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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 12.06.2006
Aktenzeichen: 5 Ws 179/06 Vollz
Rechtsgebiete: StVollzG


Vorschriften:

StVollzG § 112
StVollzG § 120 Abs. 1
1. Berechtigter Empfänger eines Bescheides des Anstaltsleiters ist neben dem Gefangenen selbst auch der Verteidiger. Einer besonderen Empfangsvollmacht bedarf er im Falle der schriftlichen Bekanntgabe (§ 112 Abs. 1 Satz 1, 2. Alternative StVollzG) nicht. Hat sich der Verteidiger mit einem Antrag an den Anstaltsleiter gewandt, so genießt er als der sachkundigere Partner im Verwaltungsverfahren den Vorrang.

2. Zum Ausschluß der Anwendbarkeit bestimmter strafprozessualer Vorschriften im Vollzugsverfahren.


KAMMERGERICHT Beschluß

Geschäftsnummer: 5 Ws 179/06 Vollz

In der Strafvollzugssache

wegen Teilnahme an dem Seminar "Gefahrgut"

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 12. Juni 2006 beschlossen:

Tenor:

Die Rechtsbeschwerde des Gefangenen gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 20. Februar 2006 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

Der Gefangene verbüßt zur Zeit Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Am 28. September 2005 lehnte der Teilanstaltsleiter sein Begehren ab, ihm zur Auffrischung seines ADR-Scheins, der am 13. Januar 2006 seine Gültigkeit verlor, am 21. und 22. Oktober 2005 die Teilnahme an dem Seminar "Gefahrgut" zu ermöglichen. Daraufhin erneuerte am 30. September 2005 die von dem Gefangenen damit betraute Rechtsanwältin T... R... diesen Antrag unter Vertiefung seiner Begründung. Der Teilanstaltsleiter lehnte ihn mit Schreiben vom 18. Oktober 2005 erneut ab, weil er den Beschwerdeführer nach wie vor nicht für lockerungsgeeignet erachtete. Diesen Bescheid leitete er der Rechtsanwältin als der Autorin des Antrags zu, wo er am Montag, dem 24. Oktober 2005, einging. Am Dienstag, dem 8. November 2005, trug der Gefangene persönlich zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle auf die gerichtliche Entscheidung an (§ 109 Abs. 1 StVollzG). Die Strafvollstreckungskammer hat den Antrag durch den angefochtenen Beschluß als unzulässig zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Gefangene die Verletzung des Verfahrensrechts: Die Strafvollstreckungskammer habe mit der Zurückweisung des Antrages als verspätet § 37 StPO verletzt.

Die Rechtsbeschwerde ist statthaft; denn sie kann nicht nur gegen Sach-, sondern auch gegen Prozeßentscheidungen der Strafvollstreckungskammer - wie die hier vorliegende - erhoben werden (vgl. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG 10. Aufl., § 116 Rdn. 5). Sie ist auch zulässig, weil mit der angefochtenen Entscheidung, wäre sie fehlerhaft, dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör versagt worden wäre (vgl. Senat NStZ-RR 2002, 383; Beschlüsse vom 15. März 2002 - 5 Ws 138/02 Vollz - JURIS, 13. Februar 2002 - 5 Ws 93/02 Vollz - und 14. Dezember 2001 - 5 Ws 779/01 Vollz -; Calliess/Müller-Dietz, § 116 StVollzG Rdn. 3). Denn die Strafvollstreckungskammer hat in ihrem Prozeßurteil aufgrund der von ihr angenommenen Fristversäumung nicht inhaltlich zur Hauptsache entschieden. Das Rechtsmittel ist aber unbegründet.

Die Strafvollstreckungskammer hat den Antrag zu Recht als unzulässig zurückgewiesen. Denn er war verspätet. Die am Montag, dem 24. Oktober 2005 durch die Zusendung der Entscheidung der Anstalt an die Verfahrensbevollmächtigte des Gefangenen in Gang gesetzte zweiwöchige Frist (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StVollzG) für die Anbringung des Antrages auf gerichtliche Entscheidung war am Montag, dem 7. November 2005 abgelaufen und am Dienstag, dem 8. November 2005 überschritten.

1. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist der Bescheid des Teilanstaltsleiters nicht förmlich zugestellt, sondern der Rechtsanwältin formlos zugesandt worden. Einer förmlichen Zustellung bedurfte es nicht. §§ 35 Abs. 1, 37 StPO gelten im gerichtlichen Verfahren nach der Strafprozeßordnung; sie regeln die Bekanntmachung gerichtlicher Entscheidungen. Für die Bescheide der Justizvollzugsanstalt trifft § 112 Abs. 1 Satz 1 StVollzG eine gegenüber § 35 Abs. 2 StPO abweichende Sonderregelung, die außer der Zustellung auch die formlose schriftliche Bekanntgabe erlaubt. Beides läßt den Fristenlauf beginnen (vgl. Calliess/ Müller-Dietz, § 112 StVollzG Rdn. 1). Entscheidet sich die Anstalt für die Zustellung, so berechnet sich der Fristbeginn nach § 120 Abs. 1 StVollzG, § 37 StPO, §§ 166 ff. ZPO, und die Wirksamkeit der Bekanntmachung hängt von der Einhaltung der Vorschriften über die Zustellung ab. Macht sie - wie hier - jedoch von der Möglichkeit der formlosen Zusendung Gebrauch, so gelten jene Formvorschriften gerade nicht. Die Frist beginnt ohne weiteres an dem Tag, an dem der Empfänger das Schriftstück tatsächlich erhalten hat. Läßt sich dieser Tag nicht feststellen, so gilt zwar die Fiktion des § 41 Abs. 2 VwVfG nicht (vgl. Senat NStZ-RR 2002, 383). Da sich der Tag aber aufgrund der Auskunft der Kanzleiangestellten der Rechtsanwältin ermitteln ließ, steht der Fristbeginn, der 24. Oktober 2005, im Streitfall zeitlich fest.

2. Die Anstalt durfte den Bescheid (nicht, wie die Rechtsbeschwerde formuliert: Beschluß) anstatt dem Gefangenen allein dessen Verteidigerin Rechtsanwältin R... zuleiten.

a) Berechtigter Empfänger eines Bescheides des Anstaltsleiters ist neben dem Gefangenen selbst auch der bevollmächtigte Rechtsanwalt des Gefangenen (vgl. OLG Nürnberg ZfStrVO 88, 192 L; Senat NStZ-RR 2002, 383), der im Vollzugsverfahren die Verteidigerstellung innehat (vgl. OLG München NJW 1978, 654; Senat, Beschluß vom 19. Juli 1984 - 5 Ws 356/84 Vollz -). Hat er sich mit einem Antrag an den Anstaltsleiter gewandt, so genießt er als der sachkundigere Partner, dessen Einschaltung die Waffengleichheit mit der Behörde herstellen soll (vgl. Riedl in Obermayer, VwVfG 3. Aufl., § 14 Rdn. 7) im Verwaltungsverfahren den Vorrang. § 145a Abs. 3 Satz 1 StPO ist - abgesehen davon, daß es an einer Zustellung fehlt - nicht anwendbar.

Die Vorschriften der Strafprozeßordnung sind nur insoweit ergänzend heranzuziehen, als nicht die Grundsätze des Verwaltungsprozesses Anwendung finden (vgl. Calliess/ Müller-Dietz, § 120 StVollzG Rdn. 1). Letzteres ist hier geboten. Das Antragsrecht ist verwaltungsprozessual ausgestaltet; § 112 StVollzG ist dem unmittelbar nicht anwendbaren (§ 2 Abs. 3 Nr. 1 VwVfG) § 41 VwVfG insoweit nachgebildet, als er die formlose Mitteilung eines Bescheides ausreichen läßt, um eine Frist in Gang zu setzen. Diese Erleichterung für die Verwaltungsbehörde gegenüber den Formalien des Strafprozeßrechts rechtfertigt sich dadurch, daß das Strafvollzugsrecht ein besonderes Verwaltungsstreitverfahren betrifft, in dem nicht der Staat gegen den Einzelnen streitet, sondern der Einzelne gegen den Staat (vgl. Volckart in AK-StVollzG 4. Aufl., § 112 Rdnrn. 1,2). § 41 Abs. 1 Satz 2 VwVfG bestimmt, daß, wenn ein Bevollmächtigter bestellt ist, die Bekanntmachung auch ihm gegenüber vorgenommen werden kann. § 14 Abs. 3 Satz 1 VwVfG verlangt, daß die Behörde sich in erster Linie an diesen wenden soll, wenn er für das Verfahren bestellt ist und ihn benachrichtigen muß, wenn sie sich an den Beteiligten gewendet hat (§ 14 Abs. 3 Satz 2 VwVfG). Der vorrangige Kommunikationspartner der Verwaltungsbehörde ist der Bevollmächtigte (vgl. Riedl in Obermayer, § 14 VwVfG Rdn. 50).

