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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 13.03.2006
Aktenzeichen: 5 Ws 636/05
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
Der Widerruf ist der Strafaussetzung ist nicht unbegrenzt möglich. Er hat zu unterbleiben, wenn aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes des Verurteilten eine solche Entscheidung nicht mehr - hier vier Jahre nach Ablauf der Bewährungszeit - vertretbar ist. Maßgebend ist, ob die Verzögerung einen sachlichen Grund hatte oder ob das Verfahren ungebührlich verschleppt worden ist, so dass der Verurteilte nach den Umständen des Einzelfalls mit dem Widerruf nicht mehr zu rechnen brauchte.
Geschäftsnummer: 5 Ws 636/05 1 AR 1587/05

In der Strafsache gegen

wegen Diebstahls u. a.

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 13. März 2006 beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 17. November 2005 aufgehoben.

Die Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten aus dem Beschluß des Landgerichts Berlin vom 29. November 1999 wird erlassen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen hat die Landeskasse Berlin zu tragen.

Gründe:

Der Beschwerdeführer wurde wie folgt verurteilt:

a) durch den Strafbefehl des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin - (277 Ds) 149 PLs 4024/97 (226/98) - vom 2. September 1998, rechtskräftig seit dem 24. Februar 1999, wegen versuchten Diebstahls (im besonders schweren Fall) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung unter Bestimmung einer Bewährungszeit von drei Jahren;

b) durch das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin - (340 Ds) 149 PLs 2814/97 (225/97) - vom 21. Januar 1998, rechtskräftig seit dem 29. Januar 1998, wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort (Tatzeit 13. Mai 1997) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung unter Bestimmung der Bewährungszeit auf drei Jahre. Dabei unterblieb die gebotene Einbeziehung der Strafe aus dem Strafbefehl zu a).

Mit Beschluß vom 28. September 1998 widerrief das Amtsgericht die Strafaussetzung aus dem Urteil vom 21. Januar 1998, weil der Beschwerdeführer am folgenden Tage erneut vorsätzlich ohne Fahrerlaubnis gefahren war (Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 13. Mai 1998 - 340 Ds 44/98 -: Freiheitsstrafe von drei Monaten, verbüßt bis zum 16. Oktober 1999) und weitere dreimal, zuletzt am 27. Mai 1998 (Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 25. September 1998 - 340 Ds 126/98 -: Freiheitsstrafe von neun Monaten, verbüßt bis zum 1. Mai 2002). Der Verurteilte verbüßte die Freiheitsstrafe von vier Monaten aus dem Urteil vom 21. Januar 1998 vollständig vom 17. Mai 1999 bis 16. September 1999.

Mit dem Beschluß vom 29. November 1999 - 512 Qs 101/99 -, rechtskräftig seit dem 30. November 1999, bildete das Landgericht Berlin aus den Strafen der Entscheidungen unter a) und b) eine nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten, setzte deren Vollstreckung erneut zur Bewährung aus und bestimmte die Bewährungszeit auf zwei Jahre und drei Monate (bis zum 28. Februar 2002).

Das Amtsgerichts Tiergarten in Berlin, dem der Gesamtstrafenbeschluß offenbar nicht bekannt war, widerrief (unter Gewährung rechtlichen Gehörs durch Schreiben vom 12. Oktober 2001) mit Beschluß vom 1. November 2001 - 277 Ds 226/98 - die Strafaussetzung aus dem Strafbefehl vom 2. September 1998 (oben unter a)), weil der Beschwerdeführer am 26. Juni 2000 einen versuchten Diebstahl (im besonders schweren Fall) begangen hatte und deswegen am 24. Januar 2001 vom Amtsgericht Tiergarten in Berlin - 277 Ds 551/00 - zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden war, die er ab dem 1. Oktober 2001 verbüßte. Weil deswegen (gemäß § 462 a Abs. 1 StPO) die Strafvollstreckungskammer zuständig war, hob das Landgericht Berlin am 3. Dezember 2001 den Widerrufsbeschluß auf und leitete die Sache der Strafvollstreckungskammer zu.

