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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 15.02.2001
Aktenzeichen: 21 Sa 86/00
Rechtsgebiete: ArbGG, ZPO


Vorschriften:

ArbGG § 64 Abs. 1
ArbGG § 64 Abs. 2
ZPO § 280 Abs. 2 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
21 Sa 86/00

verkündet am 15. Februar 2001

In dem Rechtsstreit

pp.

In dem Rechtsstreit

hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - 21. Kammer - durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Leicht,den ehrenamtlichen Richter Haugund den ehrenamtlichen Richter Dr. jur. von Rosenbergauf die mündliche Verhandlung vom 01.02.2001für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Zwischenurteil des Arbeitsgerichts Reutlingen vom 24.08.2000 - Aktenzeichen 1 Ca 101/00 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.2. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten in einem Verfahren, in dem der Kläger Ansprüche auf Vergütung und auf Ausfüllung und Herausgabe einer Lohnsteuerkarte geltend macht, über die internationale Zuständigkeit.

Der in Dresden wohnhafte Kläger war bei der Beklagten, die ihren Sitz in B. (Kanton Tessin) in der Schweiz hat, in der Zeit vom 01.10.1999 bis 10.12.1999 als Fachmonteur beschäftigt. Im schriftlichen Arbeitsvertrag vom 07.10.1999, wegen dessen Inhalt auf Blatt 10 bis 15 der erstinstanzlichen Akte verwiesen wird, vereinbarten die Par-teien unter anderem die Anwendung deutschen Rechts. Der Kläger arbeitete während der Vertragszeit bei der Beklagten, die in Deutschland keine Niederlassung hat, auf zwei Baustellen. Er war vom 04.10.1999 bis zum 17.11.1999, am 19.11.1999 und vom 29.11.1999 bis 02.12.1999 auf der Baustelle "Personalkasino Schnarrenberg" in Tübingen (Arbeitsgerichtsbezirk Reutlingen), dagegen am 18.11.1999 und vom 03.12.1999 bis 10.12.1999 beim Bauvorhaben "Württembergi-sche Versicherung" in Böblingen (Arbeitsgerichtsbezirk Stuttgart) eingesetzt. In der Zeit vom 22.11.1999 bis 26.11.1999, in welcher der Kläger in Böblingen arbeiten soll-te, war er arbeitsunfähig. Die Beklagte war auf der Baustelle in Tübingen durch einen Baustellenleiter vertreten, der zusammen mit einem Vorarbeiter dem Kläger Arbeitsanweisungen gab. Die einzelnen Arbeitsnachweise und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen schickte der Kläger an den Firmensitz der Beklagten in die Schweiz. Dorthin teilte er auch telefonisch seine Arbeitsunfähigkeit mit. Den Oktoberlohn bezahlte die Beklagte per Überweisung an den Kläger.

Mit der am 29.02.2000 beim Arbeitsgericht Reutlingen eingereichten Klage hat der Kläger für die Monate November und Dezember 1999 Ansprüche auf Vergütung in Höhe von DM 4 204,20 brutto sowie auf Auslösung in Höhe von DM 1 224,0 netto, außerdem Ansprüche auf Ausfüllung und Herausgabe der Lohnsteuerkarte 1999 geltend gemacht. Die Beklagte hat die internationale Zuständigkeit des Arbeitsgerichts Reutlingen bestritten.

Das Arbeitsgericht hat in dem am 24.08.2000 verkündeten Zwischenurteil fest-gestellt, daß das Arbeitsgericht Reutlingen international zuständig ist. Es hat insbesondere ausgeführt, daß gemäß Artikel 5 Ziffer 1 des Lugano-Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 16.09.1988 (im folgenden: LugÜ) der Arbeitgeber vor dem Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, verklagt werden kann. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zu der insoweit gleichlautenden Norm des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.09.1968 (im folgenden: EuGVÜ) sei der Ort zu bestimmen, mit dem der Rechtsstreit die engste Verknüpfung aufweise. Bei verschiedenen Einsatzorten sei auf denjenigen Einsatzort abzustellen, an dem die Arbeitsleistung überwiegend erbracht worden sei. Da der Kläger für den Zeitraum des Arbeitsverhältnisses überwiegend in Tübingen eingesetzt worden sei, sei Tübingen Arbeitsort im Sinne des Artikels 5 Ziffer 1 LugÜ. Wegen der weiteren Begründung des Arbeitsgerichts wird auf Seite 3 und 4 des angefochtenen Urteils (Blatt 110 und 111 der erstinstanzlichen Akte) verwiesen.

