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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin
Urteil verkündet am 27.05.2004
Aktenzeichen: 13 Sa 313/04
Rechtsgebiete: KSchG, BetrVG


Vorschriften:

KSchG § 15 Abs. 1 Satz 1
KSchG § 15 Abs. 3 Satz 1
BetrVG § 103
Die §§ 15 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 KSchG in Verbindung mit § 103 BetrVG über den besonderen Kündigungsschutz für Mitglieder des Wahlvorstandes, Wahlbewerber und Betriebsratsmitglieder sind jedenfalls dann leges speziales gegenüber dem Auflösungsantrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG, wenn der Auflösungsantrag auf ein Verhalten des Arbeitnehmers nach Erlangung der Funktion als Wahlvorstand für die Betriebsratswahl, Wahlbewerber für die Betriebsratswahl und Betriebsratsmitglied gestützt wird.
Landesarbeitsgericht Berlin Im Namen des Volkes Urteil

13 Sa 313/04

Verkündet am 27.05.2004

In Sachen

pp

hat das Landesarbeitsgericht Berlin, 13. Kammer, auf die mündliche Verhandlung vom 27.05.2004 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Fenski als Vorsitzenden sowie die ehrenamtlichen Richter Herrn Bräuer und Herrn Horsch

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Der Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 15.10.2003 - 36 Ca 14460/03 - wird auf ihre Kosten bei einem Streitwert von 3.100,58 € in der II. Instanz zurückgewiesen.

II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten in zweiter Instanz nur noch um die Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf Antrag der Arbeitgeberin sowie um die vorläufige Weiterbeschäftigung des Klägers. Rechtskräftig ist die Feststellung des Arbeitsgerichts Berlin geworden, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristgemäße Kündigung der Beklagten vom 23. Mai 2003 nicht beendet worden ist.

Der in der N.str. 34 in Berlin wohnhafte Kläger ist seit dem 20. September 1999 bei der Beklagten, die ein S.heim in Berlin betreibt, gegen ein Bruttoentgelt von zuletzt 1.550,29 Euro als Krankenpfleger beschäftigt. Er ist Mitglied der V. ...gewerkschaft e.V. (v.).

Am 21. Mai 2003 übersandte Herr M., ein hauptamtlicher Mitarbeiter der Gewerkschaft v., der Beklagten Einladungen zu einer Betriebsversammlung zur Wahl eines Wahlvorstandes für die Durchführung von Betriebsratswahlen im Betrieb der Beklagten am 28. Mai 2003 in den Räumen der Gewerkschaft. In den folgenden Tagen führte er mit dem von der Beklagten mit der Wahrung ihrer Interessen beauftragten Rechtsanwalt Herrn S. einen Schriftwechsel bezüglich der Berechtigung der Gewerkschaft v., zu einer solchen Betriebsversammlung in ihren Räumen einzuladen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Ablichtung der Schreiben vom 21. Mai 2003 und 26. Mai 2003 (Bl. 91, 93 und 94 d.A.) Bezug genommen. Während einer Mitarbeiterversammlung am 23. oder 26. Mai 2003 äußerte sich der Geschäftsführer der Beklagten gegenüber den Beschäftigten wie folgt: Arbeitnehmer, welche am 28. Mai 2003 während ihrer Dienstzeit an der Wahl des Wahlvorstandes teilnehmen, müssten mit einer Abmahnung bzw. einer fristlosen Kündigung rechnen. V. sei zur Mithilfe der Betriebsratsgründung nicht legitimiert. Die Betriebsratsgründung sei Männersache. Männer, die im Leben nichts erreicht hätten, könnten sich in ihrer Aufgabe als Betriebsrat profilieren. Der Betriebsrat gefährde Arbeitsplätze. Am 25. Mai 2003 wies Herr M. der Beklagten durch eine am 17. Mai 2003 notariell beurkundete eidesstattliche Versicherung nach, dass die Gewerkschaft v. im Betrieb der Beklagten mindestens mit einem Mitglied vertreten ist. Der Kläger wurde am 28. Mai 2003 in den Wahlvorstand gewählt.

