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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 02.08.2006
Aktenzeichen: 5 Ws 412/06
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 140 Abs. 2
StPO § 140 Abs. 2 Satz 1
StPO § 453 Abs. 1 Satz 3
StPO § 460
StGB § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
StGB § 56f Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
KAMMERGERICHT Beschluß

Geschäftsnummer: 5 Ws 412/06 1 AR 810/06

In der Strafsache gegen

wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis u. a.

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 2. August 2006 beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Dresden gegen die als Beschluß bezeichnete Verfügung der Vorsitzenden der Strafvollstreckungskammer 42 des Landgerichts Berlin vom 29. Mai 2006 wird verworfen.

Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die im Beschwerderechtszug entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten zu tragen.

Gründe:

Mit dem Gesamtstrafenbeschluß vom 28. Juni 2002, rechtskräftig seit dem 23. Juli 2002, bildete das Amtsgericht Pirna - 144 Js 17698/00 - aus den durch fünf Urteile jeweils wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (zu ergänzen wäre laut Urteil des Amtsgerichts Pirna vom 6. November 2000: in Tateinheit mit fahrlässigem Gebrauch eines nicht haftpflichtversicherten Fahrzeuges) verhängten Freiheitsstrafen eine Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten und setzte deren Vollstreckung zur Bewährung aus. Das Amtsgericht bestimmte die Bewährungszeit auf drei Jahre, wies den Verurteilten an, jeden Wechsel seines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes dem Gericht unverzüglich schriftlich anzuzeigen, und hielt die Auflage aus dem Bewährungsbeschluß des Amtsgerichts Pirna - 2 Ds 144 Js 17698/00 - vom 6. November 2000 (ohne Umrechnung in Euro) aufrecht, 1.000 DM (= 511,29 Euro) in Raten zu je 200 DM (= 102,25 Euro) "beginnend am 1. nach Rechtskraft sowie fortlaufend" zu zahlen. Das Amtsgericht zog dabei die bereits am 6. März 2001 zur Erfüllung der Auflage gezahlten 600 DM (= 306,78 Euro) nicht ab.

Da der Verurteilte in der Folgezeit die angemahnte Restzahlung von 204,51 Euro nicht leistete und unbekannten Aufenthaltes war, erging am 4. Juni 2004 Sicherungshaftbefehl (§ 453 c StPO). Am 16. Mai 2005 ging beim Amtsgericht Pirna die Mitteilung von der Festnahme des Verurteilten am 14. Februar 2005 und von seinem Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt Cottbus ein, von wo er am 21. Februar 2005 in die Justizvollzugsanstalt Brandenburg verlegt und dort am 28. Februar 2005 entlassen worden war. Nach dem Widerruf der Strafaussetzung aus dem wegen Verletzung der Unterhaltspflicht (Tatzeit laut Bundeszentralregisterauszug: bis Mai 2000) ergangenen Urteil des Amtsgerichts Brandenburg - (24 Ds) 470 Js 18765/00 V (168/01) - vom 19. Februar 2002 verbüßte der Verurteilte diese Strafe vom 14. November 2005 bis zum 28. April 2006. Mit dem Beschluß vom 9. Februar 2006 widerrief die Strafvollstreckungskammer die Strafaussetzung und rechnete die gezahlten 306,78 Euro mit 14 Tagen auf die Gesamtfreiheitsstrafe an. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde (§ 453 Abs. 2 Satz 3 StPO) des Verurteilten hatte vor dem Senat am 4. April 2006 - vorläufig - Erfolg - 5 Ws 89/06 -, nachdem die Verteidigerin Rechtsanwältin M A zu Recht darauf hingewiesen hatte, daß die Strafvollstreckungskammer es versäumt hatte, den Verurteilten mündlich anzuhören (§ 453 Abs. 1 Satz 3 StPO).

In der nunmehr anberaumten Anhörung trat Rechtsanwältin A. als Verteidigerin auf. Auf deren Antrag bestellte die Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer sie zur Pflichtverteidigerin. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft Dresden, die von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vertreten wird, hat keinen Erfolg.

