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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 06.07.2006
Aktenzeichen: 5 Ws 273/06
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 57
1. Die "Erstverbüßer-Regel" erfährt u.a. dann eine Einschränkung, wenn der Verurteilte mit Betäubungsmitteln handelte (hier Handel mit Ecstasy-Tabletten in erheblichem Umfang).

2. Bei der Prognoseentscheidung gemäß § 57 StGB kann das Gericht auch Straftaten, die zwar noch nicht rechtskräftig festgestellt sind, die der Verurteilte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen hat, berücksichtigen. Die Unschuldsvermutung steht einer solchen Bewertung nicht entgegen.


5 Ws 273/06

In der Strafsache gegen

wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 6. Juli 2006 beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstrekkungskammer - vom 31. März 2005 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

Der Verurteilte verbüßt zur Zeit eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten wegen fünffachen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 12. Juni 2003. Zwei Drittel der Strafe sind bereits verbüßt; das Strafende ist auf den 20. Juni 2007 notiert. Mit dem angefochtenen Beschluß hat es die Strafvollstreckungskammer abgelehnt, die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Mit seiner sofortigen Beschwerde (§ 454 Abs. 3 Satz 1 StPO) wendet sich der Verurteilte gegen die Ablehnung der Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe; außerdem begehrt er die Einholung eines Gutachtens nach § 454 Abs. 2 StPO.

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

Die Strafvollstreckung ist fortzusetzen. Der Senat teilt die Auffassung der Strafvollstreckungskammer, daß dem Beschwerdeführer die für eine vorzeitige Entlassung aus der Strafhaft erforderliche günstige Prognose (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) nicht gestellt werden kann.

1. Für einen Erstverbüßer wie den Verurteilten spricht zwar grundsätzlich die Vermutung, daß die erste Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ihn ausreichend beeindruckt und in Zukunft von weiteren Straftaten abhält (vgl. KG ZfStrVo 1996, 245 = NStZ-RR 1997, 27 und Beschluß vom 6. November 2002 - 5 Ws 533-534/02 -). Dieser Grundsatz erfährt jedoch eine Einschränkung, wenn der Verurteilte mit Betäubungsmitteln handelte. Der Beschwerdeführer hat in mehreren Fällen - zum Teil als Kurier - mit Ecstasy - Tabletten in erheblichem Umfang Handel getrieben und sich an solchen Taten beteiligt, obwohl er selbst nicht abhängig war. Angesichts der außerordentlichen Gefährdung, die derartige Taten für das Leben und die Gesundheit Dritter mit sich bringen, wiegt die Verantwortung, die die Vollstreckungsgerichte mit einer vorzeitigen Haftentlassung des Täters auf sich nehmen, besonders schwer (vgl. KG, Beschlüsse vom 23. Oktober 2002 - 5 Ws 569/02 - und vom 4. Oktober 2001 - 5 Ws 640/01 -).

Eine günstige Prognose ließe sich in diesen Fällen nur dann gewinnen, wenn Tatsachen vorlägen, die sicherstellten, daß der Beschwerdeführer seine charakterlichen Mängel soweit behoben hätte, um Tatanreizen künftig zu widerstehen. Allein der Wille, sich künftig an Gesetze zu halten, genügt nicht(vgl. KG NStZ-RR 2000, 170). Das ordnungsgemäße Vollzugsverhalten reicht hierfür nicht aus; denn daraus ergibt sich nur, daß der Gefangene sich unter den strengen Regeln des Vollzuges beanstandungsfrei verhalten kann. Für seine Führung in Freiheit lassen sich daraus keine tragfähigen Schlüsse ziehen (vgl. KG ZfStrVo 1996, 245 = NStZ 1997, 27 und Beschluß vom 22. April 1998 - 5 Ws 197/98 -). Maßgeblich ist vielmehr eine günstige Entwicklung während des Vollzuges, die von besonderem Gewicht sein muß. Dazu zählen etwa die Beseitigung von Defiziten im Sozialverhalten, vor allem die Behebung von tatursächlichen Persönlichkeitsmängeln, wie sie bei dem Beschwerdeführer zutage getreten sind. Dazu ist die aktive und erfolgreiche Ausein-andersetzung mit den Taten und die Aufarbeitung ihrer Ursachen erforderlich. Davon kann nur gesprochen werden, wenn der Verurteilte sein Fehlverhalten angemessen beurteilen und sich die Taten hinsichtlich ihrer Ursachen, ihrer konkreten Bedeutung und ihren Folgen so bewußt gemacht hat, daß eine Wiederholung dieses oder eines anderen Gesetzesverstoßes wenig wahrscheinlich ist (vgl. KG, Beschlüsse vom 6. November 2002 - 5 Ws 533-534/02 - und vom 11. Februar 2002 - 5 Ws 55/02 -). Tatsachen für eine derartige günstige Entwicklung sind aber weder vorgetragen noch erkennbar. Dem Verurteilten ist es lediglich gelungen, sich den Bedingungen des Vollzuges anzupassen und formal seine Taten zu bereuen. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, daß er Vollzugslockerungen bis zum 13. Juli 2005 beanstandungsfrei absolvierte. Umstände für eine günstige Entwicklung müssen feststehen; sie dürfen nicht lediglich unterstellt werden. Auf die Gründe, warum der Beschwerdeführer solche Tatsachen nicht schaffen konnte, kommt es nicht an (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 311; KG, Beschluß vom 24. Februar 1999 - 5 Ws 87/99 -).