Im Vorfeld der Wahl äußerte die Heimleiterin der Beklagten, Frau G., gegenüber dem Wahlvorstand, dass sie beabsichtige, während der gesamten Wahl im Wahllokal anwesend zu sein, und ließ sich hiervon auch nicht durch Hinweis auf eine unzulässige Wahlbeeinflussung abbringen. Am Vorabend der Betriebsratswahlen, dem 29. Juli 2003, wandte sich der Kläger telefonisch an die Polizei. Der Inhalt des Telefonats ist zwischen den Parteien streitig. Am Tag der Wahl, dem 30. Juli 2003, erschien ein Polizeibeamter im Betrieb der Beklagten, um nach dem Rechten zu sehen. Der Kläger, der selbst kandidiert hatte, wurde in den Betriebsrat gewählt und ist seit dem 6. August 2003 dessen Vorsitzender.

Mit Schreiben vom 23. Mai 2003, welches dem Kläger am 26. Mai 2003 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 30. Juni 2003, stellte ihn unter Anrechnung von Urlaubs- und Freizeitausgleichsansprüchen mit sofortiger Wirkung frei und wies darauf hin, dass er das S.heim und das dazugehörige Grundstück nur noch nach vorheriger Anmeldung und in Begleitung der Heim- oder Pflegedienstleitung betreten dürfe. In der Folgezeit meldete die Beklagte den Kläger bei der Krankenkasse ab.

Mit der beim Arbeitsgericht Berlin am 2. Juni 2003 eingegangenen, der Beklagten am 16. Juni 2003 zugestellten Klage hat sich der Kläger gegen die Kündigung vom 23. Mai 2003 gewandt und die Beklagte auf vorläufige Weiterbeschäftigung in Anspruch genommen.

Mit Schreiben vom 11. Juni 2003 erteilte der Verwaltungsbeirat der Eigentümergemeinschaft N.str. 33 bis 34 der Heimleiterin Frau G. und den von ihr beauftragten Erfüllungsgehilfen ein Hausverbot und drohte für den Fall der Missachtung des Hausrechts strafrechtliche Konsequenzen an. Wegen der Einzelheiten des Schreibens wird auf dessen Ablichtung (Bl. 39 d.A.) verwiesen.

Im Rahmen der Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht Berlin am 4. Juli 2003 forderte die Beklagte den Kläger auf, am 7. Juli 2003 seine Arbeit als Nachtwache wieder aufzunehmen. Der Kläger erklärte sich damit einverstanden. Am 7. Juli 2003 meldete er sich um 11.59 Uhr arbeitsunfähig krank und war in den folgenden zehn Wochen mehrfach durch verschiedene Ärzte arbeitsunfähig krankgeschrieben. Wegen der Einzelheiten der Arbeitsunfähigkeitszeiten wird auf Seite 9 f. und Seite 13 des Schriftsatzes vom 24. Juli 2003 (Bl. 24 f. und 28 d.A.), auf Seite 8 ff. des Schriftsatzes vom 17. September 2003 (Bl. 87 ff. d.A.) sowie auf Seite 1 des Schriftsatzes vom 19. September 2003 (Bl. 100 d.A.) verwiesen. Eine von der Beklagten veranlasste Untersuchung des Klägers vom Medizinischen Dienst der B. Ersatzkasse am 15. Juli 2003 fand nicht statt. Die Gründe hierfür sind zwischen den Parteien streitig.

Der Kläger hat gemeint, er genieße nach § 15 Abs. 3 a KSchG besonderen Kündigungsschutz. Er hat behauptet, der Beklagten sei bekannt gewesen, dass die Einladung zu der Betriebsversammlung am 28. Mai 2003 auch auf seine Initiative zurückgegangen sei. Herr M. habe sich bei der Beklagten telefonisch nach dem Eingang des Einladungsschreibens erkundigt und bei dieser Gelegenheit geäußert, dass die Einladung auf Anregung des Klägers erfolgt sei. Nachdem Herr Rechtsanwalt S. angezeigt habe, dass er die Interessen der Beklagten vertrete und einen Nachweis dafür verlangt habe, dass v. im Betrieb der Beklagten vertreten sei, habe Herr M. Herrn S. telefonisch mitgeteilt, dass er, der Kläger, Gewerkschaftsmitglied sei. Am 23. Mai 2003 habe die Qualitätsbeauftragte der Beklagten, Frau B. sich bei einer Mitarbeiterin telefonisch erkundigt, wer hinter der Initiative zur Gründung eines Betriebsrates stehe und seinen Namen ins Spiel gebracht. Er meint, zudem sprächen die Äußerungen des Geschäftsführers der Beklagten auf der Mitarbeiterversammlung dafür, dass der Beklagten seine Rolle bekannt gewesen sei.