1. Im Vollstreckungsverfahren ist in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO dem Verurteilten ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig oder sonst ersichtlich ist, daß sich der Betroffene nicht selbst verteidigen kann (vgl. BVerfG 70, 297, 323 = NJW 1986, 767, 771; OLG Stuttgart StV 1993, 378; Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl., § 140 Rdn. 33 m. Nachw.) oder wenn die Entscheidung von besonders hohem Gewicht ist (vgl. BVerfG NJW 1992, 2947, 2954 für die Aussetzung einer lebenslangen Strafe).

Der Beschwerdeführerin ist zuzugeben, daß im Vollstreckungsverfahren in weitaus geringerem Maße als in dem kontradiktorisch ausgestalteten Erkenntnisverfahren ein Bedürfnis nach einer Mitwirkung eines Verteidigers auf Seiten des Verurteilten besteht (vgl. BVerfG NJW 2002, 2773, 2774). Im Vollstreckungsverfahren sind die drei abschließend genannten Merkmale des § 140 Abs. 2 StPO einschränkend zu beurteilen (vgl. Senat NStZ-RR 2006, 211; StraFO 2002, 244). Die Schwierigkeit beurteilt sich nicht nach den Verhältnissen im Erkenntnisverfahren; denn der Beschwerdeführer muß sich nicht gegen einen Tatvorwurf verteidigen. Das Vollstreckungsgericht ist an die rechtskräftigen Feststellungen des Tatrichters gebunden. Auch die Rechtsprechung über die Notwendigkeit der Verteidigung wegen der Schwere der Tat läßt sich nicht auf das Vollstrekkungsverfahren übertragen. Die Höhe der Strafe steht - anders als im Erkenntnisverfahren - fest. Sie ist mit elf Monaten nicht so hoch, daß nach den Grundsätzen von BVerfG NJW 1992, 2947, 2954 die Mitwirkung eines Verteidigers geboten wäre.

2. Im Vollstreckungsverfahren ist maßgebend, ob die vollstrekkungsrechtliche Lage schwierig ist. Das ist hier der Fall. Denn das Beschwerdeverfahren wirft vorliegend in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Fragen auf, die Aktenkenntnis erfordern und über die regelmäßig auftretenden Probleme hinausgehen (vgl. Senat NStZ-RR 2006, 211).

a) Zu beachten ist, daß der Widerruf möglicherweise zurückzutreten hat, weil eine gebotene Gesamtstrafenbildung bislang unterblieben ist und das Verfahren nach § 460 StPO im Falle des Beschwerdeführers den Vorrang haben kann (vgl. Senat, Beschluß vom 26. April 2002 - 5 Ws 234/02 -). Es bedarf zunächst der - ohne Kenntnis aller Akten nicht möglichen - Prüfung, ob zwischen den in den hiesigen Gesamtstrafenbeschluß eingegangenen Strafen und der Verurteilung durch das Amtsgericht Brandenburg - (24 Ds) 470 Js 18765/00 V (168/01) - vom 19. Februar 2002 wegen Verletzung der Unterhaltspflicht erneut eine Gesamtfreiheitsstrafe gebildet werden muß. Denn im verfahrensgegenständlichen Gesamtstrafenbeschluß des Amtsgerichts Pirna bildete der Strafbefehl des Amtsgerichts Bergen vom 30. Mai 2000 die maßgebliche Zäsur. Der Bundeszentralregisterauszug benennt als Datum der Unterhaltspflichtverletzung "00.05.2000"; demnach dauerte sie bis zum Mai 2000. Ob das Ende des Dauerdelikts erst am 31. Mai 2000 erreicht war und die Tat demnach - auch - nach dem Erlaß des maßgeblichen Strafbefehls begangen war, was die Einbeziehung ausschlösse, läßt sich ohne genaue Kenntnis des Urteils und der Sachakten nicht mit ausreichender Sicherheit beurteilen. Daß die Strafe für diese Tat bereits verbüßt ist, stünde einer Einbeziehung (und Anrechnung von sechs Monaten, § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) nicht entgegen; denn eine nachträgliche Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe ist erst dann ausgeschlossen, wenn alle einzubeziehenden Strafen verbüßt oder erlassen sind (vgl. Fischer in KK, StPO 5. Aufl., § 460 Rdn. 10 mit Nachw.), es sei denn, die Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe verstieße gegen das Verbot der Schlechterstellung (vgl. KG JR 1976, 202; Fischer aaO Rdn. 14, 15). Setzt aber die Beantwortung der Frage, ob die Gesamtfreiheitsstrafe gebildet werden muß, die Kenntnis aller maßgeblichen Akten voraus, so ist die Beiordnung geboten, weil nur dem Verteidiger die vollständige Akteneinsicht möglich ist (§ 147 Abs. 1 StPO).