Gegen dieses der Beklagten am 11.09.2000 zugestellte Urteil richtet sich die am 11.10.2000 eingelegte und am 13.11.2000 (einem Montag) ausgeführte Berufung der Beklagten. Zur Begründung der Berufung trägt die Beklagte insbesondere vor, daß (auch) das Lugano-Übereinkommen eine internationale Zuständigkeit des Arbeitsge-richts Reutlingen nicht begründe. Im vorliegenden Verfahren sei kein Ort ersichtlich, an dem der Kläger gewöhnlich seine Arbeit verrichtet habe (Artikel 5 Ziffer 1 LugÜ). Der Kläger habe auf mehreren Baustellen an verschiedenen Orten seine Arbeitsleistung erbracht. Bei ständig wechselnden Arbeitsorten gebe es keinen tatsächlichen Mittelpunkt der Berufstätigkeit. Der Kläger müsse seine Ansprüche am Sitz der Be-klagten in der Schweiz geltend machen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beklagten im zweiten Rechtszug wird auf den in der mündlichen Verhandlung in Bezug genommenen Schriftsatz vom 13.11.2000 (Blatt 18 bis 25 der Akten) verwiesen.

Die Beklagte beantragt,

das Zwischenurteil des Arbeitsgerichts Reutlingen, Aktenzeichen 1 Ca 101/00, vom 24.08.2000 abzuändern und die Klage als unzulässig abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hat auf die Berufung insbesondere erwidert, daß die internationale Zuständigkeit des Arbeitsgerichts Reutlingen gemäß Artikel 5 Ziffer 1 LugÜ begründet werde, da der Kläger während der Vertragszeit (überwiegend) auf einer Baustelle in Tübingen gearbeitet habe. Wegen des weiteren Vorbringens des Klägers wird auf den in der mündlichen Verhandlung in Bezug genommenen Schriftsatz vom 18.12.2000 (Blatt 44 bis 47 der Akten) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die gemäß § 64 Absatz 1 und 2 ArbGG in Verbindung mit § 280 Absatz 2 Satz 1 ZPO statthafte Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und innerhalb der Berufungsbegründungsfrist ordnungsgemäß ausgeführt worden (§§ 66 Ab-satz 1 Satz 1, 64 Absatz 6 Satz 1 ArbGG, §§ 518 Absatz 1 und 2, 519 Absatz 2 Satz 1, Absatz 3, 222 Absatz 2 ZPO). Bedenken an der Zulässigkeit der Berufung sind nicht veranlaßt.

II.

In der Sache hat die Berufung der Beklagten jedoch keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat zu Recht seine internationale Zuständigkeit bejaht. Hieran mag auch das Vorbringen der Beklagten im zweiten Rechtszug nichts zu ändern.

