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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 12.03.2008
Aktenzeichen: 12 Sa 54/07
Rechtsgebiete: KSchG


Vorschriften:

KSchG § 17
KSchG § 18 Abs. 2
KSchG § 18 Abs. 4
Europarechtskonforme Auslegung von § 17 KSchG:

- Die Massenentlassungsanzeige hat vor Ausspruch der Kündigung zu erfolgen.

- Die Sperrfrist von § 18 Abs. 2 KSchG hat nur noch die Wirkung einer Mindestkündigungsfrist.

- Keine erneute Anzeige gemäß § 18 Abs. 4 KSchG erforderlich, wenn die einschlägigen tariflichen, gesetzlichen oder einzelvertraglichen Kündigungsfristen länger sind, als die Summe bestehend aus Sperrfrist (§ 18 Abs. 2 KSchG) und Freifrist (§ 18 Abs. 4 KSchG).


Tenor:

1. Die Berufung des Klägers R. gegen das Urteil des Arbeitsgerichtes Karlsruhe vom 11.05.2007 - Az.: 1 Ca 529/06 - und die Berufungen der Kläger U., Y., .C, D. und K. gegen die Urteile des Arbeitsgerichtes Karlsruhe vom 17.08.2007 - Az.: 1 Ca 477/06, 1 Ca 478/06, 1 Ca 498/06, 1 Ca 499/06 und 1 Ca 500/06 - werden zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Kläger jeweils zu 1/6.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beklagte stellte in ihrem Betrieb in B. mit angeschlossenem Betreibsteil in K. Gummidichtungen für die Automobilindustrie her und beschäftigte zum Jahresende 2006 etwa 170 Arbeitnehmer.

Der Kläger Ziffer 1 stand seit dem 02.11.1993,

der Kläger Ziffer 2 seit dem 20.10.1990,

der Kläger Ziffer 3 seit dem 28.04.1997,

die Klägerin Ziffer 4 seit dem 03.07.1998,

die Klägerin Ziffer 5 seit dem 01.03.1993 und

der Kläger Ziffer 6 seit dem 23.10.1995

in einem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten, bzw. deren Rechtsvorgängerin als Maschinenbediener.

Mit Schreiben vom 13.06.2006 unterrichtete die Beklagte den Betriebsrat über ihre Absicht, den gesamten Betrieb in B. und K. bis zum 30.06.2007 zu schließen und die Produktion teilweise nach H. und teilweise nach U. zu verlagern. In H. betreibt die weltweit agierende Konzernmutter der Beklagten ein weiteres Unternehmen.

In der Folgezeit führte die Beklagte mit dem Betriebrat zunächst freie, dann in einer Einigungsstelle förmliche Verhandlungen, die am 18.10.2006 zum Abschluss eines Interessenausgleiches und eines Sozialplanes führten. Gemäß Ziffer 2.1 dieses Interessenausgleiches sollte die gesamte Produktion einschließlich der "Mischerei" und der "Oberflächenbeschichtung" schrittweise bis zum 30.06.2007 stillgelegt werden.

Mit Schreiben vom 15.11.2006 informierte die Beklagte den Betriebsrat über eine geplante Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs. 2 KSchG. Dieser nahm hierzu mit Schreiben vom 21.11. Stellung.

Mit Schreiben vom 27.11.2006 teilte die Beklagte der Agentur für Arbeit mit, sie beabsichtige am 29. und 30.11.2006 insgesamt 157 Arbeitnehmer zu entlassen, bat um Mitteilung des Beginns und des Endes der geregelten Sperrfrist und beantragte die Zustimmung zu deren Abkürzung.

Mit Schreiben vom 29.11.2006 sprach sie gegenüber den Klägern Ziffer 1 bis 4 und mit entsprechenden Schreiben vom 06.12.2006 gegenüber den Klägern 5 und 6 Kündigungen jeweils zum 30.06.2007 aus. Hiergegen erhoben die Kläger Ziffer 2 und 3 am 15., die Kläger Ziffer 4 bis 6 am 19. und der Kläger Ziffer 1 am 20.12.2006 Kündigungsschutzklage.