Der Kläger hat beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 23. Mai 2003 nicht aufgelöst worden ist;

2. im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. die Beklagte zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Krankenpfleger weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen, hilfsweise das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung, die 2.907,-- Euro nicht überschreiten sollte, aufzulösen.

Der Kläger hat beantragt,

den Auflösungsantrag zurückzuweisen.

Hinsichtlich des Auflösungsantrages hat die Beklagte gemeint, das Verhalten des Klägers nach der Güteverhandlung am 4. Juli 2003 zeige, dass er sich von seiner gegenüber ihr und den Bewohnerinnen und Bewohnern übernommenen Verantwortung verabschiedet habe und eine weitere Zusammenarbeit ohne Betriebsablaufstörungen nicht mehr möglich sei. Das von der Eigentümergemeinschaft erteilte Hausverbot könne nur darauf gerichtet sein, den Zugang weiterer Willenserklärungen zu vereiteln. Sie behauptet, der Kläger habe am 14. Juli 2003 beim Medizinischen Dienst der Krankenkasse angerufen und mitgeteilt, dass er nicht mehr arbeitsunfähig sei und noch an dem selben Tag seinen Dienst bei der Beklagten antreten werde. Eine Untersuchung erübrige sich deshalb. Am 16. Juli 2003 habe sie erfahren, dass bei der Krankenkasse jemand angerufen und die Ansicht vertreten habe, sie habe nicht das Recht einen Untersuchungstermin zu beantragen, das Arbeitsverhältnis sei beendet, der Kläger habe sich arbeitslos gemeldet. Am 29. Juli 2003 habe der Kläger gegenüber der Polizei behauptet, es sei bei den Betriebsratswahlen am nächsten Tag mit Randale zu rechnen und die Polizei gebeten, sich darum zu kümmern. Sie meint, spätestens hierdurch sei das Vertrauensverhältnis zum Kläger gänzlich zerstört.

Das Arbeitsgericht Berlin hat mit Urteil vom 15. Oktober 2003 der Klage stattgegeben und den Auflösungsantrag der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass es umstritten sei, ob gegenüber einem Mitglied des Wahlvorstandes, einem Wahlbewerber oder einem Betriebsratsmitglied ein Auflösungsantrag nach § 9 KSchG gestellt werden könne. Nach einer Entscheidung des BAG vom 7. Dezember 1972 (- 2 AZR 235/72 - BAGE 24, 468 ff. = AP Nr. 1 zu § 9 KSchG 1969) könnte ein derartiger Auflösungsantrag nur durchdringen, wenn Gründe vorliegen, die geeignet seien, eine fristlose Kündigung im Sinne von § 626 BGB zu rechtfertigen. Derartige Gründe lägen hier nicht vor. Der Kläger habe weder seine Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht noch könne ihm das von dem Verwaltungsbeirat der Eigentümergemeinschaft N.str. 33 bis 34 gegenüber der Beklagten erteilte Hausverbot zugerechnet werden. Schließlich stelle auch der Anruf des Klägers bei der Polizei am Abend vor den Betriebsratswahlen unabhängig davon, ob die Behauptung der Beklagten oder die des Klägers zum Inhalt des Telefonats zutreffe, kein grob treuwidriges Verhalten des Klägers dar. Zum einen sei der Kläger als Wahlvorstandsmitglied für den ordnungsgemäßen Ablauf der Betriebsratswahl verantwortlich gewesen. Zum anderen habe er in der mündlichen Verhandlung plausibel dargelegt, dass er mit einer Beeinflussung der Wahl durch die Heimleiterin Frau G. habe rechnen müssen, ohne dass die Beklagte dem entgegengetreten sei.

Wegen der weiteren konkreten Begründung des Arbeitsgerichts und des Vortrags der Parteien in der ersten Instanz wird auf das arbeitsgerichtliche Urteil Bl. 110 bis 126 d.A. verwiesen.

Gegen dieses ihr am 9. Januar 2004 zugestellte Urteil richtet sich die beim Landesarbeitsgericht Berlin am 9. Februar 2004 eingegangene und am 9. März 2004 begründete Berufung der Beklagten.