Am 29. Juni 2001 beging der Beschwerdeführer erneut einen Einbruch in ein Lokal und - außerhalb der Bewährungszeit - am 20. August 2003 sowie am 8. Februar 2004 zwei weitere derartige Taten. Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin - (277 Ds) 152 PLs 2980/01 (364/02) - verurteilte ihn deswegen am 14. April 2004 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten, die der Beschwerdeführer bis zum 7. Februar 2006 unter dem Aktenzeichen P 16/91 Js 483/04 VRs zu zwei Dritteln verbüßt hatte.

Mit dem angefochtenen Beschluß vom 17. November 2005 widerrief die Strafvollstreckungskammer die Strafaussetzung aus dem Gesamtstrafenbeschluß vom 29. November 1999. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde (§ 453 Abs. 2 Satz 3 StPO) des Verurteilten hat Erfolg.

Zwar liegen die formellen Voraussetzungen des Widerrufs (nach § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB) vor; aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ist er jedoch nicht mehr vertretbar.

1. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß der Beschwerdeführer durch die den Urteilen vom 24. Januar 2001 und 14. April 2004 (dort nur der Diebstahl vom 29. Juni 2001) zugrunde liegenden erheblichen Straftaten die Erwartung künftiger Straffreiheit enttäuscht hat, die der erneuten Strafaussetzung zur Bewährung durch den Gesamtstrafenbeschluß vom 29. November 1999 zugrunde lag.

a) Die Beschwerde erachtet diesen Beschluß zu Unrecht als "grob rechtsfehlerhaft". Es ist zwar richtig, daß der Verurteilte die dort einbezogene Strafe von vier Monaten aus dem Urteil vom 21. Januar 1998 nach dem zwischenzeitlichen Widerruf der Strafaussetzung (durch den Beschluß des Amtsgerichts vom 28. September 1998) bereits bis zum 16. September 1999 vollständig verbüßt hatte. Das hinderte aber - entgegen der Auffassung der Beschwerde - die Gesamtstrafenbildung nicht. Denn bei der Entscheidung nach § 460 StPO ist von der Rechtslage auszugehen, die bestand, als das Gericht das letzte Urteil fällte, dessen Strafe in die nachträglich gebildete Gesamtstrafe einbezogen wurde. Das ist hier der Strafbefehl vom 2. September 1998, rechtskräftig seit dem 24. Februar 1999, bei dessen Erlaß die Strafe von vier Monaten noch nicht verbüßt oder erlassen und damit noch gesamtstrafenfähig war. Anders wäre es nur, wenn - nicht so wie hier - zur Zeit der Bildung der nachträglichen Gesamtstrafe alle Freiheitsstrafen verbüßt oder erlassen wären (vgl. KG JR 1976, 202; Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl., § 460 Rdn. 13 m. weit. Nachw.).

b) Die beiden Bewährungsverstöße des Verurteilten sind erheblich. Den versuchten Einbruch beging er am 26. Juni 2000, nur etwa neun Monate nach der Verbüßung der Strafe von vier Monaten (aus dem Urteil vom 21. Januar 1998 nach Widerruf) und nur sieben Monate nach der (erneuten) Bewilligung einer Bewährungschance mit dem Gesamtstrafenbeschluß vom 29. November 1999. Hinzu kommt, daß die Strafvollstreckungskammer mit Beschluß vom 18. Oktober 1999 - 544 StVK 452, 456-457/99 - nach Verbüßung von insgesamt mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe aus drei Verfahren, die Reststrafe aus einem dieser Verfahren zur Bewährung (Bewährungszeit bis 16. November 2002) ausgesetzt hatte, wobei sie - irrtümlich - davon ausgegangen war, die Strafvollstreckung habe den Verurteilten stark beeindruckt. Nach dem Widerruf der Aussetzung der Reststrafe verbüßte er diese bis zum 1. Mai 2002.

