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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 10.02.2006
Aktenzeichen: 5 Ws 61/06
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 140 Abs. 2 S. 1
Zu den Voraussetzungen für die Beiordnung eines Verteidigers im Verfahren über die Reststrafenaussetzung (hier bejaht).
5 Ws 61/06 2 AR 26/06

In der Strafsache gegen

wegen Betruges

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 10. Februar 2006 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 4. Januar 2006 aufgehoben. Dem Verurteilten wird für das Verfahren über die Reststrafenaussetzung Rechtsanwalt E... J... als Pflichtverteidiger beigeordnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe:

I.

Das Landgericht Berlin verurteilte den Beschwerdeführer am 14. Juni 2004 wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betruges in Tateinheit mit gewerbs- und bandenmäßiger Urkundenfälschung in drei Fällen und wegen versuchten gewerbsmäßigen und bandenmäßigen Betruges in Tateinheit mit gewerbs- und bandenmäßiger Urkundenfälschung unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 30. Juli 2003 - 534-47/02 - und Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren. Das Urteil ist seit dem 15. Februar 2005 rechtskräftig. Am 22. März 2005 waren zwei Drittel der Strafe verbüßt; als Strafende ist der 23. Juli 2007 notiert.

Am 20. Februar 2005 und erneut am 21. Juni 2005 beantragte der Beschwerdeführer, die Vollstreckung des Strafrestes gemäß § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung auszusetzen. Nachdem die Staatsanwaltschaft am 18. Juli 2005 beantragt hatte, die Aussetzung des Strafrestes abzulehnen, beauftragte das Landgericht Berlin - Strafvollstreckungskammer - am 23. August 2005 den Sachverständigen Dr. P..., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, zur Vorbereitung der Entscheidung über die Reststrafenaussetzung mit der Erstattung eines kriminologischen Gutachtens insbesondere zu der Fragestellung, ob keine Gefahr mehr besteht, daß die durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit des Verurteilten fortbesteht. Das Sachverständigengutachten - das im Beschwerdeband nicht enthalten ist - ging, soweit ersichtlich, Ende September/Anfang Oktober 2005 bei der Strafvollstrek-kungskammer ein und wurde sodann aufgrund richterlicher Verfügung vom 5. Oktober 2005 der Staatsanwaltschaft und dem von dem Verurteilten beauftragten Verteidiger Rechtsanwalt E... J... zur Stellungnahme zugeleitet. Nachdem der Verteidiger zunächst mit Schriftsatz vom 8. November 2005 Fristverlängerung beantragt und mit weiterem Schriftsatz vom 25. November 2005 eine Stellungnahme bis Mitte der darauf folgenden Woche angekündigt hatte, ging diese am 30. November 2005 bei Gericht ein. Am 20. Dezember 2005 beantragte die Staatsanwaltschaft unter Bezugnahme auf das Sachverständigengutachten erneut die Ablehnung der Reststrafenaussetzung.

Am 4. Januar 2006 beraumte die Strafvollstreckungskammer Termin zur mündlichen Anhörung auf den 16. Februar 2006 an. Ferner lehnte sie durch Beschluß vom 4. Januar 2006 den Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt J... als Pflichtverteidiger im Verfahren über die Reststrafenaussetzung ab. Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit Beschwerde vom 6. Januar 2006. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

II.

Die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Verteidigers im Verfahren über die Reststrafenaussetzung sind erfüllt.

§ 140 Abs. 1 StPO gilt von vornherein nur im Erkenntnisverfahren. Deshalb ist es insbesondere ohne Bedeutung, daß sich der Beschwerdeführer bereits länger als drei Monate in Haft befindet (§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO).

Jedoch kommt im Vollstreckungsverfahren eine entsprechende Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO in Betracht. Danach ist dem Verurteilten ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig oder sonst ersichtlich ist, daß sich der Betroffene nicht selbst verteidigen kann (vgl. BVerfGE 70, 297, 323 = NJW 1986, 767, 771; OLG Stuttgart StV 1993, 378; Meyer-Goßner, 48. Aufl., § 140 StPO Rdn. 33 m. Nachw.), oder wenn die Entscheidung von besonders hohem Gewicht ist (vgl. BVerfG NJW 1992, 2947, 2954 für die Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß im Vollstreckungsverfahren in weitaus geringerem Maße als in dem kontradiktorisch ausgestalteten Erkenntnisverfahren ein Bedürfnis nach Mitwirkung eines Verteidigers auf seiten des Verurteilten besteht (vgl. BVerfG NJW 2002, 2773, 2774). Daher sind im Vollstreckungsverfahren die drei abschließend genannten Merkmale des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO einschränkend zu beurteilen (vgl. KG StraFo 2002, 244).

1. Danach kommt eine Pflichtverteidigerbestellung unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat hier nicht in Betracht. Da im Vollstreckungsverfahren - anders als im Erkenntnisverfahren - die Höhe der Strafe feststeht, läßt sich die Rechtsprechung über die Notwendigkeit der Verteidigung wegen der Schwere der Tat nicht auf das Vollstreckungsverfahren übertragen (vgl. KG, Beschluß vom 23. Januar 2006 - 5 Ws 33/06 -). Vielmehr ist auf die Schwere des Vollstreckungsfalles für den Verurteilten abzustellen (vgl. Meyer-Goßner, § 140 StPO Rdn. 33). Hier beträgt die Reststrafe nur noch knapp eineinhalb Jahre. Damit erreicht die Bedeutung des Verfahrens über die Reststrafenaussetzung noch nicht einmal ein mittleres Maß.

