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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Urteil verkündet am 24.11.2003
Aktenzeichen: 20 U 146/02
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 529
ZPO § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Kammergericht Im Namen des Volkes

Geschäftsnummer: 20 U 146/02

verkündet am: 24.11.2003

In dem Rechtsstreit

hat der 20. Zivilsenat des Kammergerichts auf die mündliche Verhandlung vom 27. Oktober 2003 durch seine Richter C. Kuhnke, Baldszuhn und Balschun für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers werden das am 25. April 2002 verkündete Urteil der Zivilkammer 9 des Landgerichts Berlin sowie teilweise das zu Grunde liegende Verfahren, soweit der Sachverständigenbeweis betroffen ist, aufgehoben und der Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Landgericht Vorbehalten.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten, in deren Krankenhaus er in der Zeit vom 12. bis 29. Mai 1997 behandelt wurde, Zahlung eines Schmerzensgeld von mindestens 50.000 DM, Ersatz materieller Schäden von 14.052,20 DM sowie die Feststellung der Ersatzpflicht für sämtliche zukünftige materielle und immaterielle Schäden.

Er wirft der Beklagten vor, vor der Operation am 16. Mai 1997 nicht hinreichend über Risiken aufgeklärt worden zu sein. Ferner seien eine Hautläsion sowie Nervschädigungen schuldhaft im Zusammenhang mit der Operation verursacht worden.

Wegen des Parteivorbringens erster Instanz, der dort gestellten Anträge sowie der erstinstanzlichen Beweisaufnahme wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Das Landgericht hat durch am 25. April 2002 verkündetes Urteil die Klage abgewiesen. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.

Mit seiner rechtzeitigen Berufung macht der Kläger geltend:

Das Landgericht habe verkannt, dass - wie er geltend gemacht habe - durch die Lagerung verursachte Nerv- und Hautschäden typische Risiken seien und daher im Rahmen der Risikoaufklärung über sie aufzuklären gewesen wäre. Entgegen der Ansicht des Landgerichts sei über Wundheilungsstörungen und Phlegmonenbildung aufzuklären gewesen, denn die Phlegmone könne zu Nervschäden führen. Hinsichtlich des Risikos der Kriechstrombildung treffe es nicht zu, dass nur über die Risiken, die sich verwirklicht hätten, aufzuklären gewesen wäre. Hätte er gewusst, dass eine dauerhafte Lähmung mit Gehbehinderung Folge der Operation hätte sein können, dann hätte er nicht zugestimmt, weil er seinen Beruf als Elektriker nicht mehr hätte ausüben können und die Erfolgschancen der Operation ohnehin als gering eingestuft worden sein. Stattdessen hätte er die antianginöse Medikamententherapie gewählt.

Das Landgericht habe Widersprüche zwischen dem schriftlichen Gutachten und dem Ergebnis der Anhörung nicht geklärt. Wahrscheinlichste Ursache sei hier nach den Ausführungen des Sachverständigen ein Lagerungsschaden. Die Phlegmomone sei erst später festgestellt worden, jedenfalls im Krankenhaus der Beklagten nicht dokumentiert worden, während die Beeinträchtigungen schon nach der Operation aufgetreten seien, weshalb sie nicht erst Folge der Phlegmone sein könnten. Jedenfalls sei eine Phlegmone auch als Lagerungsschaden aufzufassen. Der Sorgfaltsmaßstab sei objektiv und könne nicht mit Hinweis auf die Besonderheiten der Operation herabgesetzt sein. Das Landgericht habe nicht geklärt, welche Möglichkeiten nach der Druckmessung des Kompartments bestanden hätten. Das Unterlassen dieser Messung sei im Übrigen ein grober Behandlungsfehler.

