Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 07.05.2008
Aktenzeichen: 12 Sa 63/08
Rechtsgebiete: KSchG


Vorschriften:

KSchG § 5 Abs. 4
1. Verfahrensänderung zum Antrag auf nachträgliche Zulassung einer verspätet erhobenen Kündigungsschutzklage:

Die mit Wirkung ab dem 01.04.2008 geänderte Fassung von § 5 Abs. 4 des Kündigungsschutzgesetzes durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (Bundesgesetzblatt Seite 444) führt -wegen Fehlens einer Übergangsregelung- nach den Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechtes dazu, dass über eine Beschwerde, die vor dem 01.04.2008 eingelegt wurde, ab diesem Stichtag das Landesarbeitsgericht nunmehr durch Urteil zu entscheiden hat.

2. Zur Begründetheit eines Zulassungsantrages, der darauf gestützt wird, dass trotz bewiesenem Zugang der Kündigung (Möglichkeit der Kenntnisnahme im Sinne von § 130 BGB) gleichwohl der Kündigungsempfänger tatsächlich keine rechtzeitige Kenntnis von dem Schreiben erlangt hat.


Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Klägers vom 09.11.2007 wird der Beschluss des Arbeitsgerichtes Karlsruhe vom 31.10.2007 - Az.: 4 Ca 141/07 - abgeändert.

2. Die Kündigungsschutzklage betreffend die Kündigung der Beklagten vom 15.02.2007 zum 31.03.2007 wird nachträglich zugelassen.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Beklagte.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am ... 1964 geborene Kläger ist verheiratet und Vater dreier Kinder. Er steht seit dem 20.09.1993 in einem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu einem monatlichen Bruttoentgelt von zuletzt EUR 1.950,00.

Am 26.04.2005 erlitt er einen Arbeitsunfall und ist zumindest seit Herbst 2006 wegen Schulterschmerzen arbeitsunfähig krank geschrieben worden.

Am 14.02.2007 teilte ihm ein Betriebsratsmitglied telefonisch mit, dass die Beklagte beabsichtige, ihm zu kündigen.

Am 10.04.2007 erfuhr er über einen Mitarbeiter der Personalabteilung der Beklagten, dass die Beklagte bereits am 25.02.2007 eine ordentliche Kündigung ausgesprochen und - nach deren Behauptung am gleichen Tage - per Kurier in seinen Briefkasten geworfen habe. Der Kläger hat daraufhin am 10.04.2007 Kündigungsschutzklage erhoben und einen Antrag auf nachträgliche Zulassung der verspäteten Klage gestellt mit der Behauptung, ein Kündigungsschreiben nie erhalten zu haben. Trotz Belehrung und Ermahnung seiner Familienangehörigen am 14.02.2007 hätten diese täglich den Briefkasten geleert, aber ausschließlich eine Gehaltsabrechnung der Beklagten vorgefunden.

Das Arbeitsgericht hat mit Beschluss vom 31.10.2007 den Antrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage zurückgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird auf die entsprechenden Ausführungen im angegriffenen Beschluss verwiesen. Gegen diesen am 08.11.2007 zugestellten Beschluss wehrt sich der Kläger mit seiner sofortigen Beschwerde vom 09.11.2007.

Das Arbeitsgericht hat nach Verkündung des angegriffenen Beschlusses vom 31.10.2007 am 19.03.2008 Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen S. und H. über die Behauptung der Beklagten, das Kündigungsschreiben sei noch am Ausstellungstag in den Briefkasten des Klägers geworfen worden, sowie durch Vernehmung der Zeuginnen M., M. und C. M. über die Behauptung des Klägers, diese seien mit Rücksicht auf das erwartete Kündigungsschreiben vom Kläger belehrt worden und sie hätten ein Kündigungsschreiben in der Zeit ab dem 15.02.2007 nicht im Briefkasten vorgefunden. Hinsichtlich des Beweisergebnisses wird auf Abl. 117ff verwiesen.