2. Jedoch ist vorliegend von einer schwierigen Sach- und Rechtslage auszugehen. Die Schwierigkeit beurteilt sich im Vollstreckungsverfahren nicht nach den Verhältnissen im Erkenntnisverfahren; denn der Beschwerdeführer muß sich nicht gegen einen Tatvorwurf verteidigen. Das Vollstreckungsgericht ist an die rechtskräftigen Feststellungen des Tatrichters in dem Urteil gebunden, dessen Vollstreckung den Gegenstand des Verfahrens bildet (vgl. KG ZfStrVo 1996, 247). Maßgebend ist vielmehr, ob die vollstreckungsrechtliche Lage schwierig ist. So aber liegt es hier. Das Vollstreckungsverfahren wirft in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht Fragen auf, die über die Probleme hinausgehen, die in einem die Aussetzung einer Reststrafe betreffenden Verfahren regelmäßig zu beurteilen sind.

a) Von erheblicher Bedeutung für die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Reststrafenaussetzung sind die Ergebnisse des von der Kammer eingeholten kriminologischen Gutachtens zur Frage einer fortbestehenden Gefährlichkeit des Verurteilten. Das Gutachten ist in dem Beschwerdeband nicht enthalten. Jedoch geht aus dem weiteren Akteninhalt - insbesondere aus der Stellungnahme des Verteidigers zu dem Gutachten und aus der Beschwerdebegründung - hervor, daß das Gutachten einen Umfang von 72 Seiten hat, zahlreiche psychiatrisch-neurologische Fachbegriffe enthält und sich detailliert mit den für eine Gefährlichkeitsprognose maßgebenden Gesichtspunkten, namentlich psychoanalytischen Fragen, auseinandersetzt. Ein derartiges Gutachten aber wirft rechtlich und tatsächlich schwierige Fragestellungen auf, die das Verständnis des Verurteilten und seine Fähigkeit übersteigen, sich damit angemessen auseinanderzusetzen (vgl. Beschlüsse des Senats vom 14. September 2005 - 5 Ws 399/05 - und dessen Vorsitzenden vom 23. September 2005 - 5 Ws 469-470/05 -). Dies wird auch an der differenzierten, sieben Seiten umfassenden Stellungnahme des Verteidigers deutlich, in der dieser die einzelnen Feststellungen des Sachverständigen einer kritischen Prüfung unterzieht.

Aus dem Beschwerdeband ergibt sich weiterhin, daß der Sachverständige zu dem Anhörungstermin am 16. Februar 2006 geladen ist und der sachbearbeitende Staatsanwalt ebenfalls seine Teilnahme an dem Termin angekündigt hat. Danach ist davon auszugehen, daß die Auseinandersetzung mit dem Gutachten und den ergänzenden mündlichen Ausführungen des Sachverständigen wesentlicher Gegenstand des Anhörungstermins sein wird. Die mündliche Erörterung der dargelegten Fragestellungen stellt noch zusätzliche Anforderungen an den Verurteilten. Sie setzt insbesondere präsente juristische und medizinische Vorkenntnisse voraus, über die der Verurteilte nicht verfügt. Namentlich in dem Anhörungstermin - aber, wie dargelegt, auch darüber hinaus - bedarf der Verurteilte daher der Mitwirkung eines Verteidigers, um seine Interessen sachgerecht wahrnehmen zu können.

b) Hinzu kommt, daß sich die Verfahrenslage als ungewöhnlich darstellt. Aus der eingangs dargestellten Prozeßgeschichte ergibt sich, daß sich die Entscheidung über die Reststrafenaussetzung gemäß § 57 Abs. 1 StGB aus Gründen, die dem Beschwerdeband nicht abschließend zu entnehmen sind, bereits erheblich verzögert hat. Auch hieraus ergeben sich rechtlich und tatsächlich schwierige Fragen, deren Beurteilung eine eingehende Aktenkenntnis zum zeitlichen Ablauf der Geschehnisse sowie juristisches Fachwissen voraussetzt, das der Verurteilte nicht hat.

Aus den dargelegten Gründen war die Beiordnung eines Pflichtverteidigers vorliegend geboten.

Die Bestellung des nicht ortsansässigen Verteidigers Rechtsanwalt J... war geboten, weil es verfahrensdienlich ist, den mit der Sache vertrauten, sachkundigen bisherigen Wahlverteidiger beizuordnen, der ersichtlich das Vertrauen des Verurteilten genießt (vgl. Meyer-Goßner, § 142 StPO Rdn. 12).

3. Die Kosten des Rechtsmittels fallen der Landeskasse zur Last, da kein anderer dafür haftet. Eine Auslagenentscheidung ergeht nicht, weil es sich um ein Zwischenverfahren handelt.

Ende der Entscheidung

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