach Verbüßung von jeweils zwei Dritteln mit Wirkung zum 1. Juli 2005 zur Bewährung aus, bestimmte die Bewährungszeit jeweils auf drei Jahre und unterstellte den Verurteilten der Aufsicht und Leitung durch einen Bewährungshelfer.

Am 31. Oktober 2006 erging gegen den Beschwerdeführer ein - inzwischen wegen Versäumung der Einspruchsfrist rechtskräftiger - Strafbefehl des Amtsgerichts Tiergarten, durch den er wegen Betruges zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu 15 Euro verurteilt ist. Deswegen beantragte die Staatsanwaltschaft in dem Verfahren H 16 / 152 PLs 4445/02 VRs (oben b) den Widerruf der Strafaussetzung. In dem Verfahren N 15 / 2 Ve Js 2276/99 VRs (oben a) reagierte die Vollstreckungsbehörde nicht.

Durch Beschluß vom 5. April 2007, der beide Aktenzeichen trägt, widerrief die Strafvollstreckungskammer die Strafaussetzung - ausweislich der Beschlußformel - nur hinsichtlich des Urteils vom 7. Mai 2004 (Verfahren H 16 / 152 PLs 4445/02 VRs) gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB wegen neuer Straffälligkeit. Zu dem anderen Verfahren (oben a) schweigt der Beschluß. Gleichwohl wurde eine Abschrift der Entscheidung zu beiden Bewährungsheften genommen.

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten (§ 453 Abs. 2 Satz 3 StPO) hat Erfolg.

1. Das Rechtsmittel betrifft ausschließlich den in dem Verfahren H 16 / 152 PLs 4445/02 VRs ausgesprochenen Widerruf. In dem Verfahren N 15 / 2 Ve Js 2276/99 VRs hat die Strafvollstreckungskammer trotz der Nennung von dessen Aktenzeichen (im Beschlußeingang) die Strafaussetzung nicht widerrufen. Der Senat spricht dies im Tenor dieser Beschwerdeentscheidung ausdrücklich aus, um zu vermeiden, daß die Reststrafe aus jenem Verfahren - die (mangels anfechtbarer Entscheidung) von der Beschwerde nicht erfaßt ist - für vollstreckbar gehalten wird.

2. Die Beschwerde hat Erfolg, weil die Voraussetzungen des § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB nicht vorliegen.

a) Der Beschwerdeführer dringt allerdings im Verfahren über den Widerruf nicht mit dem Vorbringen durch, er sei in den zugrundeliegenden Verkehrsstrafsachen zu Unrecht verurteilt worden, denn er habe erst im Jahre 2004 seinen 1982 in der ehemaligen DDR erworbenen Führerschein wieder ausgehändigt bekommen. Daher könne er erst jetzt beweisen, daß er mehrfach zu Unrecht wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt worden sei.

aa) Die zugrundeliegenden Verurteilungen können im Vollstrek-kungsverfahren nicht in Frage gestellt werden. Die Vollstrek-kungsgerichte haben die Richtigkeit und Vollständigkeit der Urteile und deren Feststellungen, über deren Vollstreckbarkeit sie zu befinden haben, als bindend hinzunehmen (vgl. Senat ZfStrVO 1996, 247). Es gehört deshalb auch nicht zu den Aufgaben des Senats, im Vollstreckungsverfahren zu überprüfen, ob die Fahrerlaubnis tatsächlich existiert, rechtlich wirksam ist und nicht zwischenzeitlich anläßlich einer der zahlreichen Verurteilungen des Beschwerdeführers entzogen worden ist.