Am 11.12.2006 erteilte die Agentur für Arbeit der Beklagten einen Bescheid mit folgendem Wortlaut:

"...

1. Die Entlassungssperre gemäß § 18 Abs. 1 Kündigungschutzgesetz (KSchG) beginnt für 157 Arbeitnehmer am 28.11.2006 und endet am 27.12.2006. Damit können die beabsichtigten Entlassungen gemäß Ihrer Anzeige vom 27.11.2006 erfolgen. Ihrem Antrag auf Verkürzung der Entlassungssperre wird nicht zugestimmt, das für diese Anzeige nach geltender Rechtslage eine Verkürzung der Entlassungssperre nicht erforderlich ist. 2. Unbeschadet der Entlassungssperre sind die gesetzlichen, tariflichen oder vertraglichen Kündigungsfristen einzuhalten. Reichen sie über die Entlassungssperre hinaus, so sind die Entlassungen erst nach Ablauf der Kündigungsfrist zulässig..."

Mit Wirkung vom 01.05.2007 übertrug die Beklagte den Betriebsteil in K., in welchem die "Oberflächenbeschichtung" durchgeführt wurde, auf die Firma He.. Mit Wirkung vom 01.06.2007 wurde die Abteilung "Mischerei" einschließlich der dazugehörigen Instandhaltung und Qualitätssicherung auf die H. Schwestergesellschaft übertragen, die allerdings diese Arbeitsvorgänge vorübergehend in der B. Betriebsstätte unter ihrer Regie durchführen ließ.

Die Kläger haben die Kündigungen für sozial ungerechtfertigt gehalten mit der Begründung, die Beklagte sei im Zeitpunkt des Ausspruches der Kündigungen noch nicht fest entschlossen gewesen, den gesamtem Betrieb zum 30.06.2007 zu schließen. In Wahrheit habe es sich um sogenannte Vorratskündigungen gehandelt, die nur für den Fall ausgesprochen worden seien, dass sich eine bereits bei Ausspruch der Kündigungen erwogene Betriebsübernahme durch andere Unternehmen nicht realisieren lasse. Daher seien auch die Betriebsratsanhörungen fehlerhaft, weil die Beklagte dem Betriebsrat verschwiegen habe, dass Teilbetriebsübergänge geplant gewesen seien. Die Beklagte hätte daher auch ihre Erwägungen zur Sozialauswahl dem Betriebsrat mitteilen müssen.

Außerdem scheiterten die Kündigungen an § 18 Abs. 4 KSchG. Die sogenannten Freifrist habe trotz der richtlinienkonformen Auslegung des Begriffes "Entlassung" als "Kündigung" seine Bedeutung behalten. Die Beklagte hätte eine weitere Anzeige gegenüber der Agentur für Arbeit machen müssen, weil die Kündigungen erst lange nach Ende der Freifrist die Arbeitsverhältnisse beendet haben.

Die Kläger Ziffer 2 bis 6 haben beantragt

festzustellen, dass ihre Arbeitsverhältnisse durch die erwähnten Kündigungen zum 30.06.2007 nicht beendet wurden und dass diese über den 30.06.2007 hinaus unverändert fortbestehen.

Der Kläger Ziffer 1 hat nur die Kündigung vom 29.11.2006 - punktuell - angegriffenen und seine tatsächliche Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss beantragt.

Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, dass der Arbeitsdirektor und rechtsgeschäftliche Vertreter der Alleingesellschafterin der Beklagten gemeinsam mit dem Geschäftsführer der Beklagten und dem Chef der europäischen Sealing-Produktgruppe in Absprache mit dem Mutterkonzern die Entscheidung getroffen habe, den gesamten Produktionsbetrieb in B. einschließlich der Verwaltung bis spätestens zum 30.06.2007 einzustellen. Diese unternehmerische Entscheidung habe sich sowohl im Informationsschreiben vom 13.06.2006, als auch in den beiden Betriebsvereinbarungen vom 18.10.2006 widergespiegelt. Zum Zeitpunkt des Ausspruches des Kündigungen habe die Beklagte noch nicht erwogen und auch noch nicht erkennen können, dass zu Beginn des Folgejahres zwei Betriebsteile, nämlich die "Mischerei" und die "Oberflächenbeschichtung" im Wege der Teilbetriebsübergänge weiter fortbestehen würden.

Erstmals im Februar/März 2007 habe die Beklagte nämlich Verhandlungen mit der Firma He. GmbH aufgenommen. Auch die Entscheidung, die "Mischerei" mit Wirkung vom 01.06.2007 durch die zum Konzern gehörende F. M. Sealing Systems GmbH H. weiterführen zu lassen, sei erst in der zweiten Maihälfte 2007 getroffen worden. Die übrige Produktion sei, wie ursprünglich geplant, pünktlich zum 30.06.2007 stillgelegt worden.

Die Massenentlassungsanzeige sei ordnungsgemäß durchgeführt worden. Die Kündigungen hätten aufgrund der Rechtsprechung des EuGH bereits unmittelbar nach der Anzeige ausgesprochen werden dürfen. Die gesetzliche Regelung von § 18 Abs. 4 KSchG über die sogenannte Freifrist sei infolge dieser Rechtsprechung nicht mehr anwendbar. Zumindest genieße die Beklagte Vertrauensschutz aufgrund einer entsprechenden Verwaltungsanweisung der Bundesagentur für Arbeit, wonach bei Kündigungsfristen, die die Gesamtdauer von Entlassungssperre und Freifrist übersteigen, keine erneute Anzeige erforderlich sei.

Das Arbeitsgericht hat - mit Ausnahme im Rechtsstreit des Klägers Ziffer 1 - den Zeugen F. M. über die Behauptung der Beklagten vernommen, dass sie zum Zeitpunkt der Kündigungen noch entschlossen war, die Produktion einschließlich der "Mischerei" und der "Oberflächenbeschichtung" zum 30.06.2007 zu schließen, dass erst im Frühjahr 2007 Verhandlungen mit einer Firma B. S. GmbH i. G., respektive Firma He. zwecks Übernahme der "Oberflächenbeschichtung" aufgenommen worden seien und dass ebenfalls erst im April/Mai 2007 das Schwesterunternehmen in H. sich mit der Beklagten verständigt habe, die "Mischerei" am bisherigen Ort vorübergehend fortzuführen.

Das Arbeitsgericht hat mit seinen Urteilen vom 11.05. und 17.08.2007 die Klagen mit der Begründung abgewiesen, aufgrund des Informationsschreibens vom 13.06.2006 und der Betriebsvereinbarungen vom 18.10.2006 einschließlich der nachfolgenden Massenentlassungsanzeige vom 27.11.2006, sowie der Vernehmung des Zeugen F. M. stehe zu seiner Überzeugung fest, dass die unternehmerische Entscheidung zur vollständigen Schließung der Produktion im Zeitpunkt der Kündigung greifbare Formen angenommen habe. Für die Beurteilung der Rechtswirksamkeit der Kündigungen seien ausschließlich die Verhältnisse zum Zeitpunkt ihres Zuganges maßgeblich. Die erst später zustande gekommenen Betriebsübergänge seien damals noch nicht vorhersehbar, geschweige denn geplant gewesen.

Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihren Berufungen und verfolgen ihre erstinstanzlichen Feststellungsanträge weiter, wobei lediglich der Kläger Ziffer 1 die erstinstanzlich beantragte Weiterbeschäftigung gegen einen hilfsweise gestellten Wiedereinstellungsanspruch - wie folgt - ausgewechselt hat.