Den Lokaleinbruch vom 29. Juni 2001 beging er nur etwa fünf Monate nach der Verurteilung vom 24. Januar 2001 wegen einer einschlägigen Tat und während des Laufes von zwei Bewährungsfristen.

Die weiteren drei Lokaleinbrüche verübte er am 28. August 2003 und 8. Februar 2004 (Urteil vom 14. April 2004) und den letzten nur vier Monate später am 17. August 2004 (Urteil vom 27. April 2005). Sie liegen zwar außerhalb der Bewährungszeit, machen aber zusätzlich deutlich, daß der Beschwerdeführer seiner seit Dezember 1978 eingeschliffenen Neigung zu Diebstahlsdelikten ohne Rücksicht auf Verurteilungen, Bewährungschancen, mehrfachem Bewährungswiderruf und Strafvollstreckungen nachgibt. Dies gilt selbst dann, wenn er Ansätze zeigte, beruflich Fuß zu fassen. In dem Verfahren 277 Ds 364/02 (Urteil vom 14. April 2004) hatte er Unterlagen über seine Ausbildung zum Altenpfleger und in der Berufungsverhandlung in jener Sache am 20. Juli 2004 eine Bescheinigung über die erfolgreiche Teilnahme an einem Kursus in diesem Bereich bis zum 25. Juni 2004 vorgelegt. Am 17. August 2004 beging er dennoch erneut einen Lokaleinbruch (Urteil vom 27. April 2005). Der Widerruf der Strafaussetzung in der hiesigen Sache wäre danach zwingend geboten.

2. Er ist jedoch angesichts des Verfahrensganges und im Bereich der Justiz liegender Verzögerungen nicht mehr vertretbar.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Kammergerichts und anderer Oberlandesgerichte ist der Widerruf auch nach Ablauf der Bewährungszeit zulässig (vgl. BGH NStZ 1998, 586; OLG Köln StV 2001, 412; OLG Zweibrücken JR 1991, 477; NStZ 1988, 501; OLG Hamm NStZ 1998, 478, 479; StV 1985, 198; OLG Celle StV 1987, 30; OLG Bremen StV 1986, 165; KG NJW 2003, 2468, 2469 mit weit. Nachw.; Senat, Beschluß vom 4. Oktober 2004 - 5 Ws 474/04 -; Gribbohm in LK, StGB 11. Aufl., § 56f Rdn. 47; Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl., § 56f Rdn. 19; Stree in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl., § 56f Rdn. 13; jeweils mit weit. Nachw.). Eine bestimmte Frist, innerhalb derer die Widerrufsentscheidung ergehen muß und nach deren Ablauf der Widerruf unzulässig wäre, gibt es nicht. Die Frist des § 56g Abs. 2 Satz 2 StGB ist auf § 56f nicht anwendbar (vgl. OLG Hamm NStZ 1998, 478, 479; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 254; VRS 90, 284; 89, 365; 85, 290; Gribbohm aaO. mit weit. Nachw.); denn ihre Anwendbarkeit setzt voraus, daß die Strafe zuvor erlassen und damit ein gesetzlich vertypter Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist.

