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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 21.05.2007
Aktenzeichen: 3 Ws (B) 202/07
Rechtsgebiete: OWiG


Vorschriften:

OWiG § 77 Abs. 1
Die Pflicht, die Wahrheit von Amts wegen zu erforschen, gebietet die weitere Aufklärung, wenn das in Betracht kommende Wissen den Bekundungen eines Belastungszeugen gegenüber steht und eine Nennung des Beweismittels das Ziel hat, dessen Aussage zu widerlegen. Dies gilt auch, wenn nicht nur ein Zeuge, sondern zwei durch gemeinsame Dienstausübung verbundene Polizeibeamte den Betroffenen belasten (hier zum Bestehen einer "Wanderbaustelle" und einer dort geltenden Geschwindigkeitsbeschränkung).
Geschäftsnummer: 3 Ws (B) 202/07

In der Bußgeldsache gegen

wegen Verkehrsordnungswidrigkeit

hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts in Berlin am 21. Mai 2007 beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 15. Januar 2007 im Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.

Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird mit der Maßgabe verworfen, dass der Tenor des angefochtenen Urteils dahingehend berichtigt wird, dass an die Stelle des angeführten § 21 Abs. 2 StVO der § 41 Abs. 2 StVO tritt.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsmittels - an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.

Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Verkehrsordnungswidrigkeit gemäß §§ 21 - richtig: 41 - Abs. 2 (zu ergänzen: Nr. 7 - Zeichen 274), 49 (Abs. 3 Nr. 4) StVO nach § 24 StVG zu einer Geldbuße in Höhe von 150,-- Euro verurteilt, gegen ihn ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet und eine Bestimmung über das Wirksamwerden desselben nach § 25 Abs. 2 a StVG getroffen. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt, hat teilweise Erfolg.

1. Das Rechtsmittel ist gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 349 Abs. 2 StPO unbegründet, soweit es sich gegen den Schuldspruch wendet. Soweit im Urteilstenor § 21 StVO genannt ist, handelt es sich ersichtlich um ein Schreibversehen, das der Senat korrigiert.

2. Hingegen hat die Rechtsbeschwerde zum Rechtsfolgenausspruch mit der ordnungsgemäß ausgeführten Aufklärungsrüge Erfolg.

Nach den Feststellungen überschritt der Betroffene als Führer eines Pkw's auf der Stadtautobahn in Berlin die an einer Wanderbaustelle durch das Zeichen 274 auf 60 km/h beschränkte Höchstgeschwindigkeit um 33 km/h. Dass er mit einer Geschwindigkeit von 93 km/h fuhr, hat das Amtsgericht rechtsfehlerfrei festgestellt.

Der Betroffene hat sich dahin eingelassen, es habe weder eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h noch eine Wanderbaustelle gegeben. Das Gericht ist jedoch den Bekundungen zweier Polizeibeamter gefolgt. Der Polizeihauptmeister M. habe bekundet, an den konkreten Fall keine Erinnerung mehr zu haben, jedoch die volle Verantwortung für den von ihm gefertigten Formularanhang zur Geschwindigkeitsanzeige, aus dem sich der festgestellte Sachverhalt ergebe, übernommen und ergänzend ausgeführt, dass er unter anderem in diesem die Bemerkung "Wanderbaustelle" aufgenommen habe, weil es sich auch insoweit um einen Umstand gehandelt habe, den er damals vor Ort festgestellt habe (UA S. 3). Im Urteil heißt es weiter, die Polizeiobermeisterin O., die zusammen mit dem Polizeibeamten M. in dem Fahrzeug fuhr, in dem sich das Geschwindigkeitsmessgerät befand, habe bestätigt, sich zu erinnern, dass damals "wohl" gerade eine Wanderbaustelle in der Nachtzeit - als Tatzeit hat das Amtsgericht 23.32 Uhr als erwiesen angesehen - existiert habe und während dieser Zeit die Geschwindigkeitsportale auf 60 km/h eingestellt gewesen seien. Sie habe die Anzeige zur Ordnungswidrigkeit gemeinsam mit ihrem Kollegen gefertigt und könne bestätigen, dass dieser nur solche Tatsachen aufnehme, die tatsächlich auch festgestellt worden seien (UA S. 4). Dem gegenüber habe die Lebensgefährtin des Betroffenen bekundet, sie sei dessen Beifahrerin gewesen und nach ihren Beobachtungen habe es weder eine Fahrstreifensperrung noch eine Wanderbaustelle noch eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h gegeben (UA S. 4). Die Fahrstrecke liege auf dem Weg zu ihren Eltern und sie befahre diesen des Öfteren. Das Gericht gehe daher davon aus, dass die Zeugin die Umstände, die sie sonst üblicherweise auf der Autobahn vorfinde, nämlich eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h, hier ebenfalls als gegeben vorausgesetzt habe und als Beifahrerin auf Abweichungen von dem "ihr bekannten Verlauf" nicht geachtet habe. Bei dieser Beweislage sei es - ersichtlich entgegen dem Begehren des Betroffenen - zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich gewesen, bei der Verkehrslenkungszentrale (betreffend die Wanderbaustelle und die Beschilderung durch das Zeichen 274 auf 60 km/h) weitere Nachforschungen zu tätigen (UA S. 4).