Der Kläger Ziffer 1 beantragt:

1. Das Urteil des Arbeitsgerichtes Karlsruhe vom 11.05.2007 - Az.: 1 Ca 529/06 - wird abgeändert.

2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 29.11.2006 nicht zum 30.06.2007 aufgelöst wurde.

3. Hilfsweise: Die Beklagte wird verurteilt, das Angebot des Klägers Ziffer 1 auf Abschluss eines Fortsetzungsarbeitsvertrages zu den bisherigen Arbeitsbedingungen unter Anrechnung der bisherigen Beschäftigungsdauer seit dem 02.11.1993 anzunehmen.

Die Kläger Ziffer 2 bis 4 beantragen:

1. Die Urteile des Arbeitsgerichtes Karlsruhe vom 17.08.2007 - Az.: 1 Ca 477/06, 1 Ca 478/06, 1 Ca 498/06 - werden abgeändert.

2. Es wird festgestellt, dass die Arbeitsverhältnisse der Parteien durch die Kündigungen der Beklagten vom 29.11.2006 nicht aufgelöst wurden.

3. Es wird festgestellt, dass die Arbeitsverhältnisse über den 30.06.2007 hinaus ungekündigt fortbestehen.

Die Kläger Ziffer 5 und 6 beantragen:

1. Die Urteile des Arbeitsgerichtes Karlsruhe vom 17.08.2007 - Az.: 1 Ca 499/06 beziehungsweise 1 Ca 500/06 - werden abgeändert.

2. Es wird festgestellt, dass die Arbeitsverhältnisse der Parteien durch die Kündigungen der Beklagten vom 06.12.2006 nicht aufgelöst wurden.

3. Es wird festgestellt, dass die Arbeitsverhältnisse über den 30.06.2007 hinaus ungekündigt fortbestehen.

Die Beklagte beantragt kostenpflichtige Zurückweisung der Berufungen unter Bezugnahme auf ihr erstinstanzliches Vorbringen. In Bezug auf den Wiedereinstellungsanspruch des Klägers Ziffer 1 führt sie ergänzend aus, hierzu in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht mehr in der Lage zu sein.

Das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 30.01.2008 die Rechtsstreitigkeiten zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und den Zeugen F. M. erneut über die Behauptung der Beklagten vernommen, im Juni 2006 vorbehaltlos beschlossen zu haben, ihre Produktion spätestens zum 30.06.2007 zu schließen.

Hinsichtlich des Beweisergebnisses wird auf die Seiten 4 bis 9 der Protokollniederschrift vom 30.01.2008 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Berufungen der Kläger sind ungegründet, weil das Berufungsgericht ebenso wie das Arbeitsgericht zu der Überzeugung gelangt ist, dass die Beklagte zu Ende November 2006 und zu Anfang Dezember 2006, also zu den jeweiligen Beurteilungszeitpunkten des Zugangs der streitgegenständlichen Kündigungen, die einschränkungslose unternehmerische Entscheidung getroffen hatte, die Produktion von Gummidichtungen einschließlich derer der "Oberflächenbeschichtung" und der "Mischerei" zum 30.06.2007 an ihren beiden Standorten in B. und K. aufzugeben.

Das Arbeitsgericht hat hierzu zutreffend darauf hingewiesen, dass eine derartige Unternehmerentscheidung die Voraussetzungen für ein dringendes betriebliches Erfordernis im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG erfüllt.

Dies hat zur Folge, dass sowohl die punktuellen Anträge auf Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigungen vom 29.11. (Kläger Ziffer 1 bis 4) bzw. 06.12.2006 (Kläger 5 und 6) ebenso unbegründet sind wie die allgemeinen Feststellungsanträge bezüglich des Fortbestandes über den 30.06.2007 hinaus.

Der hilfsweise vom Kläger Ziffer 1 erstmals in der Berufungsinstanz gestellte Antrag auf Wiedereinstellung scheitert daran, dass er nicht auf Tatsachen hätte gestützt werden können, die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung ohnehin hätte zugrunde legen können. Dieser geänderte Antrag ist daher gemäß § 533 ZPO unzulässig, weil die streitige Frage des Wegfalles einer Beschäftigungsmöglichkeit neuen Sachvortrag voraussetzt.