Der Widerruf ist indes nicht unbegrenzt möglich. Er hat zu unterbleiben, wenn aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes des Verurteilten eine solche Entscheidung nicht mehr vertretbar ist (vgl. KG aaO.). Dabei ist nicht die Schnelligkeit, mit der die Strafaussetzung hätte widerrufen werden können, das Kriterium (vgl. KG, Beschluß vom 21. Februar 1996 - 5 Ws 471/95 -). Maßgebend ist, ob die Verzögerung einen sachlichen Grund hatte oder ob das Verfahren ungebührlich verschleppt worden ist, so daß der Verurteilte nach den Umständen des Einzelfalls mit dem Widerruf nicht mehr zu rechnen brauchte (vgl. OLG Düsseldorf aaO.; OLG Karlsruhe NStZ-RR 1997, 253; Senat in NJW 2003, 2468, 2469 und Beschluß vom 12. Mai 2005 - 5 Ws 222/05 -). Die Vertrauensbildung ist kein plötzliches Ereignis, sondern ein sich entwickelnder Prozeß, in dessen Verlauf der Verurteilte auch die Bearbeitungszeiten bei den Gerichten und der Staatsanwaltschaft berücksichtigen muß (vgl. KG, Beschluß vom 31. Januar 1996 - 5 Ws 7/96 -). Ferner sind die Art und Schwere der in der Bewährungszeit begangenen Taten (vgl. OLG Hamm NStZ 1984, 362) von Bedeutung sowie ihre Häufigkeit (vgl. KG, Beschluß vom 25. April 2001 - 5 Ws 161 und 188/01 -). Je schwerer und je häufiger der Proband in der Bewährungszeit versagt hat, desto weniger kann sich ein Vertrauen auf den Bestand der Strafaussetzung bilden. Denn um so eher muß sich dann bei dem Verurteilten das Bewußtsein bilden, daß sich lediglich die justizförmige Abwicklung des auf jeden Fall zu erwartenden Widerrufsverfahrens verzögert hat (vgl. OLG Hamm aaO.; zu vorstehenden Grundsätzen insgesamt: Senat, Beschluß vom 11. Oktober 2004 - 5 Ws 486/04 -).

b) Nachdem das Landgericht am 3. Dezember 2001 den Widerrufsbeschluß des Amtsgerichts Tiergarten vom 1. November 2001 aufgehoben und die Sache der Strafvollstreckungskammer zugeleitet hatte, stellt sich der Verfahrensverlauf folgendermaßen dar:

Die Strafvollstreckungskammer gab dem Verurteilten (mit Schreiben vom 4. Januar 2002) Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem weiterhin beantragten Widerruf, allerdings wiederum - unzutreffend - nur bezüglich des der Bewährung aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts vom 2. September 1998 (vorn unter a)), weil auch ihr der Gesamtstrafenbeschluß des Landgerichts vom 24. November 1999 nicht bekannt war. Da inzwischen in der Sache (277 Ds) 152 PLs 3210/01 (815/01) die Anklageschrift vom 24. August 2001 (Tatvorwurf: Beförderungserschleichung in drei Fällen; Tatzeiten: 21. Oktober 2000, 7. Mai 2001 und 8. Mai 2001, also alle innerhalb der Bewährungszeit aus dem Gesamtstrafenbeschluß; nach Verbindung mit der nachfolgenden Sache wurde das Verfahren insoweit nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt) und das weitere Verfahren - (277 Ds) 152 PLs 2980/01 (364/02) - bekannt geworden war (Anklageschrift vom 6. Februar 2002; Tatvorwurf: Diebstahl im besonders schweren Fall; Tatzeit: 29. Juni 2001, also ebenfalls in der Bewährungszeit), entschloß sich die Strafvollstreckungskammer im Einverständnis mit der Staatsanwaltschaft, den Ausgang dieser Verfahren abzuwarten. Dies wohl auch deshalb, weil der Verurteilte (mit Schreiben vom 11. November 2001 und später vom 24. Januar 2002, das erst im Januar 2003 zur Akte gelangte) mitgeteilt hatte, er verbüße derzeit die Freiheitsstrafe von sechs Monaten (aus dem Urteil vom 24. Januar 2001) im offenen Vollzug, habe Arbeit in einem Förderprojekt gefunden und mit seiner zu 50 Prozent gehbehinderten Freundin einen am 12. Juli 2000 geborenen Sohn. Der Verurteilte hatte deshalb gebeten, von dem Widerruf der Strafaussetzung aus dem Strafbefehl vom 2. September 1998 abzusehen. Die Strafvollstreckungskammer teilte das beabsichtigte Zuwarten (mit Schreiben vom 21. März 2002) dem Verurteilten mit und wies ihn darauf hin, die Strafaussetzung - wiederum diejenige aus dem Strafbefehl vom 2. September 1998, nicht dem hier maßgeblichen Gesamtstrafenbeschluß - könne auch noch nach Ablauf der Bewährungszeit widerrufen werden.