b) Die vollstreckungsrechtliche Lage ist ferner durch bisher aufgetretene Bearbeitungsmängel erschwert. Zum einen hat erst das Eingreifen der Verteidigerin den verfahrensrechtlichen Verstoß des Landgerichts gegen § 453 Abs. 1 Satz 3 StPO aufgedeckt. Zum anderen zieht sich wie ein roter Faden die Ansicht durch das Bewährungsheft, der Beschwerdeführer habe dadurch einen mit der Folge des Widerrufs nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB sanktionierten Weisungsverstoß begangen, daß er seine Anschrift dem seine Lebensführung überwachenden Gerichts nicht mitgeteilt habe. Diese Ansicht, der der Verurteilte im Anhörungstermin auch in tatsächlicher Hinsicht entgegengetreten ist, muß er sich mit Hilfe eines rechtskundigen Beistandes auch in rechtlicher Hinsicht erwehren; sie ist falsch (vgl. OLG Köln NStZ 1994, 509; Senat, Beschluß vom 14. Juni 2006 - 5 Ws 309/06 -; zum prozessualen Nutzen dieser (nicht unter § 56c StGB fallenden) Weisung: vgl. Fischer in KK, § 453 StPO Rdn. 8).

3. Daß die beschwerdeführende Staatsanwaltschaft mittlerweile (wegen der inzwischen eingegangenen Zahlung des Restes der Buße) milderen Maßnahmen als dem Widerruf nicht entgegentritt, beseitigt nicht die Erforderlichkeit der am 29. Mai 2006 erfolgten Beiordnung. Das Verfahren durch die Zurücknahme ihres Widerrufsantrages beendet, wie von der Strafvollstreckungskammer angeregt, hat sie jedenfalls nicht.

Die unter 2. aufgeführten prozessualen Besonderheiten wirken nach wie vor. Ferner setzen auch Maßnahmen nach § 56f Abs. 2 StGB einen Widerrufsgrund voraus. Die Annahme, der Proband habe gröblich oder beharrlich - mithin schuldhaft - gegen die Zahlungsauflage verstoßen, nachdem er immerhin im Jahre 2001 (mit nur geringer Verzögerung) 600 DM gezahlt hatte, setzt seine Zahlungsfähigkeit voraus. Ist er zahlungsunfähig, kommt ein Widerruf - mithin auch eine Maßnahme nach § 56b StGB - nicht in Betracht (vgl. OLG Düsseldorf StV 1995, 595; OLG Hamm StV 1993, 259; Senat, Beschlüsse vom 26. April 2005 - 5 Ws 125/05 - und vom 7. August 2000 - 5 Ws 528/00 - jeweils bei juris -; Groß in MünchKomm, StGB § 56f Rdn. 18; Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl., § 56f Rdn. 12). Auch zur Aufklärung dieser Frage, die Sache des Gerichts und nicht des Verurteilten ist (vgl. OLG Düsseldorf, OLG Hamm, Senat jeweils a.a.O.), kommt die Beiziehung der zum Verfahren wegen der Verletzung der Unterhaltspflicht geführten Akten in Betracht, zu denen der Verurteilte ohne Verteidiger keinen Zugang hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO. Eine Kosten- und Auslagenentscheidung ist erforderlich, obgleich es sich nur um ein Zwischenverfahren handelt (vgl. Meyer-Goßner, § 464 StPO Rdn. 11a). Da die Staatsanwaltschaft eines anderen Bundeslandes als Beschwerdeführerin beteiligt ist, hat der Senat nicht die Landeskasse Berlin, sondern allgemein die Staatskasse als Zahlungspflichtigen bestimmt.

Ende der Entscheidung

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