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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin
Urteil verkündet am 27.06.2003
Aktenzeichen: 13 Sa 875/03
Rechtsgebiete: RVO, SGB VII


Vorschriften:

RVO § 637
SGB VII § 8 Abs. 1
Das Aufpumpen eines Fahrradreifens bzw. -schlauches auf dem Werksgelände 40 Minuten vor der beabsichtigten Heimfahrt mit Hilfe der betrieblichen Pressluftanlage stellt eine betriebliche Tätigkeit i.S.v. § 637 RVO bzw. § 8 Abs. 1 SGB VII dar.
Im Namen des Volkes Urteil

13 Sa 875/03

Verkündet am 27.06.2003

In Sachen

hat das Landesarbeitsgericht Berlin, 13. Kammer, auf die mündliche Verhandlung vom 27.06.2003 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Fenski als Vorsitzenden sowie die ehrenamtlichen Richter Herrn Carow und Herrn Oehmke

für Recht erkannt:

Tenor:

1) Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 5. Februar 2003 - 7 Ca 35876/01 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

2) Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche des Klägers gegen die Erben eines ehemaligen Arbeitskollegen (im Folgenden: Erblasser), der den Kläger auf dem Betriebsgelände ihres gemeinsamen Arbeitgebers geschädigt hat.

Dem liegt folgender von Anfang an bzw. im Laufe des Rechtsstreits durch nur pauschales Bestreiten seitens des Klägers unstreitiger bzw. unstreitig gewordener Sachverhalt zugrunde:

Am 30. Mai 1994 fuhr der Erblasser auf das Fabrikgelände des gemeinsamen Arbeitgebers mit einem Mountainbike. Um ca. 14.50 Uhr, 40 Minuten vor Ende der täglichen Arbeitszeit, pumpte er einen Fahrradreifen bzw. -schlauch mit der betriebseigenen Pressluftanlage auf. Ob er dabei einen selbst hergestellten Adapter benutzte, ist streitig. Der Schlauch platzte mit einem lauten Knall, welchem der zufällig vorbeikommende Kläger ausgesetzt wurde. Daraufhin arbeitete der Kläger nicht mehr bei seinem damaligen Arbeitgeber wegen eines Hörschadens.

Der Kläger ist im Rahmen seiner zunächst beim Landgericht Berlin am 4. September 1998 eingegangenen Klage der Auffassung gewesen, dass keine betriebliche Tätigkeit im Sinne des § 637 RVO vorgelegen habe. Der Erblasser habe überdies mit bedingtem Vorsatz und außerhalb der Betriebsordnung gehandelt. Ein Zusammenhang mit der Heimfahrt des Erblassers sei nicht ersichtlich.

Der Erblasser hätte durch seine Haftpflichtversicherung mit Schreiben vom 27. September 1994 bzw. 3. November 1994 ein Schuldanerkenntnis abgegeben. Im Schreiben vom 27. September 1994 heißt es unter anderem:

"Zur Sache selbst teilen wir mit, dass wir bei derzeitiger Sach- und Rechtslage grundsätzlich von einer Haftung unseres Versicherungsnehmers ausgehen.

Unverbindlich bitten wir darum, den von ihrem Mandanten geltend gemachten Ersatzanspruch zu beziffern und ggf. zu belegen."

Das Arbeitsgericht Berlin hat mit Urteil vom 5. Februar 2003 die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:

Der vorliegend geltend gemachte Körper- und Gesundheitsschaden und seine Folgeschäden einschließlich des Schmerzensgeldanspruchs, der zugunsten des Klägers unterstellt werde, sei gemäß § 637 RVO ausgeschlossen. Beim Aufpumpen des Fahrradreifens bzw. -schlauches handele es sich um eine betriebliche Tätigkeit im Sinne von § 637 RVO. Der Begriff "betriebliche Tätigkeit" sei nicht eng auszulegen. Darunter falle nach obergerichtlicher Rechtsprechung auch die Teilnahme am innerbetrieblichen Werksverkehr mit dem Fahrrad. Das Aufpumpen des Reifens stehe in einem unmittelbaren sachlichen Zusammenhang mit dem beabsichtigten Fahrradfahren. Ein Vorsatz des Erblassers sei nicht ersichtlich.