In der Folgezeit wartete die Strafvollstreckungskammer auf den Ausgang jener beiden neuen Verfahren, nach denen sie sich immer wieder erkundigte. Am 18. Februar 2003 und 18. März 2003 verblieb die Staatsanwaltschaft bei ihrem Antrag auf Widerruf. Die Strafvollstreckungskammer erfuhr erstmals nach dem Studium des Vollstreckungsheftes der hiesigen Sache im April 2003 von dem maßgeblichen Gesamtstrafenbeschluß des Landgerichts vom 21. November 1999. In einem Vermerk vom 8. April 2003 legte ihr Vorsitzender dies und seine Auffassung dar, eine Verlängerung der Bewährungszeit sei ausreichend, da die Anlaßtat (Urteil vom 24. Januar 2001) bereits am 26. Juni 2000 begangen worden sei, der Verurteilte inzwischen bis zum 26. Juni 2002 Freiheitsstrafe verbüßt, danach keine Straftaten mehr begangen und Familie habe. Nur der Nachweis weiterer Straftaten innerhalb der Bewährungszeit würde den Widerruf rechtfertigen.

Erstmals mit Schreiben vom 22. April 2003 teilte die Strafvollstreckungskammer dem inzwischen aus der Strafhaft entlassenen Verurteilten mit, daß es um den Widerruf der Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten (aus dem Beschluß des Landgerichts vom 29. November 1999) gehe.

In der Folgezeit wartete die Strafvollstreckungskammer weiterhin den Ausgang des Verfahrens 277 Ds 364/02 ab, zu dem inzwischen drei Sachen (1. die Beförderungserschleichung in drei Fällen und 2. - 3. jeweils Lokaleinbrüche) verbunden worden waren. In jenem Verfahren kam es zu mehrfachen, nicht vom Verurteilten zu vertretenden Aussetzungen des Verfahrens. Nur zu einem Termin war der Verurteilte nicht erschienen, weil ihm nach dem Verlust der Ladung von der Geschäftsstelle ein falscher Verhandlungsbeginn mitgeteilt worden war. Der daraufhin ergangene Haftbefehl (§ 230 Abs. 2 StPO) wurde deshalb alsbald aufgehoben. Wegen eines am 8. Februar 2004 begangenen Einbruchs in ein Lokal wurde am selben Tage Haftbefehl erlassen und der Verurteilte in Untersuchungshaft genommen, die mit der Haftverschonung am 23. Februar 2004 endete. Durch das Urteil des Amtsgerichts (in der Sache 277 Ds 364/02) vom 14. April 2004 wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahls in drei Fällen (darunter der in die Bewährungszeit fallende Lokaleinbruch vom 29. Juni 2001) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt. Der Verurteilte legte dagegen Berufung ein, die er in der Hauptverhandlung am 20. Juli 2004 zurücknahm, was der Strafvollstreckungskammer indes nicht bekannt wurde. Hier sei angemerkt, daß der Verurteilte bereits am 17. August 2004, nur knapp einen Monat nach der Berufungsrücknahme erneut einen Einbruch in ein Lokal begangen hat (Urteil vom 27. April 2005; ein Jahr Freiheitsstrafe).