b) Daß Rechtsanwältin R... als berechtigt als Verfahrensbevollmächtigte aufgetreten ist, steht zweifelsfrei fest. Sie hat in ihrem Schreiben vom 30. September 2005 das Anliegen des Gefangenen aufgegriffen und in dessen Sinne mit juristischem Sachverstand gegenüber dem Teilanstaltsleiter erneut vertreten. Sie hat den Gefangenen ausdrücklich als ihren Mandanten bezeichnet, was auf einen wirksamen Geschäftsbesorgungsvertrag (vgl. Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl., vor § 137 Rdn. 4) hindeutet. Auch der Gefangene hat in seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung bestätigt: "Ich hatte bereits anwaltliche Hilfe gesucht". Die Wirksamkeit der Bestellung hängt von dem Fehlen einer Vollmachtsurkunde nicht ab (vgl. Meyer-Goßner, vor § 137 StPO Rdn. 9 mit Nachw.). Insoweit stimmen Strafprozeßrecht und Verwaltungsverfahrensrecht überein. Denn nur auf Verlangen der Behörde hat der Bevollmächtigte seine Vollmacht schriftlich nachzuweisen (§ 14 Abs. 1 Satz 3 VwVfG). Das Vorliegen einer schriftlichen Vollmacht wird auch im Strafvollzugsgesetz selbst nicht verlangt.

c) Zur Wirksamkeit der Empfangnahme des Bescheides des Teilanstaltsleiters bedurfte es auch keiner besonderen schriftlichen Empfangsvollmacht. § 145a Abs. 1 Satz 1 StPO gehört ebenfalls nicht zu den nach § 120 Abs. 1 StVollzG entsprechend anwendbaren Vorschriften der Strafprozeßordnung (vgl. Volckart, § 120 StVollzG Rdn. 4), es sei denn, die Wirksamkeit einer Zustellung nach § 120 Abs. 1 StVollzG, §§ 35 Abs. 2, 37 Abs. 1 StPO steht in Rede (vgl. OLG Celle NStZ 1990, 428 bei Bungert).

Das oben geschilderte vom Strafprozeß abweichende Konzept des Verwaltungsverfahrens ist auch dasjenige, das dem Verkehr zwischen dem Gefangenen und seinem Bevollmächtigten einerseits und der Vollzugsbehörde andererseits zugrundeliegt. Sofern das Strafvollzugsgesetz keine Regelung trifft, darf eine dadurch entstehende Gesetzeslücke freilich nicht zum Nachteil des Gefangenen durch die Anwendung des Verwaltungsverfahrensgesetzes gefüllt werden, wenn es sich dabei nicht um die Niederlegung eines allgemeinen Grundsatzes handelt (vgl. Senat NStZ-RR 2002, 303 zu § 41 Abs. 2 VwVfG). Gibt es - wie hier - aber gerade keine Lücke, sondern würde die Anwendung der Strafprozeß-ordnung eine dem Verwaltungsverfahren fremde zusätzliche formelle Hürde schaffen, so kann die strafprozessuale Regel nicht über § 120 Abs. 1 StVollzG in entsprechender Anwendung auf das Vollzugsverfahren übertragen werden.

3. Daß die Anstalt ihren Bescheid nicht auch dem Rechtsanwalt Dr. S... zugeleitet hat, der dem Vorbringen der Rechtsbeschwerde zufolge den Gefangenen in einem anderen Verfahren verteidigt haben soll, ist belanglos. Im hiesigen Verfahren ist dieser Rechtsanwalt zu keinem Zeitpunkt aufgetreten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 4 StVollzG, § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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