Die internationale Zuständigkeit des Arbeitsgerichts Reutlingen folgt im vorliegenden Verfahren aus Artikel 5 Ziffer 1 2. Halbsatz LugÜ vom 16.09.1988, der wie das ge-samte Lugano-Übereinkommen für die Bundesrepublik Deutschland am 01.03.1995 und für die Schweiz am 01.07.1997 in Kraft getreten ist. Zwar hatte die Schweiz vom Vorbehalt nach Artikel Ia lit. a des Protokolls Nr. 1 über bestimmte Zuständigkeits-, Verfahrens- und Vollstreckungsfragen Gebrauch gemacht; dieser Vorbehalt ist je-doch am 31.12.1999 unwirksam geworden. Nach Artikel 5 Ziffer 1 2. Halbsatz LugÜ kann ein Arbeitgeber bei Ansprüchen aus seinem Arbeitsvertrag "vor dem Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet" verklagt werden. Diese Vorschrift ist mit Artikel 5 Ziffer 1 2. Halbsatz EuGVÜ in der Fassung des 3. Beitrittsübereinkommens 1989 identisch, der seinerseits im wesentlichen die vorangegangene Rechtsprechung des EuGH kodifiziert hat (vergleiche Albers in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 57. Auflage Schlußanhang V C 1 Randziffer 12). Ziel dieser Regelung war es, dem wirtschaftlich schwächeren und sozial abhängigen Arbeitnehmer einen besonderen Schutz zu gewähren (Almeida Cruz/Desantes Real/Jenard-Bericht, ABl. EG vom 28.07.1990, Nr. C 189, 35 bis 56, Nr. 23). Die nachfolgende Rechtsprechung des EuGH zu Artikel 5 Ziffer 1 2. Halbsatz EuGVÜ hat diesen Normzweck aufgenommen. Im Urteil vom 09.01.1997 (Aktenzeichen C-383/95; AP Nr. 2 zu Artikel 5 Brüsseler Abkommen) hat der EuGH unter Be-rücksichtigung dieses Normzweckes entschieden, daß der Ort zu bestimmen sei, mit dem der Rechtsstreit die engste Verknüpfung aufweise (EuGH aaO, Gründe Nr. 22). An diesem Ort könne der Arbeitnehmer nämlich mit dem geringsten Kostenaufwand seinen Arbeitgeber verklagen oder sich als Beklagter vor Gericht zur Wehr setzen. Ferner sei das Gericht dieses Ortes aufgrund seiner Lage am besten zur Entscheidung eines Rechtsstreites befähigt, der den Arbeitsvertrag betreffe (EuGH aaO, Gründe Nr. 24). Die erkennende Kammer verkennt nicht, daß das Urteil des EuGH vom 09.01.1997 einen Sachverhalt entschieden hat, bei welchem der Arbeitnehmer in mehreren Vertragsstaaten seine Arbeitsleistung erbracht hat. Die ratio der Regelung für Arbeitsverträge in Artikel 5 Nr. 1 2. Halbsatz LugÜ gilt jedoch auch in dem Fall, daß ein Arbeitnehmer an mehreren Orten in einem Vertragsstaat seine Arbeits-leistung erbracht hat. Es ist deshalb anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles derjenige Ort zu ermitteln, an dem der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber dem Arbeitgeber gewöhnlich oder hauptsächlich erfüllt hat. Nach der Rechtsprechung des EuGH, der sich die erkennende Kammer anschließt, ist der gewöhnliche Ort im Sinne des Artikels 5 Absatz 1 2. Halbsatz LugÜ mit dem hauptsächlichen Arbeitsort gleichzusetzen (Albers in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, aaO, Randziffer 12; Musielak-Weth, ZPO, 2. Auflage, EuGVÜ Artikel 5 Randziffer 12; Holl, der Gerichtsstand des Erfüllungsortes nach Artikel 5 Nr. 1 EuGVÜ bei individuellen Arbeitsverträgen, IPRax 1997, 90; a. A.: Mankowski EWiR 97, 222). Der Begriff des hauptsächlichen oder gewöhnlichen Arbeitsortes ist extensiv auszulegen, denn im Gegensatz zum arbeitgebernahen Gerichtsstand der einstellenden Niederlassung (Artikel 5 Ziffer 1 3. Halbsatz LugÜ trägt dieser dem zuständigkeitsrechtlichen Inte-resse des Arbeitnehmers in besonderer Weise Rechnung (Holl aaO Seite 90). Eine extensive Auslegung ist im vorliegenden Fall schon deshalb geboten, weil die Parteien die Anwendung deutschen Rechts vereinbart hatten und der Kläger nach dem Arbeitsvertrag nur im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt werden sollte. Nach dem Parteiwillen sollte deshalb der Gerichtsstand des Erfüllungsortes nach Artikel 5 Nr. 1 LugÜ in der Bundesrepublik Deutschland liegen.

Im hier zu entscheidenden Streitfall kann dahingestellt bleiben, wie der gewöhnliche Arbeitsort zu bestimmen ist, wenn ein Arbeitnehmer nacheinander an vielen Arbeitsorten (hier: Baustellen) in verschiedenen Gerichtsbezirken gleichgewichtig eingesetzt wird. Jedenfalls bei dem hier zu entscheidenden Sachverhalt ist während der kurzen Vertragsdauer ein tatsächlicher Mittelpunkt der Arbeitsleistung und damit der gewöhnliche Arbeitsort festzustellen. Von den 50 Arbeitstagen im Zeitraum 01.10.1999 bis 10.12.1999 arbeitete der Kläger an 38 Arbeitstagen in Tübingen, die restlichen Tage war er in Böblingen eingesetzt oder arbeitsunfähig. Insgesamt war der Kläger also zu 76 % seiner Arbeitszeit in Tübingen eingesetzt (und demnach prozentual noch mehr als in dem von EuGH am 09.11.1997 entschiedenen Fall). Da beim vorliegenden Sachverhalt der gewöhnliche Arbeitsort im Sinne des Artikels 5 Ziffer 1 2. Halbsatz LugÜ Tübingen ist, kann die Beklagte beim für Tübingen zuständigen Arbeitsgericht Reutlingen verklagt werden. Die Berufung der Beklagten war deshalb zurückzuweisen.

III.

1. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Absatz 1 ZPO.

2. Die Kammer mißt der Rechtssache - wie die 2. Kammer des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg in dem Parallelverfahren mit dem Aktenzeichen 2 Sa 49/00, 1 Ca 102/00 (Arbeitsgericht Reutlingen) - grundsätzliche Bedeutung bei und hat daher die Revision zugelassen (§ 72 Absatz 2 Nr. 1 ArbGG).

Ende der Entscheidung

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