Im Einzelnen:

1. Der am 30.01.2007 vom Berufungsgericht vernommene Zeuge F. M. hat bekundet, dass ihm in seiner Doppelfunktion als Geschäftsführer der deutschen Holding GmbH der Beklagte und verantwortlicher "Personaler" im Laufe einer etwa halbstündigen Telefonkonferenz von Mai oder Juni 2006 vom Chief Executive Officer des Weltkonzerns, dem die Beklagte zugehört, die strategische Entscheidung zur Schließung und Aufgabe der gesamten Produktion in B. und K. zugunsten einer Verlagerung nach R., U. und H. per 30.06.2007 mitgeteilt und dass ihm sodann die verbindliche Weisung zur fristgerechten Durchführung der hierzu notwendigen Maßnahmen erteilt worden sei.

Weiter hat der Zeuge ausgesagt, dass die später unstreitig vorgenommene Einschränkung dieser strategischen Unternehmerentscheidung in Bezug auf die Teilbereiche "Oberflächenbeschichtung" und "Mischerei" erstmals zu Beginn des Folgejahres in Erwägung gezogen worden sei.

So hat er bekundet, dass erst auf den Hinweis des in E. tätigen Einkaufsmitarbeiters B. (oder P.) zu Ende Januar 2007, bzw. zu Anfang Februar 2007 ein Teilbetriebsübergang der Abteilung "Oberflächenbeschichtung" habe angebahnt werden können. In diesem Zusammenhang hat er ausgeführt, daraufhin, also frühestens zu Beginn des Monats Februar, ein erstes Gespräch mit dem Geschäftsführer He. in einem K. Hotel geführt zu haben.

Hinsichtlich der "Mischerei" hat er bekundet, zu Beginn des Jahres 2007 habe der neu berufene Geschäftsführer der H. Konzernschwester Bedenken geäußert, ob die Übernahme der Produktion von Gummidichtungen mangels eigenem know-how reibungslos funktionieren könne, wenn die Mischung nicht mehr aus B., sondern zudem von dritter Hand in R. hergestellt und angeliefert werde.

Daher habe der H. Geschäftsführer seine Vorstellung durchsetzen können, die "Mischerei" zumindest vorübergehend in B. zu belassen und in Gestalt eines von H. aus geführten Gemeinschaftsbetriebes weiter zu betreiben.

Diese Darstellung des Zeugen hinsichtlich der teilweisen Revidierung der Totalschließung ist glaubhaft, zumal wenn sie im Licht der vorangegangenen Verhandlungen in der Einigungsstelle über den Abschluss eines Interessenausgleiches und eines Sozialplanes gewürdigt wird. Hätte sich der Beklagten bereits im Jahr 2006 vor Ausspruch der Kündigungen objektiv die Möglichkeit eines Teilbetriebsüberganges auf die Firma He. geboten, hätte sie ein weitaus geringeres Sozialplan-Volumen einplanen und die Verhandlungen über den Interessenausgleich zu für sie günstigeren Rahmenbedingungen führen können.

Es ist zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, aber doch eher fernliegend anzunehmen, dass die Beklagte dies wegen der damit verbundenen Risiken im Zusammenhang mit dann notwendigen Sozialauswahl-Entscheidungen gegenüber dem Betriebsrat verschwiegen hätte.

Zumindest sprechen keinerlei tatsächlichen Anhaltspunkte dafür, dass die Firma He. bereits vor Ausspruch der Kündigungen überhaupt Kontakt mit der Beklagten oder mit dem in England für den Einkauf verantwortlichen Person aufgenommen hatte. Der Umstand, dass der Zeuge auch den Namen seines englischen Informanten preisgab und damit die Möglichkeit einer Überprüfung seiner Aussage eröffnete, stützt seine Glaubwürdigkeit.