2. Diesen Anforderungen genügt der Beschwerdeführer nicht.

Ein dauerhafter charakterlicher Wandel, der den dargestellten Anforderungen genügt kann dem Beschwerdeführer trotz seines bis zum 13. Juli 2005 beanstandungsfreien Vollzugsverhaltens nicht attestiert werden. Denn mit Haftbefehl vom 14. Juli 2005 und einer diesem entsprechenden Anklageschrift vom 18. Januar 2006 wird dem Verurteilten erneut eine einschlägige Tat, die in die Zeit der Strafvollstreckung fällt, vorgeworfen. Danach hat der Verurteilte am 13. Juli 2005 zusammen mit einem weiteren Gefangenen mit insgesamt 471,2 Gramm Kokain Handel getrieben. Die Feststellungen zum Tatgeschehen beruhen im wesentlichen auf den Angaben des Zeugen P..., der auf dieses Geschäft zum Schein eingegangen war, nachdem er das Landeskriminalamt informiert und von diesem auch das nötige Bargeld zur Verfügung gestellt bekam. Ernsthafte Zweifel an den Bekundungen des Zeugen P... bestehen nicht. Denn die von ihm der Polizei vorab geschilderten Übergabemodalitäten, unter anderem daß der Verurteilte das Tatfahrzeug führen und sein Mittäter das Kokain übergeben wird, entsprechen dem tatsächlichen durch die Polizei überwachten Geschehensablauf. Wegen dieses Vorwurfs wurde der Beschwerdeführer am 21. Juni 2006 im Verfahren 538 - 1/06 - nicht rechtskräftig - zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Darin zeigt sich, daß es dem Beschwerdeführer nicht gelungen ist, sich von seinen Straftaten dauerhaft zu distanzieren.

Die Strafvollstreckungskammer war entgegen dem Beschwerdevorbringen nicht daran gehindert, ihre negative Prognosebeurteilung auch auf die dem Verurteilten mit der Anklageschrift vom 18. Januar 2005 zur Last gelegten Tat zu stützen, die zwischenzeitlich zu einer nicht rechtskräftigen Verurteilung geführt hat.

Die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK steht dem nicht entgegen. Das von der Beschwerde herangezogene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 3. Oktober 2002 (vgl. EGMR StV 2003, 82) bezieht sich auf den Bewährungswiderruf nach § 56 f Abs. 1 StGB und hat für das von dem Beschwerdeführer betriebene Aussetzungsverfahren nach § 57 Abs. 1 StGB keine Bedeutung. Denn die Nachtragsentscheidung nach § 56 f Abs. 1 StGB ist an andere Voraussetzungen geknüpft als die Entscheidung über die bedingte Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB. Für letztere ist es nicht von Bedeutung, ob die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Straftaten bereits rechtskräftig abgeurteilt sind (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2005, 154; OLG Frankfurt NStZ-RR 2005, 248; OLG Karlsruhe NStZ-RR 1997, 87). Voraussetzung für einen Bewährungswiderruf ist nämlich, daß der Proband in der Bewährungszeit eine Straftat begangen hat; insoweit ist die Feststellung der neuen Straftat erforderlich. Demgegenüber ist die bedingte Reststrafaussetzung lediglich an das Vorliegen einer günstigen Legalprognose geknüpft. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung (§ 57 Abs. 1 Satz 2 StGB) gehen Zweifel über das Prognoseurteil zu Lasten des Verurteilten, so daß bei verbleibenden Unsicherheiten über die Frage, ob mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von künftiger Straffreiheit des Verurteilten auszugehen sei, eine bedingte Haftentlassung nicht in Betracht kommt. Dies begründet den maßgeblichen Unterschied zu § 56 f StGB, da bei der dortigen Prognoseentscheidung bestehende Zweifel an der Begehung der neuen Tat zwingend einen Widerruf verbieten, sich mithin zu Gunsten des Probanden auswirken.

Hinzu kommt, daß das Verfahren nach § 57 StGB nicht die Rechtsfolgen der neuen Tat betrifft, sondern allein die Frage der Fortsetzung der Vollstreckung einer bereits rechtskräftig erkannten Strafe wegen eines ungünstigen Prognoseurteils. Folglich bedarf es nicht zwingend sicherer Feststellungen über das Vorliegen einer neuerlichen Straftat; vielmehr kann die Prognose bereits dann ungünstig erscheinen, wenn der Verurteilte mit hoher Wahrscheinlichkeit eine neue Straftat begangen hat (vgl. BVerfG NJW 1994, 378).

Vorliegend ist die Beweislage aufgrund der Bekundungen des Zeugen P... und der übrigen Beweismittel klar. Deshalb durfte die Strafvollstreckungskammer auch auf die Anklageschrift und den Haftbefehl zum Tatgeschehen für ihre Überzeugungsbildung zurückgreifen (vgl. zur Zulässigkeit der Überzeugungsbildung des Vollstreckungsgerichts anhand des Akteninhalts OLG Düsseldorf StV 1992, 287). Die zwischenzeitliche Verurteilung des Beschwerdeführers bestätigt die Beurteilung der Strafvoll-streckungskammer.

3. Da unter diesen Umständen eine Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung nicht in Betracht kommt, scheidet die Einholung eines Prognosegutachtens nach § 454 Abs. 2 StPO aus (vgl. BGH NStZ 2000, 279; Senat, Beschluß vom 29. September 2004 - 5 Ws 508-509/04 -).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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