Der Verurteilte kann die Urteile nur gemäß den Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß §§ 359 Nr. 5 StPO ff. bekämpfen, was er hinsichtlich des Urteils vom 7. Mai 2004 auch bereits durch Antrag vom 25. April 2007 getan hat. Sein dort gleichzeitig gestellter Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung gäbe im Widerrufsverfahren nur Anlaß zur Nachfrage, ob das Wiederaufnahmegericht diesem Antrag inzwischen entsprochen hat. Denn nur dann wäre der Widerruf gehemmt. Der Senat hat im Streitfall allerdings davon abgesehen, das Ergebnis des Wiederaufnahmeverfahrens abzuwarten, weil die sofortige Beschwerde aus anderen Gründen Erfolg hat.

bb) Der Senat weist den Beschwerdeführer auch auf folgendes hin: Der Fund des Führerscheins - welche rechtliche Bedeutung ihm auch zukommen mag - betrifft nicht die Richtigkeit der Verurteilung wegen Straßenverkehrsgefährdung infolge Alkoholgenusses; denn dieses Verhalten wäre auch bei vorliegender Fahrerlaubnis strafbar und würde sogar seinerseits zu deren Entziehung führen (§ 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB).

b) Der Senat ist nicht davon überzeugt, daß sich der Beschwerdeführer während der Bewährungszeit strafbar gemacht hat.

Nach § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB ist die Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, wenn der Verurteilte während der Bewährungszeit eine neuerliche Straftat begangen hat, die die ursprünglich günstige Prognose aufhebt, und mildere Mittel als der Widerruf nicht ausreichen. Dabei muß die schuldhafte (vgl. KG StV 1988, 26) Begehung der Straftat zur Überzeugung des den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung befindenden Gerichts feststehen (vgl. BVerfG NStZ 1987, 118), ohne daß eine Bindung an die rechtskräftige Entscheidung eines anderen Gerichts gegeben ist (OLG Düsseldorf StV 1996, 45 und VRS 95, 253; KG NStZ-RR 2001, 136; Lackner/Kühl, StGB 25. Aufl., § 56 f Rdn. 3; Tröndle/Fischer, StGB 54. Aufl., § 56 f, Rdn. 7; Stree in NStZ 1992, 153, 157). Dieses darf sich zwar auf ein rechtskräftiges Urteil (vgl. OLG Zweibrücken StV 1991, 270 mit weit. Nachw.) oder einen rechtskräftigen Strafbefehl (vgl. Senat NStZ-RR 2001, 136) stützen und dadurch die Überzeugung von Art und Ausmaß der Schuld des Täters gewinnen. Dies gilt aber dann nicht, wenn die Gründe eines rechtskräftigen Urteils den Schuldspruch nicht tragen (vgl. Senat NStZ-RR 2005, 94; Lackner/Kühl aaO mit weit. Nachw.) oder wenn ein Strafbefehl nur auf den hinreichenden Tatverdacht gestützt ist, eine Überzeugungsbildung nicht zuläßt und der Verurteilte sich gegen ihn erkennbar zur Wehr setzen wollte (vgl. Senat NStZ-RR 2001, 136). So liegt es hier.