Entsprechendes gilt auch für die Plankorrektur hinsichtlich der Verlagerung der "Mischerei". Auch insoweit hat der Zeuge durch die Benennung ihres Urhebers und der entsprechende Motive weitere Umstände dafür dargelegt, dass zum Zeitpunkt der Kündigungen dies noch nicht in Erwägung gezogen worden war.

2. Die Kündigungen scheitern in Ansehung der sogenannten Junk-Entscheidung des EuGH vom 27.01.2005 (Az.: C-188/02) weder an § 17 KSchG, noch an § 18 Abs. 4 KSchG.

a. Gemäß § 17 Abs. 1 KSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er eine Vielzahl von Arbeitnehmern nach Maßgabe der dort genannten Schwellenwerte innerhalb eines bestimmten Zeitraumes "entlässt". Als Entlassung im vorgenannten Sinn gilt nach der Junk-Enscheidung (a. a. O.) und - ihr folgend - des Bundesarbeitsgerichtes (23.03.2006, 2 AZR 343/05, sowie 13.07.2006, Az.: 6 AZR 198/06) die Kündigungserklärung.

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte die Anzeige gesetzeskonform erst nach Durchführung des Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat gemäß § 17 Abs. 2 KSchG erstattet. Sie hat unmittelbar darauf die Kündigungen ausgesprochen, ohne die beantragte Zustimmung der Agentur für Arbeit zur Abkürzung der 30-tägigen Sperrfrist abwarten zu müssen. § 18 Abs. 1 zweiter Halbsatz KSchG sieht nämlich vor, dass die Zustimmung auch rückwirkend bis zum Tage der Antragstellung erteilt werden kann. Dem Wortlaut des Bescheides der Agentur für Arbeit vom 11.12.2006 kann zumindest zweifelsfrei entnommen werden, dass der Verkürzungsantrag mit Rückwirkung positiv verbeschieden wurde, lautet es doch, dass die Entlassungen (sprich: Kündigungen) "gemäß Ihrer Anzeige vom 27.11.2006 erfolgen" könnten.

An dem Ausspruch der rückwirkenden Zustimmung ändert auch nichts der Umstand, dass die Agentur den Beginn und das Ende der Sperrfrist im Sinne von § 18 Abs. 1 KSchG mit dem 28.11. und dem 27.12.2006 angegeben hat, weil nach der anschließenden Formulierung eine entsprechende Verkürzung der Sperrfrist nicht für erforderlich gehalten wurde.

Die weiteren Aussagen im Bescheid vom 11.12.2006 sind auslegungsbedürftig, weil die Bestimmungen unter Ziffer 2 nach dem "buchstäblichen Sinne des Ausdruckes" (§ 133 BGB) kaum aus sich heraus verständlich sind.

Der Hinweis auf das Gebot zur Einhaltung der einschlägigen Kündigungsfristen lässt keinen Rückschluss auf einen konstitutiven Regelungsgehalt zu. Die ohnehin zu beachtenden Kündigungsfristen sind vorliegend - soweit ersichtlich - nur diejenigen von § 622 Abs. 2 BGB; sie betragen zwischen vier bis sechs Monaten zum Monatsende, da längere tarifliche oder einzelvertragliche Kündigungsfristen mangels Sachvortrages nicht ersichtlich sind.

Der folgende Satz schreibt vor, dass in den Fällen, in denen die einschlägigen Kündigungsfristen über den Zeitraum der Entlassungssperre, also über den 27.12.2006, hinausreichen, die Entlassungen erst nach diesen vier- bis sechsmonatigen Kündigungsfristen zulässig seien.