Entscheidungsgründe:

1. Die fristgerecht eingelegte Beschwerde des Klägers ist begründet.

a. Die Beschwerde ist mit Wirkung ab dem 01.04.2008 so zu beurteilen, als handele es sich bei dem angegriffenen Beschluss vom 31.10.2007 um ein Zwischen-Urteil und bei der eingelegten Beschwerde um eine Berufung. Dies folgt aus der Änderung von § 5 Abs. 4 des Kündigungsschutzgesetzes durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (Bundesgesetzblatt S. 444ff).

Die mit Wirkung vom 01.04.2008 ohne Übergangsregelung in Kraft gesetzte Regelung hat folgenden Wortlaut:

"Das Verfahren über den Antrag auf nachträgliche Zulassung ist mit dem Verfahren über die Klage zu verbinden. Das Arbeitsgericht kann das Verfahren zunächst auf die Verhandlung und Entscheidung über den Antrag beschränken. In diesem Falle ergeht die Entscheidung durch Zwischen-Urteil, die wir ein End-Urteil angefochten werden kann."

Nach den herkömmlichen Grundsätzen eines "intertemporalen Prozessrechtes" ist daher über die Beschwerde nicht mehr durch Beschluss ohne mündlichen Verhandlung durch den Vorsitzenden allein, sondern aufgrund mündlicher Verhandlung vor der Kammer durch Urteil zu entscheiden, es sei denn, die Parteien hätten sich, wie vorliegend geschehen, mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.

Neue Verfahrensregelungen sind nur dann auf nicht schwebende Verfahren anzuwenden, wenn dies ausdrücklich durch Übergangsbestimmung angeordnet ist (Musielack, ZPO 4. Auflage, Einleitung Randziffer 13; Stein-Jonas ZPO 22. Auflage, Randziffer 4 zu § 1 EGZPO).

b. Der Kläger hat den Antrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage binnen 14 Tagen ab Behebung des Hindernisses gestellt. Das Hindernis ist erst weggefallen, nachdem er am 10.04.2007 von der Personalabteilung der Beklagten erfahren hat, dass das Kündigungsschreiben bereits am 15.02.2007 in den Briefkasten des Klägers gelangt sein soll.

Am gleichen Tage hat er Kündigungsschutzklage erhoben verbunden mit dem Antrag auf nachträgliche Zulassung.

c. Die Tatfrage des Zugangs einer Kündigung ist begrifflich zu trennen von der wertenden Entscheidung, ob ein verschuldetes oder unverschuldetes Hindernis zur rechtzeitigen Erhebung einer Kündigungsschutzklage vorlag. Wenngleich im Einzelfall Überschneidungen möglich sind, hat dennoch das eine mit dem anderen begrifflich nichts zu tun.

Die vom Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung eines Arbeitsverhältnisses setzt seit dem 01.05.2000 für die Wirksamkeit gemäß § 623 BGB die Einhaltung der Schriftform von § 126 Abs. 1 BGB voraus. Die schriftliche Kündigung ist eine sogenannte verkörperte Willenserklärung. Deren Zugang richtet sich gemäß § 130 BGB danach, ob sie dem Adressaten zugegangen ist. Nach der allgemeinen, auch für den Zugang schriftlicher Kündigungserklärungen geltenden Definition des Bundesarbeitsgerichtes ist dies der Fall, sobald sie "in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers bzw. eines Empfangsberechtigten gelangt ist und für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von dem Inhalt des Schreibens Kenntnis zu nehmen". Soweit für den Empfänger diese Möglichkeit besteht, ist es unerheblich, ob und wann er die Erklärung tatsächlich zur Kenntnis genommen hat (HaKo-Fiebig 3. Aufl. Kündigungsschutzrecht, Einleitung Rndz. 36 und 37 m. w. N.).

Der Zugang einer schriftlichen Kündigung ist bereits dann bewirkt, wenn das Schreiben in den Briefkasten des Arbeitnehmers eingeworfen ist. Der Zugangszeitpunkt richtet sich danach, wann nach der Verkehrsauffassung mit der Leerung des Kastens zu rechnen ist, d. h. grundsätzlich im Anschluss in die ortsübliche Postzustellzeit. Mit diesem Zeitpunkt beginnt die dreiwöchige Frist für die Erhebung der Kündigungsschutzklage.

