Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 02.03.2006
Aktenzeichen: 5 Ws 68/06
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112 Abs. 2 Nr. 2
Zum Haftgrund der Fluchtgefahr bei einem Embargoverstoß nach § 34 AWG bei einem Täter, der aus humanitären Gründen gehandelt hat.
Geschäftsnummer: 5 Ws 68/06

In der Strafsache gegen

wegen Zuwiderhandlung gegen Sanktionsmaßnahmen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen u. a.

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 2. März 2006 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Angeklagten werden die Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts Berlin vom 30. November 2005 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 18. August 2005 - 351 Gs 3404/05 - aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe:

Das Landgericht Berlin hat den Angeklagten am 30. November 2005 wegen Zuwiderhandlungen gegen Sanktionsmaßnahmen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in 317 Fällen, davon in 288 Fällen in Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Kreditwesengesetz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Über die von ihm eingelegte Revision ist noch nicht entschieden.

Am 18. August 2005 wurde der Angeklagte aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom gleichen Tag verhaftet; er befindet sich seit diesem Tag ununterbrochen in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl hat die dem Urteil zugrunde liegenden Taten zum Inhalt und ist auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt. Bei der Verkündung des Urteils am 30. November 2005 hat die Strafkammer die Aufrechterhaltung der Haftverhältnisse angeordnet. Der Angeklagte hat am 6. Februar 2006 Beschwerde gegen den Beschluß vom 30. November 2005 eingelegt und gleichzeitig beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise diesen außer Vollzug zu setzen. Die Beschwerde, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat, ist erfolgreich.

1. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus dem am 30. November 2005 gegen den Angeklagten ergangenen Urteil. Der Haftbefehl war dennoch aufzuheben, da kein Haftgrund besteht.

Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) ist mit dem Urteil des Landgerichts vom 30. November 2005 entfallen (vgl. Meyer-Goßner StPO, 48. Aufl. § 112, Rdn. 35).

2. Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) liegt zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr vor.

Fluchtgefahr besteht, wenn die Würdigung aller Umstände es wahrscheinlicher macht, daß sich der Angeklagte dem Strafverfahren eher entziehen wird als daß er sich ihm zur Verfügung hält (Meyer-Goßner, § 112 StPO Rdn. 17, 19). Die so definierte Wahrscheinlichkeit hält der Senat für nicht gegeben.

a) Nach der erstinstanzlichen Verurteilung dient die Untersuchungshaft noch der Sicherung des weiteren Verfahrens nach möglicher Zurückverweisung aus dem Revisionsrechtszug und der Vollstreckung der erkannten Strafe für den Fall, daß sie Rechtskraft erlangt (vgl. BVerfGE 32, 87, 93). Den einzigen Fluchtanreiz bietet die Erwartung, den noch nicht vollstreckten Teil der Freiheitsstrafe noch in Unfreiheit verbringen zu müssen. Da die Staatsanwaltschaft ihre Revision zurückgenommen hat, so daß der Angeklagte nicht zu einer höheren Freiheitsstrafe als die vom Landgericht verhängten zwei Jahre und acht Monate verurteilt werden kann (§ 358 Abs. 2 StPO), bemißt sich dieser Höchstzeitraum für den seit dem 18. August 2005 ununterbrochen in Untersuchungshaft befindlichen Beschwerdeführer auf etwa zwei Jahre und anderthalb Monate.

Zwar muß er befürchten, daß seine Revision erfolglos bleibt, und der genannte Zeitraum überschreitet auch geringfügig die etwa bei zwei Jahren anzusetzende Grenze, bei der die Senate des Kammergerichts allgemein die Auffassung vertreten, daß es weiterer die Fluchtgefahr begründender Tatsachen (vgl. die Beispiele bei Meyer-Goßner, § 112 StPO Rdn. 20) nicht mehr bedarf und nur noch zu prüfen ist, ob Tatsachen gegeben sind, welche die hieraus herzuleitende Fluchtgefahr zu mindern geeignet sind (vgl. KG, Beschluß vom 30. März 1999 - 4 Ws 79/99 -). Solche Tatsachen sind hier aber gegeben. Denn der sozial eingeordnet lebende Beschwerdeführer kann nicht nur damit rechnen, daß er als wegen eines Wirtschaftdelikts verurteilter Erstverbüßer den Erfahrungen des Senats zufolge als für die Verbüßung im offenen Vollzug geeignet gehalten werden wird (vgl. Senat, Beschluß vom 17. November 2004 - 5 Ws 581/04 -); sondern er hat auch eine konkrete Hoffnung, einen geringeren Strafrest als den oben genannten verbüßen zu müssen (vgl. Senat aaO).