Endlich liege auch kein Schuldanerkenntnis des Erblassers bzw. seiner Haftpflichtversicherung vor, welches sich die Erbinnen zurechnen lassen müssten. Es sei schon fraglich, ob sich der Erblasser die Erklärungen einer Haftpflichtversicherung zurechnen lassen müsse. Jedenfalls aber sei nach einer Auslegung der Erklärung, insbesondere der Wörter "grundsätzlich" und "unverbindlich", davon auszugehen, dass die Haftpflichtversicherung keine definitive Regelungszusage erteilen wollte, sondern sich eine Prüfung der Schadenspflicht vorbehalten habe. Dieser Vorbehalt schließe auch die Möglichkeit einer Änderung der Rechtserkenntnis ein.

Wegen der konkreten Begründung im arbeitsgerichtlichen Urteil und des Parteivortrags erster Instanz wird auf das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 5.Februar 2003 (Bl. 348-357 d.A.) verwiesen.

Gegen dieses ihm am 2. April 2003 zugestellte Urteil richtet sich die beim Landesarbeitsgericht Berlin am 29. April 2003 eingegangene und am 21. Mai 2003 begründete Berufung des Klägers.

Er rügt insbesondere die fehlerhafte Auslegung bzw. Anwendung des Rechtsbegriffs "betriebliche Tätigkeit" und hält das Fahrradreifenaufpumpen nicht für eine solche.

Ferner sei dem Arbeitsgericht nicht in seiner Auslegung hinsichtlich des konstitutiven Schuldanerkenntnisses des Erblassers bzw. seiner Versicherung zu folgen. Die Verwendung des Wortes "grundsätzlich" sei als "dem Grunde nach" zu verstehen und bedeute daher ein Anerkenntnis dem Grunde nach, welches sich der Erblasser zurechnen lassen müsse.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 5. Februar 2003 zum Aktenzeichen 7 Ca 35876/01 aufzuheben und 1. die Beklagten zu verurteilen, an ihn 166.439,06 DM = 85.098,94 € nebst 4% Zinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen;

2. die Beklagten zu verurteilen, auf das Konto des Klägers bei der Landesversicherungsanstalt Berlin zur Versicherungsnummer AIGR11 07 1053 J 048 3330 einen Betrag von 32.890,18 DM = 16.509,20 € zu zahlen;

3. festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihm zukünftige materielle Schäden, resultierend aus dem Vorfall vom 30. Mai 1994, zu ersetzen;

4. die Beklagten zu verurteilen, an ihn ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagten verteidigen das erstinstanzliche Urteil.

Wegen des konkreten zweitinstanzlichen Vortrags wird auf die Schriftsätze des Klägers vom 21. Mai 2003 (Bl. 388 ff. d.A.) und der Beklagten vom 24. Juni 2003 (Bl. 397 ff. d.A.) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die gemäß §§ 8 Abs. 2; 64 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. b, Abs. 6; 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG; §§ 519, 520 Abs. 1 und Abs. 3 ZPO zulässige Berufung ist insbesondere formgerecht und fristgemäß eingelegt und begründet worden.

II.

In der Sache hat die Berufung des Klägers keinen Erfolg. Sowohl im Ergebnis als auch in der sorgfältigen Begründung zu Recht hat das Arbeitsgericht Berlin die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht Berlin folgt dem Arbeitsgericht Berlin sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung und sieht von einer bloßen Wiederholung gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG ab. Im Hinblick auf den zweitinstanzlichen Vortrag des Klägers wird nur auf Folgendes hingewiesen:

1.

Der Anspruch des Klägers kann sich nur aus den §§ 823 Abs. 2, Abs. 2; 847 Abs. 1 BGB ergeben. Danach ist zur Zahlung von Schadensersatz und/oder Schmerzensgeld verpflichtet, wer vorsätzlich oder fahrlässig den Körper oder die Gesundheit eines anderen widerrechtlich verletzt. Zwischen den Parteien steht außer Streit, dass der Erblasser den Kläger durch das Platzen des Reifens zumindest teilweise widerrechtlich und fahrlässig verletzt hat.

2.

Bei Arbeitsunfällen wird diese Haftung durch die Regelungen der gesetzlichen Unfallversicherung eingeschränkt. Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall von Versicherten desselben Betriebs verursachen, sind diesen sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem Weg von bzw. zum Betrieb versicherten Weg herbeigeführt haben. Zu den "anderen gesetzlichen Vorschriften" gehören auch die §§ 823, 847 BGB. Der Sinn und Zweck der Haftungseinschränkung besteht darin, Haftungsstreitigkeiten unter den Betriebsangehörigen im Interesse des Betriebsfriedens zu vermeiden und den Arbeitgeber, der den Unfallversicherungsschutz finanziert, von Freistellungs- und Erstattungsansprüchen nach den Regeln über den innerbetrieblichen Schadensausgleich zu entlasten. Dafür erhält der Verletzte Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung auch in Fällen, in denen der Arbeitskollege nicht oder nicht voll haften würde (vgl. dazu nur BAG 14.12.2000 - 8 AZR 92/00 - EzA § 105 SGB VII Nr. 1 mit weiteren Nachweisen zu 2. der Gründe).