Sie greift das Urteil nur hinsichtlich der Auflösung und der Weiterbeschäftigung des Klägers an und wiederholt und vertieft ihren Vortrag erster Instanz zu den Auflösungsgründen Vortäuschen der Arbeitsunfähigkeit, Hausverbot durch die Eigentümergemeinschaft N.str. 33 bis 34 und Anruf bei der Polizei am Vorabend der Betriebsratswahl. Ferner weist sie darauf hin, dass der Kläger in der ersten Instanz die Unwahrheit hinsichtlich des besonderen Kündigungsschutzes nach § 15 Abs. 3 a KSchG gesagt habe, da nicht er, sondern die Gewerkschaft v. zur Wahlversammlung eingeladen habe. Der Name des Klägers sei im Vorfeld der Wahl nie gefallen. Auch in zwei weiteren Fällen im Verfahren 79 Ca 22959/03 des Arbeitsgerichts Berlin habe er hinsichtlich der Erfüllung von Forderungen die Unwahrheit gesagt.

Die Beklagte beantragt,

unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils das Arbeitsverhältnis der Parteien durch Zahlung einer angemessenen Abfindung mit Wirkung zum 30. Juni 2003 aufzulösen und die Klage insoweit abzuweisen, als die Beklagte zur Weiterbeschäftigung des Klägers bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreites zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Krankenpfleger verurteilt worden ist.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil und vertieft ebenfalls seinen Vortrag zu den oben genannten Auflösungsgründen. Zur Behauptung des unwahren Vortrags trägt er vor, dass er zwangsläufig davon habe ausgehen müssen, dass sein Name auch der Beklagtenseite durch die Einladung zur Betriebsversammlung bekannt gewesen sei, da im Zusammenhang mit dem umfangreichen Briefwechsel zwischen der Gewerkschaft v. und der Beklagten die Beklagte gezielt nur ihm gegenüber Maßnahmen durch die Kündigung vom 23. Mai 2003 ergriffen habe. Unwesentlich sei in diesem Zusammenhang, durch wen die Beklagtenseite Kenntnis vom Namen des Klägers erhalten habe. Tatsache sei jedoch, dass die Beklagtenseite ausschließlich davon ausgegangen sei, dass der Kläger beabsichtige, einen Betriebsrat bei der Beklagten einzurichten.

Wegen des weiteren Vortrags der Parteien in der zweiten Instanz wird auf die Schriftsätze der Beklagten vom 9. März 2004 (Bl. 152 ff. d.A.) und 24. Mai 2004 (Bl. 186 ff. d.A.) und des Klägers vom 16. April 2004 (Bl. 168 ff. d.A.) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die gemäß §§ 8 Abs. 2; 64 Abs. 1, Abs. 2 c, Abs. 6; 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG; §§ 519; 520 Abs. 1 und Abs. 3 ZPO zulässige Berufung ist insbesondere formgerecht und fristgemäß eingelegt und begründet worden.

II.

In der Sache hat die Berufung der Beklagten jedoch keinen Erfolg. Ein Auflösungsantrag der Arbeitgeberin ist nicht statthaft, so dass dem Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers zu entsprechen war. Denn die §§ 15 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 KSchG in Verbindung mit § 103 BetrVG über den besonderen Kündigungsschutz für Mitglieder des Wahlvorstandes, Wahlbewerber und Betriebsratsmitglieder sind jedenfalls dann leges speziales gegenüber dem Auflösungsantrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG, wenn der Auflösungsantrag auf ein Verhalten des Arbeitnehmers nach Erlangung der Funktion als Wahlvorstand für die Betriebsratswahl, Wahlbewerber für die Betriebsratswahl und Betriebsratsmitglied gestützt wird.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, dem die erkennende Kammer folgt, ist in den Fällen, in denen eine Kündigung nicht nur sozialwidrig, sondern auch wegen des Verstoßes gegen eine Schutznorm zugunsten des Arbeitnehmers unwirksam ist, ein Auflösungsantrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG nicht statthaft. Die Lösungsmöglichkeit nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG bedeutet für den Arbeitgeber eine Vergünstigung, die nur in Betracht kommt, wenn eine Kündigung "nur" sozialwidrig und nicht auch aus anderen Gründen, etwa wegen eines nicht durchgeführten Zustimmungsersetzungsverfahrens nach § 103 BetrVG, nichtig ist (so ausdrücklich für den Fall eines Wahlvorstandes, der am 29. Juli 1976 gewählt wurde und am 6. August 1976 gekündigt wurde, BAG 09.10.1979 - 6 AZR 1059/77 - BAGE 32, 122 ff.; vgl. ferner BAG 10.11.1994 - 2 AZR 207/94 - EzA § 9 KSchG n.F. Nr. 43, zu II. 2 der Gründe; BAG 21.09.2000 - 2 AZN 576/00 - BAGE 95, 348 = EzA § 9 KSchG n.F. Nr. 44; BAG 10.10.2002 - 2 AZR 240/01 - EzA a.a.O., Nr. 46, zu B II 1 der Gründe).