b) aa) Es liegt im Streitfall bereits nicht außerhalb jeglicher Erwartung, daß das Revisionsgericht die Voraussetzungen eines minder schweren Falles gemäß § 34 Abs. 4 Satz 2 AWG annehmen könnte. Das Landgericht hat bei der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen eines - von ihm letztlich verneinten - minder schweren Falles zahlreiche Umstände genannt, die zugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen seien. So hat es festgestellt (UA S. 25), daß der Angeklagte nicht vorbestraft ist, er die Taten objektiv vollumfänglich eingeräumt hat, daß die von ihm bewirkten Geldzahlungen - anders als in dem Fall, der dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 6. Juli 2004 (NStZ-RR 2004, 342) zugrunde lag - ausschließlich humanitären Zwecken dienten und daß in den meisten Fällen lediglich kleine Beträge transferiert wurden. Seinen mittels der Überweisungen erzielten Verdienst hat es mit nur monatlich 250 EUR angegeben. Zu seinen Lasten hat es hingegen ausschließlich die Vielzahl der Fälle sowie die professionelle Organisation des Geldtransfers hervorgehoben. Dem steht aber gegenüber, daß sich die Verhältnisse seither gewandelt haben und das Embargo nicht mehr besteht (vgl. zu diesem Gesichtspunkt LG Berlin, Urt. vom 25. Oktober 2000 - (526) 5 Wi Js 116/99 KLs (20/00) - Juris, veröffentlicht in ZfZ 2001, 282). Angesichts dieser Umstände ist es nicht von vornherein unwahrscheinlich, daß das Revisionsgericht nach Vornahme seiner eigenen Bewertung das Vorliegen der Voraussetzungen eines minder schweren Falles im Gegensatz zum Tatgericht bejahen könnte. Dies würde die Möglichkeit einer Herabsetzung des Rechtsfolgenausspruchs eröffnen, aus der die Hoffnung erwüchse, daß die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann.

bb) Der Angeklagte muß auch für den Fall, daß seine Revision erfolglos bleibt, nicht mit einer Vollverbüßung der gegen ihn verhängten Gesamtfreiheitsstrafe rechnen. Grundsätzlich ist zwar davon auszugehen, daß eine erkannte Strafe auch voll vollstreckt wird. Denn in der Regel ist zum Urteilszeitpunkt eine Prognose nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB nicht möglich, weil sie unter anderem von dem Vollzugsverhalten und anderen Unwägbarkeiten wie der Art und Weise der Auseinandersetzung des Täters mit seiner Straftat abhängt. Im Streitfall liegen aber besondere Umstände vor, die bereits jetzt erwarten lassen, daß die Vollstreckung des noch vorhandenen Rests der Gesamtfreiheitsstrafe spätestens nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe - möglicherweise sogar bereits nach der Hälfte der Verbüßung - zur Bewährung ausgesetzt werden kann.

aaa) Die Vollstreckung der Reststrafe ist nach Verbüßung von zwei Dritteln der Haftstrafe regelmäßig dann auszusetzen, wenn dem Verurteilten eine günstige Prognose gestellt werden kann. Dies zeichnet sich vorliegend anhand der Feststellungen des Landgerichts bereits jetzt ab. Tatantrieb war hier nicht in erster Linie ein Gewinnstreben des Angeklagten, der lediglich ca. 250 EUR im Monat aus den Transfergeschäften erzielte (UA S. 17), sondern vielmehr standen humanitäre Beweggründe, also ein förderungswürdiger Charakterzug, im Vordergrund (UA S. 25). In einem solchen Fall bedarf es der resozialisierenden Komponente des Strafvollzugs nicht mehr. Die im Strafvollzug erforderliche Auseinandersetzung des Täters mit der Tat fordert hier - anders als im Regelfall - kein Ausloten der tatfördernden Charakterzüge und keine Entwicklung und Einübung von Verhaltensstrategien, um kriminelle Neigungen oder leichte Verführbarkeit zu bekämpfen. Der Gesetzgeber bewertet zwar in § 34 AWG den Embargoverstoß als beachtliches Unrecht, was sich aus der Strafdrohung erkennen läßt. Ein Täter aber, dem im Urteil bescheinigt wird (UA S. 18), er habe aus "eigener Anschauung um die schlechte medizinische Versorgung und die schwierigen Lebensverhältnisse in seiner Heimat" humanitär gebotene Zahlungen abgewickelt, deren Genehmigungsbedürftigkeit und - aufgrund der konkreten Umstände - ausgeschlossene Genehmigungsfähigkeit ihm aus Nachlässigkeit (vgl. UA S. 23) unbekannt geblieben seien, kennt nunmehr die Rechtslage aus eigener schmerzlicher Anschauung und bietet keinen charakterlichen Anhaltspunkt, daß er erneut versagen wird. Wie gutgläubig der Angeklagte sein Verhalten rechtlich falsch eingeschätzt hat, zeigt sich in der Feststellung des Landgerichts (UA S. 19), daß er das von ihm praktizierte Transfersystem freimütig offenbart hat, um einen - unbegründeten - Geldwäscheverdacht zu entkräften.