Aufgrund dieser gesetzlichen Haftungseinschränkung bestand im Streitfall keine Verpflichtung des Erblassers gegenüber dem Kläger, also auch keine Verpflichtung der Erbinnen, also der Beklagten.

a)

Die Verletzung des Klägers stellte für diesen vorliegend einen Arbeitsunfall dar, dies ist zwischen den Parteien unstreitig.

b)

Der Erblasser war Versicherter desselben Betriebes wie der Kläger. Beide waren dort als Arbeitnehmer beschäftigt.

c)

Der Erblasser hat den Arbeitsunfall durch eine betriebliche Tätigkeit verursacht. "Betriebliche Tätigkeit" im Sinne von § 637 RVO, dem hier geltenden Vorgänger des § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII, da sich der Unfall vor dem 1. Januar 1997 ereignete, ist auch das Verlassen des Arbeitsplatzes einschließlich des Weges auf dem Werksgelände (sogenannter Betriebsweg) bis zum Werkstor wegen des engen Zusammenhangs mit der eigentlichen Arbeitsleistung. Der Arbeitnehmer steht hier noch in enger Berührung mit der Arbeitsleistung anderer Arbeitnehmer des Betriebes, hält sich noch in der Herrschaftssphäre des Arbeitgebers auf und unterliegt dessen Ordnungsgewalt (vgl. § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG). Seine Tätigkeit ist für den Arbeitgeber in einem weiteren Sinne von Nutzen. Wie der Arbeitnehmer sich verhält, liegt im Interesse des Arbeitgebers, der auch den entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung des Risikos besitzt. Das Verlassen des Arbeitsplatzes auf dem Werksgelände ist deshalb nicht ausschließlich dem allgemeinen Lebensrisiko des Arbeitnehmers zuzurechnen (vgl. nur BAG, a.a.O., zu 3 c) der Gründe mit weiteren Nachweisen).

Zum Verlassen des Arbeitsplatzes in diesem Sinne zählen aber auch die Vorbereitungshandlungen für die Heimfahrt. Auch das unfallträchtige Aufreißen der Autotür oder des Fahrradschuppens muss in diesem Zusammenhang zur betrieblichen Tätigkeit gerechnet werden, da ohne die Vorbereitungshandlung die Heimfahrt nicht angetreten werden könnte.

Gleiches gilt hier für das Aufpumpen des Fahrradreifens. Auch dieses ist eine Vorbereitungshandlung für die Heimfahrt, mit einem platten Reifen kann man schlecht nach Hause fahren.

Daher ist es irrelevant, ob das Aufpumpen sachgemäß oder unsachgemäß, mit oder ohne (selbst gefertigten) Adapter erfolgte. Entscheidend ist die Handlung an sich, dies ist vorliegend das Aufpumpen.

d)

Endlich hat der Erblasser den Arbeitsunfall nicht vorsätzlich herbeigeführt. Er hat weder billigend in Kauf genommen, dass sein Fahrradreifen platzte (dies wollte er ja gerade nicht), noch nahm er die Schäden beim Kläger, der nur zufällig vorbeikam, billigend in Kauf. Da sich der Vorsatz auch auf den Verletzungserfolg beziehen muss (vgl. nur BAG 10.10.2002 - 8 AZR 103/02 - EzA a.a.O. Nr. 2 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BAG und des BGH), ist schon deshalb der Haftungsausschluss des § 637 RVO nicht entfallen.

4.

Hinsichtlich der Erklärung der Haftpflichtversicherung, die auch nach der Auffassung des Landesarbeitsgerichts kein Schuldanerkenntnis darstellt, wird auf die sorgfältige Auslegung der Schreiben der Haftpflichtversicherung durch das Arbeitsgericht Berlin gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG verwiesen.

III.

Der Kläger trägt die Kosten seiner erfolglosen Berufung gemäß § 97 Abs. 1 ZPO.

IV.

Eine Zulassung der Revision kam nicht in Betracht, da die Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG nicht vorlagen.

Ende der Entscheidung

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