2. Dies kann in den Fällen nicht anders gesehen werden, in denen zum Zeitpunkt des Kündigungszuganges, hier 26. Mai 2003, zwar noch kein besonderer Kündigungsschutz nach § 103 BetrVG bestand, dieser aber kurz nach dem Kündigungszugang eintrat und der Auflösungsantrag auf Gründe gestützt wird, die sämtlich nach Eintritt des Schutzes nach § 103 BetrVG liegen.

a) Dabei ist es zutreffend, dass nach dem Wortlaut des § 103 BetrVG der Betriebsrat bzw. das Arbeitsgericht nur einer außerordentliche Kündigung oder einer Versetzung zustimmen muss, der Auflösungsantrag ist in § 103 BetrVG nicht genannt. Dabei kann es jedoch nicht verbleiben. Denn nach allgemeinen Grundsätzen sind im Rahmen der Auslegung neben dem Wortsinn des auszulegenden Tatbestandes auch seine Entstehungsgeschichte, seine systematische Stellung sowie Sinn und Zweck der Norm zu berücksichtigen. Dem steht vorliegend auch nicht der Wortlaut von § 103 BetrVG entgegen. Denn Sinn und Zweck des Gesetzes können auch zu einem Auslegungsergebnis führen, dass von einem sprachlich unzweideutigen Normwortlaut abweicht (vgl. MünchKomm/Säcker, BGB, Bd I, 4. Aufl. 2001, Einl. Rz. 123 und 128; Müller, Anm. zu BAG 10.10.2002 - 2 AZR 240/01 - EzA § 9 KSchG n.F. Nr. 46, unter II.).

b) Die historische Auslegung ergibt ebenfalls keine Lösung, da die Gesetzesmaterialien nichts dazu aussagen, ob das Zustimmungsersetzungsverfahren nach § 103 BetrVG einem Auflösungsantrag des Arbeitgebers entgegensteht oder nicht (zutreffend Lunk, NZA 2000, 807, 809; Müller, a.a.O. unter III.).

c) Sinn und Zweck und die Systematik sowohl des § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG als auch des § 103 BetrVG sprechen für einen Vorrang der Regelung des § 103 BetrVG jedenfalls für die Auflösungsgründe, die nach dem Eintreten des besonderen Kündigungsschutzes entstanden sind. Denn nach der Grundkonzeption des Kündigungsschutzgesetzes soll das Arbeitnehmerinteresse am Erhalt des Arbeitsplatzes grundsätzlich Vorrang gegenüber dem Arbeitgeberinteresse an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses haben. Der Bestand des Arbeitsverhältnisses ist nach den Vorstellungen des Gesetzgebers nicht nur im eigentlichen Kündigungsverfahren, sondern auch im Auflösungsverfahren nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG in den Grenzen des Vertretbaren zu schützen (vgl. die Begründung im Regierungsentwurf zu § 7 KSchG 1951, dem Vorgänger von § 9 KSchG 1969, Bundestags-Drucksache I/2090, Anlage 1, Seite 14 linke Spalte; Müller, BB 2002, 2014 f.; derselbe, Anm. zu BAG 10.10.2002, a.a.O., unter IV.).