Der Kläger beantragt,

1. das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und seiner Klage stattzugeben,

2. den Rechtsstreit in die erste Instanz zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf ihren Beweisantritt hinsichtlich einer korrekten Lagerung und der unveränderten Lage auch während der Saphenektomie (Entnahme der Vene aus dem rechten Unterschenkel). Ein Kriechstrom sei nicht denkbar, weil das verwandte Gerät Veränderungen des Widerstandes registriere und mit einem Tonsignal sowie Unterbrechung der Stromzufuhr reagiere. Die gleichzeitige Schädigung der beiden Nerven - der Nervus tibialis könne nicht durch die Lagerung geschädigt werden - sowie die beidseitigen Nervenbeeinträchtigungen sprächen gegen einen Lagerungsschaden. Symptome eines Kompartmentsyndroms hätten gefehlt, weshalb auch keine entsprechende Druckmessung geboten gewesen wäre.

Es könne durchaus sein, dass die kritische Herzkreislaufsituation, die nur durch mehrtägige Anwendung eines Herzunterstützungssystems beherrscht werden konnte, zu lokalisierten Ausfällen bestimmter Gefäßareale führen könne und es infolge von Minderperfusion zu Nervenschädigungen kommen könne ("critical-illness"-Neuropathie).

Die eingetretenen Folgen seien keine typischen Risiken der Operation. Die Operation sei gerade die Behandlungsalternative zu der unbefriedigenden medikamentösen Therapie gewesen, die dem Kläger nicht mehr geholfen habe.

Der Kläger erwidert, dass die Parteien wohl einig seien, dass Kriechströme oder der Elektrokauter als Ursache nicht in Betracht kämen. Es sei nicht verstellbar, dass eine kritische Herzleistung zu lokalisierten Ausfällen führe. Der Sachverständige habe es als abwegig bezeichnet, die Nervschädigung auf die Notwendigkeit des Herzunterstützungsystems zurückzuführen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist entsprechend seinem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag mit der Maßgabe begründet, dass das angegriffene Urteil gemäß § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO aufzuheben und der Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen ist.

I.