Hiervon zu trennen ist die weitere Tatfrage, ob überhaupt ein Hindernis zur rechtzeitigen Klagerhebung bestanden hat.

Im Falle des Zugangs eines Kündigungsschreibens durch Einwurf in den Briefkasten des Adressaten liegt ein Hindernis häufig in objektiven Gegebenheiten, etwa in einer schweren Erkrankung des Arbeitnehmers (z. B. Gehirnerschütterung, Koma, Wirbelsäulenfraktur oder ähnliches, KR-Friedrich 8. Aufl. § 5 Rndz. 46,47), sofern sie ihn handlungsunfähig macht.

Das Hindernis kann jedoch auch allein subjektiver Natur sein. Wer tatsächlich keine Kenntnis davon erlangt, dass das Kündigungsschreiben in seinen Machtbereich gelangt ist, etwa weil es ihm von Familienangehörigen - etwa zu seiner Schonung - ausdrücklich vorenthalten wird, ist objektiv zwar an der Klagerhebung gehindert, aber es stellt sich die Frage eigenen Verschuldens und gegebenenfalls auch die der Zurechnung des Verschuldens des Familienmitgliedes.

In der Regel muss der Inhaber eines Hausbriefkastens nämlich Vorsorge dafür treffen, dass die für ihn bestimmten und eingeworfenen Briefe auch zu seiner Kenntnis gelangen (KR-Friedrich a. a. O. Rndz. 58). Wenn der Inhaber des Briefkastens die täglich zu erfolgende Leerung einer anderen Person, insbesondere einem Familienangehörigen, überlässt, muss er Vorsorge dafür treffen, dass ihm die Sendungen auch tatsächlich unverzüglich ausgehändigt werden. Zu diesem Zwecke hat er die Hilfspersonen ausdrücklich anzuhalten, dies gewissenhaft zu erfüllen, sie entsprechend zu belehren und sich zu vergewissern, ob dies auch eingehalten wird. Unterlässt er dies und führt eine verzögerte oder unterlassene Leerung bzw. Weiterreichung des geleerten Briefkastens zu einer Versäumung der Dreiwochenfrist, handelt der Adressat und Inhaber des Briefkastens unter Umständen schuldhaft. In diesem Fall ist er nicht, wie es § 5 Abs. 1 KSchG vorsieht, "trotz Anwendung aller ihm nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert", die Kündigungsschutzklage rechtzeitig binnen dreier Wochen nach Zugang der Kündigung zu erheben. Ein entsprechender Zulassungsantrag nach § 5 KSchG wäre in diesem Falle unbegründet.

d. Im vorliegenden Fall hat der Kläger durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemacht, gerade wegen der über den Betriebsrat erfolgten Ankündigung einer bevorstehenden Kündigung diejenigen Familienangehörigen, die für die Leerung des Briefkastens nach der familiären Hausordnung zuständig waren, mündlich "vergattert" zu haben; gleichwohl hätten sie bei der täglich durchgeführten Leerung keinen Briefumschlag der Beklagten mit darin enthaltener Kündigung im Briefkasten vorgefunden.

Damit hat der Kläger Tatsachen glaubhaft gemacht, welche einer verschuldeten Unkenntnis entgegenstehen.

Auf die Beweiserhebung des Arbeitsgerichtes zum Zugang kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Die Glaubhaftmachung ist eine privilegierte Form der Beweisführung, sie ist analog den obigen Ausführungen nicht zu vermengen mit einer Beweisaufnahme zum Zwecke des Hauptbeweises des Zugangs der Kündigung, da das Beweismaß der Glaubhaftmachung gemäß § 294 ZPO ein anderes ist. Selbst wenn die Aussagen der vom Kläger benannten Zeugen als präsente Beweismittel im Zusammenhang mit dem Verfahren nach § 5 KSchG verwertet würden, so würden sie den Beweiswert der eidesstattlichen Versicherung des Klägers bestätigen. Die von der Beklagten benannten Zeugen konnten nur zur Frage des Zuganges des Kündigungsschreibens eine Aussage treffen; ihre Aussagen erschüttern jedenfalls den Beweiswert der eidesstattlichen Versicherung des Kläger nicht..