Dem Arbeitgeber soll mit dem Auflösungsrecht nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG keine im Vergleich zur Kündigung erleichterte Lösungsmöglichkeit eingeräumt werden (BAG 14.10.1954 - 2 AZR 34/53 - AP Nr. 3 zu § 3 KSchG 1951, zu 4. der Gründe; BAG 29.03.1960 - 3 AZR 568/58 - AP Nr. zu § 7 KSchG 1951; Müller, Anm. zu BAG 10.10.2002, a.a.O., unter IV. m.w.N.).

d) Gerade eine derartig erleichterte Lösungsmöglichkeit würde vorliegend der Arbeitgeberin aber eingeräumt, ließe man eine Auflösung nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG zu. Denn für eine fristlose Kündigung aus den hier genannten Gründen hätte die Beklagte einen Zustimmungsantrag nach § 103 BetrVG stellen müssen. Hätte der Betriebsrat dem nicht entsprochen, hätte die Arbeitgeberin ein Zustimmungsersetzungsverfahren nach § 103 BetrVG führen müssen, das nach den derzeitigen Terminsständen beim Arbeitsgericht Berlin und Landesarbeitsgericht Berlin frühestens nach einem Jahr rechtskräftig beendet worden wäre. Für diese Zeit hätte die Beklagte das Entgelt des Klägers fortzahlen müssen. Erst dann hätte sie eine fristlose Kündigung aussprechen können. Dieser Schutz des § 103 BetrVG würde dem Kläger genommen, wenn die Beklagte einen Auflösungsantrag zum Zeitpunkt der fristgemäßen Beendigung des Arbeitsverhältnisses, also zum 30. Juni 2003 stellen könnte.

e) Entscheidend ist jedoch der Wertungswiderspruch bei einer anderen Lösung als der vorliegenden: Hätte der Kläger bereits zum Zeitpunkt des Zugangs des Kündigungsschreibens am 26. Mai 2003, also nur zwei Tage früher als tatsächlich geschehen, den besonderen Kündigungsschutz als Wahlvorstand gehabt, wäre selbst eine außerordentliche Kündigung wegen eines unstreitig wichtigen Grundes im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB - etwa wegen einer schweren Körperverletzung des Arbeitgebers - unwirksam, wenn nicht die Zustimmung durch das Arbeitsgericht vorab vorgelegen hätte. Auch in diesem Verfahren selbst hätte die Beklagte keinen Auflösungsantrag stellen können für Gründe, die nach Ausspruch der Kündigung entstanden, etwa eine erneute schwere Körperverletzung.

Auch die Kündigung wegen der vorstehend angeführten vier Gründe für die Auflösung seitens der Arbeitgeberin wäre unwirksam, da der Betriebsrat der Kündigung nicht zugestimmt hat.

Würde man nun eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses wegen der vier genannten Gründe im Hinblick auf eine ordentliche fristgemäße betriebsbedingte Kündigung zulassen, die rechtskräftig für sozial ungerechtfertigt gehalten worden ist, würde man damit den Kläger schlechter stellen als einen Arbeitnehmer, der unstreitig nicht nur einen Grund für eine außerordentliche Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB, sondern auch noch danach Gründe für einen Auflösungsantrag gesetzt hätte. Dies kann nicht richtig sein.

3. Es kann daher dahinstehen, ob die von der Beklagten vorgetragenen Auflösungsgründe (Vortäuschen einer Arbeitsunfähigkeit, Hausverbot seitens der Eigentümergemeinschaft N.str. 33 bis 34, Polizeibenachrichtigung vor der Wahl, falscher Vortrag zum Sonderkündigungsschutz nach § 15 Abs. 3 a KSchG) zu einer Auflösung nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG geführt hätte.

4. Da die Kündigung vom 23. Mai 2003 sozial nicht gerechtfertigt ist und auch keine sonstigen Beendigungstatbestände vorliegen, ist der Kläger nach den Grundsätzen, die der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts im Beschluss vom 27. Februar 1985 (BAGE 48, 122 ff.) aufgestellt hat, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreites als Krankenpfleger vorläufig weiterzubeschäftigen.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

6. Für eine Zulassung der Revision bestand keine Veranlassung. Die im Prozess erörterte und im Tatbestand wiedergegebene Entscheidung des BAG vom 7. Dezember 1972 (a.a.O.) betrifft einen anderen Sachverhalt. Das Bundesarbeitsgericht hat in dieser Entscheidung nicht zu den Beteiligungsrechten des Betriebsrates nach § 103 BetrVG Stellung genommen, da das dort zu beurteilende Personalvertretungsgesetz des Saarlandes in der damals geltenden Fassung noch kein Zustimmungserfordernis bei der außerordentlichen Kündigung eines Personalratsmitgliedes enthielt.

Ende der Entscheidung

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