Der erste Rechtszug leidet an einem - hier von Amts wegen und nicht nur auf Rüge gemäß § 529 ZPO zu berücksichtigenden - wesentlichen Mangel im Verfahren, der die Anwendung des § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO rechtfertigt, weil eine weitere umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich ist. Das Landgericht hat übersehen, dass ohne eine Beiziehung der vollständigen Krankenunterlagen das Sachverständigengutachten notwendigerweise ohne ausreichende Tatsachengrundlage und letztlich spekulativ bleiben musste und so vom Gericht selbstverständlich nicht akzeptiert werden darf, zumal im Arzthaftungsprozess an die Darlegungslast maßvolle Anforderungen zu stellen sind und in gewissem Umfang von Amts wegen auf eine vollständige Tatsachengrundlage hinzuwirken ist. Hier ist die ärztliche Dokumentation - auch die der weiteren behandelnden Ärzte - die zentrale Tatsachengrundlage, sodass im Regelfall ein Sachverständigengutachten ohne die verfügbaren vollständigen Unterlagen zur Beantwortung der gestellten Beweisfragen unzureichend bleiben muss. Da das Gericht eine tragfähige Beweiswürdigung auf ein solches unvollständiges Gutachten nicht stützen kann, sind die Krankenunterlagen daher vom Gericht von Amts wegen beizuziehen, andernfalls liegt ein schwerer Verfahrensfehler vor (vgl. OLG Oldenburg NJW-RR 1997, 535; OLGR 1998, 78; vgl. auch OLG Düsseldorf MDR 1984, 1033). Dass die Unterlagen nicht vollständig waren, wiegt hier besonders schwer, weil die Beklagte meinte, die Unterlagen vollständig eingereicht zu haben (Schriftsatz vom 13. August 1999, S. 13 = Bd. I Bl. 68 d.A.) und auf dieser Grundlage (bspw. zur im Anästhesieprotokoll vermerkten Lagerung, Schriftsatz vom 10. April 2001, S. 2 = Bd. I Bl. 144 d.A.) argumentierte, obwohl die Unterlagen nicht vorlagen. Auch der Sachverständige führt in seinem Gutachten nur die (unvollständigen) Unterlagen auf, die der Klageschrift in Ablichtung (Bd. I, Bl. 21 bis Bl. 48 d.A.) beigefügt waren, wobei die erste Unterlage auch noch falsch mit "Krankenakte" statt Arztbrief bezeichnet ist. Er bemängelt sodann mehrfach (schriftlich und mündlich), dass ärztliche Eintragungen fehlten, die nach Kenntnis des Senats üblicherweise nicht in der mit der Klageschrift auszugsweise eingereichten Pflegedokumentation, sondern an anderer Stelle zu finden wären, von denen aber kaum anzunehmen ist, dass sie gänzlich unterblieben waren, denn immerhin sind dem Kläger vorprozessual 217 Seiten der Krankenakte abgelichtet worden. Dementsprechend wirkte sich der Fehler in der durchgeführten Beweisaufnahme erheblich aus. Das schriftliche Gutachten war zudem zur Beantwortung der gestellten Fragen nicht nachvollziehbar; hier wurden nur Ergebnisse präsentiert, ohne die Wertung des Sachverständigen, z.B. die Einordnung von Fehlern, zu erläutern und - was zwingend erforderlich ist - den für seine Beurteilung maßgeblichen medizinischen Sachverhalt vollständig zu ermitteln und in seinem Gutachten der Beurteilung voranzustellen (vgl. auch die Empfehlungen zur Abfassung von Gutachten in Arzthaftungsprozessen der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht der DGGG). In der mündlichen Anhörung, die - was nicht angemessen ist - über eine bloße Erläuterung deutlich hinausging, setzte sich das fort. Nicht nur, dass der Sachverständige von seinem schriftlichen Gutachten, ohne dies näher zu erläutern, abwich, es finden sich auch im Anhörungsergebnis selbst widersprüchliche Äußerungen, die zeigen, dass die gutachterlichen Äußerungen mangels Ermittlung der Tatsachengrundlage dem Sachverhalt nicht gerecht werden können. So führt beispielsweise der Sachverständige bei seiner Anhörung einleitend - abgesehen von der unvollständigen Sachgrundlage - gut nachvollziehbar aus, weshalb im konkreten Fall eine Wundheilungsstörung ausscheide (S. 2 des Sitzungsprotokolls), um sie anschließend wiederum als mögliche Ursache zu benennen (S. 4). Auch ein kompetenter Sachverständiger dürfte bei komplexeren Sachverhalten überfordert sein, im Termin seiner Anhörung (ohne die bei schriftlichen Gutachten mögliche mehrmalige sorgfältige Überprüfung) erstmals ein vollständiges in sich widerspruchsfreies Gutachten zu erstatten, wie z.B. der Meinungswechsel zu der Möglichkeit von Kriechströmen zeigt (S. 4). Der Sachverständige bemängelt das Fehlen einer ausreichenden ärztlichen Dokumentation, ohne zu bemerken, dass ihm die Unterlagen ganz erkennbar nur unvollständig zur Verfügung standen. Zunächst meint der Sachverständige, er könne bei ausreichender ärztlicher Dokumentation die Ursachen leichter zuordnen, wobei das mögliche Ergebnis spekulativ wäre. Anschließend meint er, auch bei genauerer ärztlicher Dokumentation würde die Zuordnung Spekulation bleiben (S. 6). Das widerspricht sich und Letzteres ist eine - ohne Kenntnis der Akte - unbelegbare Annahme, die nur Wahrscheinlichkeiten wertet, aber dem konkreten Sachverhalt nicht gerecht werden kann. I. ü. ließen sich zusätzliche Erkenntnisse sicherlich auch aus den Unterlagen der weiteren behandelnden Ärzte gewinnen, zumal beispielweise Feststellungen zur Phlegmone das hier zwingend voraussetzen.