Die Strafvollstreckungskammer, der das Urteil vom 14. April 2004 am 12. Mai 2004 mit dem Hinweis auf die eingelegte Berufung zugegangen war, wollte nun auch noch deren Ergebnis abwarten. Zuletzt am 26. August 2004 verfügte die Richterin eine Sachstandsanfrage, die in jener Akte indes nicht enthalten ist. Danach übersandte die Strafvollstreckungskammer die hiesige Akte am 30. August 2004 der Staatsanwaltschaft wegen eines Antrages auf DNA-Identifizierung (nach § 2 DNA-IFG i. V. m. § 81g StPO). Die Akte wurde von dort an das Amtsgericht und später an das Landeskriminalamt weitergeleitet. Nach Rückkehr der Akte zur Staatsanwaltschaft beantragte diese am 1. Juli 2005 erneut den Widerruf der Strafaussetzung, nachdem die Justizvollzugsanstalt Hakenfelde (mit Schreiben vom 20. April 2005) mitgeteilt hatte, der Verurteilte befinde sich zur Verbüßung der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten in Strafhaft, woraus die Rechtskraft des Urteils vom 14. April 2004 zu entnehmen war.

Am 27. April 2005, rechtskräftig seit dem 5. Mai 2005, verurteilte das Amtsgericht - (277 Ds) 153 PLs 2359/04 (762/04) - den Beschwerdeführer wegen des bereits genannten Diebstahls am 17. August 2004 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, die er zur Zeit verbüßt. Von diesem Urteil erhielt die Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer am 5. August 2005 Kenntnis. Mit Schreiben vom selben Tage gab sie dem Verurteilten Gelegenheit zur Stellungnahme zum dem Widerrufsantrag bezüglich des Gesamtstrafenbeschlusses vom 29. November 1999 und nannte als Anlaßtaten die in die Bewährungszeit fallenden aus den Urteilen vom 24. Januar 2001 und 14. April 2004.

c) Angesichts dieses Verfahrensganges ist der Widerruf vier Jahre nach Ablauf der Bewährungszeit nicht mehr vertretbar. Diese Zeitdauer allein stünde ihm zwar nicht entgegen, läge die Ursache der Verzögerungen im Bereich des Verurteilten. So liegt es hier indes nicht; denn sie sind dem justitiellen Bereich zuzuordnen. Für diese Zuordnung kommt es, wie auch bei Verfahrensverzögerungen im Erkenntnisverfahren, nicht auf vorwerfbares Verhalten der mit der Sache befaßten Mitarbeiter der Justiz an. Es genügen auch von diesen nicht zu vertretende organisatorische Unzulänglichkeiten etwa im Bereich des Informationsflusses zwischen beteiligten Stellen (Gerichten und der Staatsanwaltschaft) oder deren personelle Unterbesetzung (vgl. Tröndle/Fischer, § 46 StGB Rdnrn. 61a ff. zu Verzögerungen im Erkenntnisverfahren, wo solche bei der Strafzumessung auszugleichen sind). Als organisatorischer Mangel kommt hier auch der ständige Wechsel von Richtern der Strafvollstreckungskammer bei der Bearbeitung dieser Sache in Betracht. Im Widerrufsverfahren können erhebliche, sachwidrige Verzögerungen nur durch das Absehen von dem Widerruf Berücksichtigung finden. Derartige Verzögerungen sind hier geschehen.