Der Satz ist bei isolierten Betrachtung ebenfalls ohne erkennbaren Regelungswert. Zieht man jedoch den naheliegenden Umkehrschluss, wonach bei Kündigungsfristen, die kürzer als die dreißigtägige Sperrfrist sind, die Entlassungen früher möglich sein sollen, wird der Widersinn des Satzes offenbar. Das Berufungsgericht erkennt in dieser Formulierung nur dann einen vom Gesetzeszweck getragenen Sinn, wenn zum einen das - wohl vergessene - Wort "nicht" mit eingelesen und weiter unter "Entlassungen" die rechtliche Beendigungswirkung einer Kündigung verstanden wird. Demnach handelt es sich wohl um ein Redaktionsversehen der Agentur.

Dies führt zu folgender wohlverstandener Regelung:

Reichen die einschlägigen Kündigungsfristen "nicht" über die Entlassungssperre hinaus, darf die "Beendigungswirkung" frühestens mit Ablauf der Sperrfrist eintreten.

Dies entspricht der Ansicht, wonach der Sperrfrist von § 17 Abs. 1 KS SchG bei richtlinienkonformer Auslegung die Bedeutung einer öffentlich-rechtlichen Mindestkündigungsfrist für Massenentlassungen zukommt (Erfurter Kommentar-Kiel, 8. Aufl., § 18 KSchG Rndz. 2). Diese Frist wurde bei allen Kündigungen gewahrt.

b. Ohne Erfolg rügen die Kläger eine Verletzung von § 18 Abs. 4 KSchG.

Danach bedürfen "Entlassungen", die nicht innerhalb der 90-tägigen Freifrist von § 18 Abs. 4 KSchG durchgeführt werden, unter den Voraussetzungen von § 17 Abs. 1 KSchG einer erneuten Anzeige.

Die Beklagte beruft sich in diesem Zusammenhang auf Vertrauensschutz nach näherer Maßgabe der "Verfahrensanordnung" der Bundesagentur vom 15.04.2005, wonach § 18 Abs. 4 KSchG "künftig ohne Anwendungsbereich" sei, sodass bei Kündigungsfristen, die die Dauer von Entlassungssperre und Freifrist übersteigen, keine erneute Anzeige erforderlich sei. Es kann offen bleiben, ob die Beklagte überhaupt Vertrauensschutz nach Maßgabe der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichtes vom 23.03. und 13.07.2006 (a. a. O.) für sich in Anspruch nehmen kann, wenn, wie vorliegend, eine Verwaltungsbehörde unter Missachtung des Prinzips der Gewaltenteilung bestehendes Recht für unanwendbar erklärt. Auf Vertrauensschutz im Hinblick auf den erst nach Ausspruch der Kündigungen zugegangenen Bescheid vom 11.12.2006 kann sich die Beklagte ohnehin nicht berufen.

Das Bundesarbeitsgericht (a. a. O.) hat die Anwendbarkeit von § 18 Abs. 4 bei langlaufenden Kündigungsfristen noch nicht entscheiden müssen. Es hat jedoch eine sogenannte teleologische Reduktion für möglich gehalten. Gerichte haben bestehende Gesetze anzuwenden und dürfen im allgemeinen im Rahmen einer erforderlichen Auslegung auch bei erkannter Sinn-Entleerung oder ähnlichem bestehendes Gesetz nicht unangewendet lassen. Selbst bei erkannter Verfassungswidrigkeit ist eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht geboten, das allein die Verwerfungskompetenz hat.

Das erkennende Gericht kommt bei einzelfallbezogener Auslegung von § 18 Abs. 4 KSchG zu folgendem Ergebnis:

Unter "Durchführung" der Entlassung innerhalb der Freifrist im Sinne von § 18 Abs. 4 ist bei richtlinienkonformer Auslegung die "rechtliche Beendigungswirkung" zu verstehen. Die sogenannte Freifrist erfasste die dem 28.12.2006 folgenden 90 Arbeitstage. Die Kündigungen gegenüber den Klägern Ziffer 1 bis 6 bewirkten die Beendigung der Arbeitsverhältnisse erst zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt, nämlich zum 30.06.2007.