Diese Verfahrensweise des Tatrichters hält einer Überprüfung durch den Senat nicht stand. Zutreffend weisen die Rechtsbeschwerde und die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zu dem Rechtsmittel darauf hin, dass es bei dieser Beweislage zur Erforschung der Wahrheit erforderlich war, eine Auskunft bei der Verkehrslenkung Berlin zu der strittigen Frage einzuholen. Die Pflicht, die Wahrheit von Amts wegen zu erforschen (§ 77 Abs. 1 OWiG), gebietet die weitere Aufklärung, wenn das in Betracht kommende Wissen den Bekundungen eines Belastungszeugen gegenüber steht und eine Nennung des Beweismittels das Ziel hat, dessen Aussage zu widerlegen (vgl. OLG Düsseldorf NStZ-RR 1999, 180; KG, Beschlüsse vom 4. Februar 1992 - 3 Ws (B) 272/91 - und 14. Februar 1997 - 3 Ws (B) 16/97 -). Dies gilt auch für die Fälle, in denen nicht nur ein Zeuge den Betroffenen belastet, sondern - wie vorliegend - zwei durch gemeinsame Dienstausübung verbundene Polizeibeamte (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Köln VRS 88, 376, 378). Zwar handelt es sich insoweit um keinen ausnahmslos geltenden Grundsatz; vielmehr ist im Einzelfall das bereits gewonnene Beweisergebnis unter Berücksichtigung der Verlässlichkeit der Beweismittel und die beantragte Beweiserhebung gegeneinander abzuwägen (vgl. KG, Beschlüsse vom 4. Februar 1992 - 3 Ws (B) 272/91 - und vom 14. Februar 1997 - 3 Ws (B) 16/07 -), wobei auch hier entscheidend ist, ob die Beweisaufnahme sich aufdrängte oder zumindest nahe lag.

Hier lag die Auskunft der beantragten Auskunft jedenfalls nahe. In diesem Zusammenhang fällt es ins Gewicht, dass der Zeuge M. an den konkreten Vorfall keine Erinnerung mehr hatte und sich hinsichtlich der Wanderbaustelle lediglich auf die entsprechende Bemerkung in dem von ihm gefertigten Formularanhang bezog und die Zeugin O. bekundet hat, sie könne sich daran erinnern, dass damals "wohl" gerade eine Wanderbaustelle existiert habe und während dieser Zeit die Geschwindigkeit auf 60 km/h beschränkt gewesen sei. Es kommt hinzu, dass - worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zu dem Rechtsmittel zutreffend hinweist - an anderen Baustellen auf der Stadtautobahn in der Regel nicht durchgehend zur Nachtzeit gearbeitet wird und wegen der Bauarbeiten angeordnete Geschwindigkeitsbegrenzungen oft nur für die Zeit der tatsächlichen Arbeiten bestehen. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Polizeibeamten, die ersichtlich häufig auf dem hier betroffenen Autobahnabschnitt dienstlich tätig waren, aus ihrem Wissen um die Wanderbaustelle und die dadurch bedingte Geschwindigkeitsbegrenzung irrtümlich auf das Bestehen dieser Regelung auch zur Tatzeit lediglich geschlossen haben, obwohl die Beschränkung - wie von dem Betroffenen und seiner Lebensgefährtin behauptet - zu dieser Zeit aufgehoben war. Die Einholung der behördlichen Erklärung wäre auch ohne erhebliche zeitliche Verzögerung, gegebenenfalls durch eine fernmündliche Anfrage während der Hauptverhandlung, möglich gewesen. Die Aufklärung hätte auch nicht in einem Missverhältnis zu dem dem Betroffenen zur Last gelegten Vorwurf gestanden, weil sie nicht nur für die Höhe des Bußgeldes, sondern auch für die Verhängung des Fahrverbots von Bedeutung war.

Der Senat hebt nach alledem das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch auf und verweist die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurück.

Ende der Entscheidung

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