Zwar ist der Beschwerdeführer der von der "Premia Win GmbH" gegen ihn erhobenen Forderung mit der Lüge entgegengetreten, nicht er, sondern ein Dritter habe sich auf deren Website unter Benutzung seiner Kennung eingewählt und die von dem Unternehmen behaupteten Umsätze verursacht. Die "Premia Win GmbH" sah daraufhin davon ab, ihre Forderung ihm gegenüber weiterhin geltend zu machen und zeigte den angeblichen unbekannten Dritten bei der Kriminalpolizei an. Nachdem diese ermittelt hatte, daß es keinen Dritten gab, gab er seine Lüge zu. Dieser Sachverhalt erfüllt indes noch nicht den Tatbestand des Betruges. Denn der Beschwerdeführer hielt die (möglicherweise unter § 762 BGB fallende) Forderung der GmbH aus - näher bezeichneten - plausiblen Gründen für unwirksam. Ihm wird mit dem Strafbefehl kein Eingehungsbetrug in Form der betrügerischen Vorspiegelung der Zahlungsbereitschaft vorgeworfen, sondern ein sogenannter Erfüllungsbetrug, bei dem der Gläubiger mittels einer Täuschung davon abgebracht werden soll, einen ihm zustehenden Anspruch geltend zu machen (vgl. Tiedemann in LK-StGB 11. Aufl., § 263 Rdn. 229). Der Tatbestand des Betruges in dieser Form setzt eine wirksam bestehende Forderung voraus. Nichtige Forderungen sind nicht geschützt (vgl. Tiedemann in LK, § 263 StGB, Rdn. 151). Unklar bleibt nach der im Strafbefehl enthaltenen Schilderung des Tatgeschehens, ob die Forderung, die - nicht näher bezeichnete - "Spiele" betraf, gemäß § 134 BGB in Verbindung mit § 284 StGB nichtig war und ob die Anerkennung der - inhaltlich unbekannt gebliebenen - AGB durch den Verurteilten zivilrechtlich wirksam war, geschweige denn, ob sie einer Inhaltskontrolle standgehalten hätten. Geworben wurde angeblich damit, daß die Teilnahme drei Monate gratis sei. Die Zuteilung der Gewinnspiele auf den Teilnehmer erwies sich für den Beschwerdeführer als unüberschaubar, so daß er bereits am nächsten Tag die Anmeldung rückgängig gemacht haben und an keinem Spiel teilgenommen haben will. Angesichts des zuvor lügenhaften Verhaltens des Beschwerdeführers gegenüber den ermittelnden Polizeibeamten sind diese Angaben zwar mit Vorsicht zu betrachten. Das Angebot des angeblich geschädigten Unternehmens jedenfalls hinterläßt aber einen dubiosen Eindruck, und es hat auch schon zu zahlreichen beschwerdeführenden Stimmen im Internet Anlaß gegeben, die das Gebaren des Unternehmens und seiner Betreiber mit dem volkstümlich verwendeten Wort "Abzocke" zusammenfassen lassen. Daher läßt sich ohne nähere Ermittlungen in dessen Bereich eine strafrechtlich schützenswerte Forderung mit einem im Rechtsleben beachtlichen wirtschaftlichen Wert nicht begründen.

c) Da der Beschwerdeführer die Einspruchsfrist gegen den Strafbefehl versäumt hat, muß er wegen dessen Rechtskraft zwar die Geldstrafe und die Verfahrenskosten bezahlen. Ein Widerruf einer Freiheitsstrafe läßt sich auf diesen Sachverhalt aber nicht stützen. Der Fall gibt dem Senat Anlaß, nochmals auf die Gefahren hinzuweisen, die eine vorschnelle Beantragung eines Strafbefehls für die Gewinnung eines materiell zutreffenden Ergebnisses birgt. In seinem Beschluß vom 28. September 2006 - 5 Ws 519/06 - hat er ausgeführt:

"Daher entsprach die Beantragung eines Strafbefehls durch die Amtsanwaltschaft Berlin nicht Nr. 175 Abs. 1 RiStBV, die den Abschluß der Ermittlungen voraussetzen. Praktisch haben die Amtsanwaltschaft und ihr folgend das Amtsgericht das Verteidigungsvorbringen als nicht existent behandelt und auf diese Weise das Risiko auf die Verurteilte abgewälzt, durch eigene oder fremde Saumseligkeit den ersten Zugang zum Gericht zu verlieren und mit ihrer Darstellung des Geschehens um ihr rechtliches Gehör gebracht zu werden. Dieses Risiko hat sich danach auch verwirklicht."

So lag es hier. Der rechtlich unbeholfene, wenn auch gerichtserfahrene Verurteilte hatte sich in einen für ihn nachteiligen Kokon einer feindseligen Haltung gegenüber der Polizei zurückgezogen und zur Lüge gegriffen. Dieses bei Beschuldigten einfacher Denkungsart häufig anzutreffende defizitäre Fehlverhalten darf nicht dazu führen, die greifbar erforderlichen Ermittlungen zu unterlassen.

3. Der Senat hebt daher den angefochtenen Beschluß auf und weist den Antrag der Staatsanwaltschaft zurück. In dem Verfahren, in dem über den Widerruf noch nicht entschieden ist (vgl. oben 1.) läßt sich ein Widerruf ebenfalls nicht begründen.

4. Die Kosten des Rechtsmittels fallen der Landeskasse Berlin zur Last, weil kein anderer dafür haftet. Die Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 Satz 1 StPO.



Ende der Entscheidung

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