II.

Das Landgericht hat daher nach Beiziehung der vollständigen Krankenunterlagen sowohl der Beklagten als auch der weiteren den Kläger vor- und nachbehandelnden Ärzte erneut ein Gutachten - vorzugsweise eines anderen Gutachters - zu den hier maßgeblichen Behandlungsfehlern und der konkreten Zurechnung der Folgen einzuholen. Dabei sollte dem Gutachter zu Klarstellung ergänzend aufgegeben werden, die möglichen Ursachen konkret herauszuarbeiten und anzugeben, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad und weshalb die mögliche Ursache für die hier jeweils eingetretene Folge verantwortlich sein könnte oder ist und ob sowie gegebenenfalls konkret weshalb sie bei fachgerechtem medizinischem Handeln vermeidbar gewesen wäre. Ferner wird zu prüfen sein, ob hinsichtlich der Zuordnung der Nervschäden ergänzend ein neurologisches Gutachten einzuholen ist.

III.

Ergänzend wird Folgendes zu beachten sein:

1. Die hinsichtlich der Schädigung des Nervus peronaeus als Ursache in Betracht kommende Lagerung wird dem Operationsgeschehen zeitlich näher zuzuordnen sein, zumal die Verursachung einer Fehlstellung der Lagerung während der Venenentnahme in Betracht kommt, also zu einem Zeitpunkt, zu dem nicht ersichtlich ist, was der erforderlichen Überprüfung der Lagerung - üblicherweise durch den Anästhesisten - hätte entgegen stehen sollen. Die Beklagte hat vorzutragen, ob, wie und in welchen zeitlichen Abständen eine Kontrolle der Lagerung erfolgte (zur Beweislastumkehr bei Lagerungsschäden und zur Ausnahme hiervon vgl. BGH NJW 1995, 1618; 1984, 1403).

2. Hinsichtlich der Schädigung des Nervus tibialis, die wohl nicht auf der Lagerung beruhen kann, ist zur möglichen Schädigungsursache eines Kompartmentsyndroms auch zu klären, welche Maßnahmen zu treffen gewesen wären, wenn es diagnostiziert worden wäre und ob die Nervschädigung durch diese Maßnahmen vermeidbar gewesen wäre.

3. Der rechtliche Ansatz des Landgerichts zur Aufklärung ist unzutreffend.

a) Eine unzureichende Aufklärung (wobei die - bezüglich Nervschäden nicht bewiesene - mündliche Aufklärung maßgeblich ist) begründet nicht die Haftung. Vielmehr führt dies mangels wirksamer Einwilligung des Patienten zur Rechtswidrigkeit der Behandlung und deshalb zur Haftung der Beklagten für alle Folgen des ärztlichen Eingriffs,

b) Diese Haftung ist grundsätzlich umfassend und setzt nicht voraus, dass sich gerade ein Risiko verwirklicht hat, über das nicht aufgeklärt wurde. Es ist daher unerheblich, ob ein Behandlungsfehler vorliegt oder sich nur ein typisches Risiko verwirklicht hat. Eine Beschränkung besteht lediglich, wenn sich gerade ein Risiko verwirklicht hat, über das aufgeklärt wurde (vgl. BGH NJW 2001, 2798; BGH NJW 2000, 1784 [1786]).

c) Deshalb ist zusätzlich (über den Zusammenhang mit der Beurteilung von etwaigen Behandlungsfehler hinaus) näher zu klären, ob Nervverletzungen typische und aufklärungsbedürftige Risiken der Operation einschließlich der Lagerung darstellen, was Feststellungen zur Häufigkeit und Schwere der Folgen voraussetzt.

IV.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Eine Sicherheitsleistung war mangels vollstreckungsfähigem Tenor der Entscheidung nicht zu bestimmen.

Ende der Entscheidung

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