Das Amtsgericht hätte zwar nach Eingang des Urteils vom 24. Januar 2001 bei ihm am 13. September 2001 wegen der Kürze der Zeit bis zum Haftantritt des Verurteilten am 1. Oktober 2001 und damit dem Übergang der Zuständigkeit auf die Strafvollstreckungskammer das Widerrufsverfahren nicht durchführen können. Der Strafvollstreckungskammer wäre eine zeitnahe Entscheidung aber durchaus möglich gewesen. Es kam bei ihr jedoch zu Komplikationen. Die Stellungnahme des Verurteilten vom 24. Januar 2002 (nach dem bezüglich der maßgeblichen Bewährungsentscheidung unzutreffenden Anschreiben des Gerichts vom 4. Januar 2002) ging zwar bereits am 24. Januar 2002 bei dem Gericht ein, gelangte aber erst Ende Januar 2003 zur hiesigen Akte. Die zu jener Zeit sachbearbeitende Richterin wies in ihrem anschließenden Vermerk vom 11. Februar 2003 auf diesen Mangel hin. Sie beanstandete, es sei nicht ersichtlich, warum im Anschluß an das gerichtliche Schreiben vom 4. Januar 2002 keine Widerrufsentscheidung ergangen sei und meinte schon damals, ein auf die Verurteilung vom 24. Januar 2001 gestützter Widerruf sei wegen des Zeitablaufes aus Vertrauensschutzgesichtspunkten nunmehr unzulässig. Dabei hatte die Richterin aber nach der Aktenlage in hiesiger Sache keine Kenntnis davon, daß die maßgebliche Bewährungsentscheidung - anders als in dem Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft und dem gerichtlichen Schreiben vom 4. Januar 2002 angegeben - nicht mehr der Strafbefehl vom 2. September 1998 sein durfte, sondern der Gesamtstrafenbeschluß des Landgerichts Berlin vom 29. November 1999, der sich - fehlerhaft - nur im Vollstreckungsheft, nicht hingegen in der Hauptakte befand, die der Strafvollstreckungskammer allein vorlag. Auch dafür war die Ursache ein organisatorischer Mangel bei der Weiterleitung jenes Beschlusses an die Gerichte, auf deren Entscheidungen er sich bezog. Ein anderer Richter der Strafvollstreckungskammer erhielt von dem Gesamtstrafenbeschluß erst durch das Studium des Vollstrek-kungshefts Kenntnis, legte dies zwar in seinem Vermerk vom 8. April 2003 dar, nahm aber eine Kopie des Beschlusses nicht zur Akte. Danach wies er den Verurteilten erstmals mit Schreiben vom 22. April 2003 (unter Bezugnahme auf das jenige vom 4. Januar 2002, also ein Jahr und drei Monate später) darauf hin, daß es hier um den Widerruf der mit dem Gesamtstrafenbeschluß bewilligten Strafaussetzung gehe. Seit Eingang des Urteils vom 24. Januar 2001 bei Gericht am 13. September 2001 waren etwa ein Jahr und sieben Monate vergangen.

Die Strafvollstreckungskammer vertrat (in dem Vermerk vom 8. April 2003) die Auffassung, wegen zwischenzeitlicher Verbüßung der Strafe von sechs Monaten, der Straffreiheit des Verurteilten nach seiner Haftentlassung am 3. März 2002 und seiner familiären Bindung und Arbeit sei ein Widerruf wegen der Anlaßtat vom 26. Juni 2000 nur bei einer erneuten Tat innerhalb der Bewährungszeit zu rechtfertigen. Es mag deshalb sachgerecht gewesen sein, weiterhin den Ausgang der neuen Verfahren abzuwarten, was sie dem Verurteilten bereits mit Schreiben vom 21. März 2002 mitgeteilt hatte. Nachdem das noch nicht rechtskräftige Urteil vom 14. April 2004 in jener Sache schließlich am 12. Mai 2004 bei der Strafvollstreckungskammer eingegangen war, entschloß sie sich - durch eine erneut andere Richterin - die Rechtskraft jener Entscheidung abzuwarten, gegen die der Verurteilte Berufung eingelegt hatte. Dies war nach Lage der Sache nicht erforderlich; denn das Urteil wies aus, daß der Beschwerdeführer alle drei Lokaleinbrüche glaubhaft gestanden hatte. In einem solchen Fall kann der Widerruf auch schon vor Rechtskraft des neuen Urteils erfolgen, falls das Widerrufsgericht sich die Überzeugung von der Begehung der neuen Tat (etwa nach Beiziehung jener Akte) verschaffen kann (vgl. Senat, Beschluß vom 8. Juli 2004 - 5 Ws 321/04 - mit weit. Nachw.). Daß das Berufungsgericht angesichts der auch der Strafvollstreckungskammer bekannten Tatsachen erneut Strafaussetzung zur Bewährung bewilligen werde, war auszuschließen. Wäre dies widererwarten dennoch geschehen, so wäre die erneute Strafaussetzung, weil nicht nachvollziehbar, unbeachtlich gewesen (vgl. Senat, Beschluß vom 13. April 2005 - 5 Ws 594/04 -).