Selbst wenn jedoch eine europarechtliche Überlagerung (so Boeddinghaus, Arbeit und Recht, 2007/374) zu einer generellen Anwendbarkeit von § 18 Abs. 4 KSchG im Sinn einer Zweitanzeige zwingen sollte, so ist doch zu berücksichtigen, dass damit in den vorliegenden sechs Fällen, bzw. den insgesamt 157 gleichgelagerten Kündigungen der Agentur für Arbeit erneut genau diejenigen Daten mitgeteilt werden müssten, die sie ohnehin schon seit der Erstanzeige vom 27.11.2006 sicher kannte, nämlich den Eintritt der Entlassungswirkung per 01.07.2007 für diesen Personenkreis.

Das Bundesarbeitsgericht hat in vergleichbaren Fällen, nämlich im Zusammenhang mit der individuellen Anhörung des Betriebsrates vor einer Einzelkündigung gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG wiederholt entschieden, dass es eine leere Förmelei wäre, etwas erneut mitzuteilen, was der Adressat ohnehin zuvor sicher und zweifelsfrei erfahren hatte (BAG, 19.05.1993, Az.: 2 AZR 584/92 = AP Nr. 31 zu § 2 KSchG 1969, sowie 24.11.1993, Az.: 2 AZR 347/92 = AP Nr. 30 zu § 102 BetrVG 1972). Die unterlassene Mitteilung (dort eines Teils) eines Kündigungsgrundes führt im Normalfall zur Unwirksamkeit der Kündigung wegen Verletzung von § 102 BetrVG. Anders ist dies jedoch, wenn der Betriebsrat den Sachverhalt entweder aus sicherer eigener (dienstlicher) Anschauung oder aus einem vorangegangenen Anhörungsvorgang genau kennt und - so muss hinzugefügt werden - dieser Sachverhalt sich bis zum Zeitpunkt der an sich gebotenen förmlichen Anhörung nicht verändert hat.

Im vorliegenden Fall ist zwar einzuräumen, dass aufgrund der beiden nachträglichen Teilbetriebsübergänge sich zwar Änderungen ergeben haben, aber keine zu Ungunsten der Arbeitnehmer, weil sich die Gesamtzahl der zu Entlassenden dadurch nicht erhöht hat. Wäre unter diesen Umständen eine Zweitanzeige erfolgt, so hätte die Agentur für Arbeit dies lediglich erneut zur Kenntnis nehmen können, ohne von Rechts zum Erlass eines weiteren Bescheides gezwungen und ohne in tatsächlicher Hinsicht zu neuen Überlegungen in Bezug auf die künftigen Arbeitssuchenden genötigt zu sein. Zugleich wäre der Agentur für Arbeit kein in irgendeiner Weise geänderter Gesichtspunkt zum Nachteil der Arbeitnehmer zur Kenntnis gegeben worden.

Teleologische Reduktion bedeutet in Bezug auf eine Gesetzesauslegung, auf den erkennbaren Zweck und den Grundgedanken einer Norm abzustellen und deren Regelungsgehalt entsprechend zu beschränken im Sinne einer einengenden Auslegung (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., S. 321, 377). Der Zweck einer Massenentlassungsanzeige besteht ersichtlich darin, der Agentur für Arbeit zu einem möglichst frühen Zeitpunkt eine sichere Kenntnis über den Umfang der künftig Arbeitssuchenden zu verschaffen, damit Abhilfemaßnahmen rechtzeitig geplant und durchgeführt werden können; eine Zweitanzeige hätte dem Erfordernis der Rechtzeitigkeit nicht genutzt. Bei einer Zweitanzeige der vorliegenden Art liefe dieser Zweck in Ansehung der unverändert gebliebenen Sachverhaltskonstellation zudem ersichtlich leer und würde womöglich einzig dazu dienen, der Beklagten Nachteile zuzufügen, denen keine adäquaten Vorteile auf Seiten der Arbeitnehmer gegenüber stünden.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97, 100 Abs. 1 ZPO.

Ende der Entscheidung

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