bbb) Vorliegend kommt auch eine vorzeitige Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt in Betracht. Besondere Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB liegen dann vor, wenn sich Milderungsgründe von besonderem Gewicht feststellen lassen, oder mehrere jeweils für sich allein als nur durchschnittlich oder einfach zu bewertende Milderungsgründe vorliegen, denen aufgrund ihres kumulativen Zusammentreffens ein solch starkes Gewicht beigemessen werden kann, daß sie in ihrer Gesamtheit als überdurchschnittliche und damit besondere Umstände bewertet werden können (vgl. OLG Hamm StV 1998, 503). So liegt der Fall hier. Denn zu den bereits geschilderten Milderungsgründen treten noch weitere in diesem Zusammenhang bedeutsame Umstände hinzu: In Verfahren, in denen sich persönliches Fehlverhalten mit dem Strom des politischen Weltgeschehens mischt, gebietet es das Maß der Schuld des Angeklagten seltener als im Regelfall der zu eigennützigen Zwecken begangenen Straftaten, die Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt zu versagen (vgl. KG, Beschlüsse vom 11. Januar 2001 und 4. Januar 2001 - (1) 2 StE 1/00 (1/00) - PKK - und vom 13. November 2000 - (1/1a) 1 OJs 239/94 (19/96) - Stasi). Auch in diesem Zusammenhang wirkt sich der bereits erwähnte Gesichtspunkt, daß das Embargo nicht mehr besteht und sich die Straftat auf die geschehene Weise nicht mehr wiederholen läßt, zugunsten des Beschwerdeführers aus.

Die tatsächlich von dem Beschwerdeführer zu erwartende Verbüßungsdauer verkürzt sich nach alledem beträchtlich und bietet für sich allein keinen ausreichenden Anreiz zur Flucht.

c) Zu diesen Gründen treten noch weitere fluchthemmende Gesichtspunkte hinzu. Der Angeklagte ist in feste soziale Verhältnisse eingebunden. Er lebt mit seiner Ehefrau und seinen Kindern, die in Deutschland zur Schule gehen und hier einen Schulabschluß erwerben wollen, seit Jahren in Deutschland. Daß er wegen seiner geschäftlichen Aktivitäten auch Verbindungen in den Irak hat, kann an dieser Einschätzung nichts ändern. Angesichts der nach wie vor bürgerkriegsähnlichen Lage im Irak erscheint es wenig wahrscheinlich, daß der Angeklagte unter Aufgabe seiner sozialen Bindungen in Deutschland unter Berücksichtigung auch des bereits im Zusammenhang mit der günstigen Sozialprognose Gesagten in den Irak zurückkehren würde. Auch hinsichtlich der von dem Senat regelmäßig verlangten Verläßlichkeit des Angeklagten (vgl. z.B. Beschluß vom 25. Januar 2002 - 5 Ws 38/02 -) ist nicht von unwesentlicher Bedeutung, daß er wesentlich zur Aufklärung seiner eigenen Taten beigetragen, sich dem Verfahren nie entzogen und die Taten vollumfänglich eingeräumt hat.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung der §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 3 StPO. Über die notwendigen Auslagen war nicht zu befinden, weil es sich um eine Zwischenentscheidung handelt.

Ende der Entscheidung

Zurück