In der Folgezeit kam es erneut zu einer Störung des sachgerechten Informationsflusses. Das Berufungsgericht und in der Folgezeit die Staatsanwaltschaft teilten der Strafvollstreckungskammer nicht mit, daß der Verurteilte seine Berufung in der Hauptverhandlung am 20. Juli 2004 zurückgenommen hatte und das Urteil vom 14. April 2004 damit rechtskräftig war. Eine Ausfertigung mit Rechtskraftvermerk wurde der Strafvollstrek-kungskammer nicht übersandt. Sie konnte erstmals aus dem Vollstreckungsblatt der Justizvollzugsanstalt Hakenfelde, eingegangen bei Gericht am 22. April 2005, auf die Rechtskraft jenes Urteils schließen, da der Verurteilte die dort verhängte Strafe bereits seit dem 8. April 2005 verbüßte. Auf diese Erkenntnis konnte die Strafvollstreckungskammer jedoch nicht reagieren, denn sie hatte - ohne daß sich die Notwendigkeit erschlösse - die Akte wegen eines Antrages nach § 2 DNA-IFG am 26. August 2004 an die Staatsanwaltschaft übersandt, von wo sie mit einem erneuten Widerrufsantrag erst am 5. Juli 2005 zur Strafvollstreckungskammer zurückgelangte. Diese erforderte - durch eine wiederum andere Richterin - am 6. Juli 2005 einen Bundeszentralregisterauszug und am 20. Juli 2005 das Vollstreckungsheft wegen des Gesamtstrafenbeschlusses vom 29. November 1999, der sich auch danach immer noch nicht in der Hauptakte findet, und zwei Akten, die zu der Sache 277 Ds 364/02 (Urteil vom 14. April 2005) verbunden worden waren, anstatt sich kurzerhand (telefonisch oder durch Fax) bestätigen zu lassen, daß jenes Urteil tatsächlich rechtskräftig geworden war, wie es bereits dem Vollstreckungsblatt zu entnehmen war. Am 5. August 2005 ging schließlich das weitere Urteil vom 27. April 2005 - mit Rechtskraftvermerk - bezüglich einer weiteren einschlägigen Tat bei der Strafvollstreckungskammer ein.

Angesichts dieses Verfahrensganges ist der Beschwerde zwar darin Recht zu geben, angesichts eines derartigen von dem Verurteilten nicht zu vertretenden Chaos von Entscheidungen, die teilweise aufgrund mangelhafter Kenntnis und ganz offensichtlich wegen der Unübersichtlichkeit der Akten gefällt wurden, könne von dem Verurteilten nicht verlangt werden, den Überblick zu behalten. Es sei dazu aber angemerkt, daß der Verurteilte an diesem "Chaos" insofern nicht ganz unbeteiligt war, als er ständig neue Straftaten beging. Dennoch ist festzuhalten, daß eine derart verzögerliche Bearbeitung über mehrere Jahre hinweg nicht dadurch ausgeglichen werden kann, daß dem Verurteilten durch gerichtliche Schreiben, zumal zunächst mit unzutreffendem Inhalt, ab und an signalisiert wird, das Widerrufsverfahren laufe noch, bis der Widerruf schließlich - erneut von einer anderen Richterin - am 17. November 2005 beschlossen wurde. Er ist nach alledem nicht mehr vertretbar.

3. Der Senat hat (gem. § 309 Abs. 2 StPO) die in der Sache nunmehr erforderliche Entscheidung zu treffen. Da der Widerruf der Strafaussetzung nicht mehr in Betracht kommt, ist der Erlaß der Strafe aus dem Gesamtstrafenbeschluß vom 29. November 1999 geboten (§ 56g Abs. 1 StGB).

Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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