Zu Unrecht wurde dem Kläger im angegriffenen Beschluss des Arbeitsgerichtes entgegengehalten, er habe keine konkreten Tatsachen geschildert, aus denen folge, weswegen das Kündigungsschreiben trotz Einwurfes in den Briefkasten ihm ohne eigenes Verschulden nicht vorgelegt wurde. Damit wurde dem Kläger ohne überzeugende Begründung der Beweis einer "negativen Tatsache" auferlegt. Eine solche Beweislastzuschiebung wäre jedoch nur dann angebracht, wenn das materielle Recht das Nichtvorliegen von Tatsachen ausdrücklich verlangt oder wenn sonst nach den konkreten Gegebenheiten des Rechtsstreites das Nichtvorliegen eines Umstandes bewiesen werden muss. Den besonderen Schwierigkeiten, etwas zu beweisen, was nicht geschehen ist, kann allenfalls durch Modifizierung der Darlegungslast Rechnung getragen werden (Zöller-Greger, 26. Aufl. Rndz. 24 vor § 284 ZPO), sofern nicht der Negativbeweis überhaupt für unzulässig gehalten wird.

Letztlich kann dies wohl offen bleiben, weil die Rechtsansicht des Arbeitsgerichtes wohl nur dann zutreffend wäre, wenn nur eine einzige Möglichkeit für ein versehentliches Verschwinden des Schreiben zwischen Leerung und möglicher Kenntnisnahme bestanden hätte und wenn zusätzlich diese Konstellation einzig der Erkenntnissphäre des Klägers zuzuordnen wäre. In diese Richtung zielt wohl die Begründung des Arbeitsgerichtes, soweit es vermutet, das Kündigungsschreiben sei versehentlich in eine Werbebroschüre gerutscht und weggeworfen worden. Jedoch ist dies keineswegs die einzig denkbare Ursache für das Verschwinden. Begrifflich ist beispielsweise die weitere Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass eine unbefugte Person - etwa mittels Nachschlüssel oder einem sonstigen Hilfsmittel - den Inhalt des Briefkastens vor Öffnung durch einen Familienangehörigen geleert hat. Es widerspricht keineswegs jeder Lebenserfahrung, dass mitunter auch Briefsendungen von unbefugter Seite (etwa von Kindern) auf diese Weise gestohlen werden.

Es wäre absurd vom Kläger zu verlangen, glaubhaft zu machen, dass eine solche - ihm naturgemäß unbekannte - Situation bestanden haben könnte; potentielles Geschehen kann nun mal nicht glaubhaft gemacht werden. Es reichte die Glaubhaftmachung aus, wonach weder er persönlich noch die erwähnten Familienangehörigen das Schreiben bei Öffnung des Kastens vorgefunden haben.

e. Soweit gegen dieses Ergebnis eingewandt wird, dies sei eine eher fernliegende und zu vernachlässigende Erwägung, weil sich damit ein Arbeitnehmer der Obliegenheit zur Einhaltung der Dreiwochenfrist leicht entziehen könne, ist entgegenzuhalten, dass zum einen eine falsche eidesstattliche Versicherung gemäß § 156 StGB unter Strafe steht und dass zum anderen der die Kündigung erklärende Arbeitgeber hierdurch keineswegs rechtlos gestellt wird, weil, wie die vorstehenden Ausführungen deutlich machen, der Zugang gemäß § 130 BGB wahrscheinlich erwiesen ist (was jedoch in diesem Zusammenhang offen bleiben muss) und dem Arbeitgeber nur zugemutet wird, die soziale Rechtfertigung der Kündigung der gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.

3. Die Zulassung der Revision ist nicht veranlasst.

Ende der Entscheidung

Zurück