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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin
Urteil verkündet am 10.03.2004
Aktenzeichen: 17 Sa 2575/03
Rechtsgebiete: KSchG


Vorschriften:

KSchG § 1 Abs. 3
KSchG § 15 Abs. 1 Satz 2
Zur Einbeziehung eines ehemaligen Betriebsratsmitglieds mit nachwirkendem Kündigungsschutz nach § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG in die Sozialauswahl.
Landesarbeitsgericht Berlin Im Namen des Volkes Urteil

17 Sa 2575/03

Verkündet am 10.03.2004

In Sachen

hat das Landesarbeitsgericht Berlin, 17. Kammer, auf die mündliche Verhandlung vom 10.03.2004 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dreßler als Vorsitzender sowie die ehrenamtlichen Richter Herrn Conradi und Herrn Reinhard

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 2. Oktober 2003 - 4 Ca 10253/03 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

II. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten vor allem über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.

Die am 31. Dezember 1962 geborene Klägerin, die verheiratet ist und für zwei Kinder zu sorgen hat, war unter Berücksichtigung ihrer Ausbildungszeit seit dem 1. September 1980 bei der Beklagten bzw. ihren Rechtsvorgängern zuletzt als Schauwerbegestalterin mit einer monatlichen Arbeitszeit von 108 Stunden und einem Bruttomonatsverdienst von 1.355,34 € tätig. Die Klägerin wurde zuletzt in dem Warenhaus der Beklagten in Berlin-Ch., W.Straße 53-54a eingesetzt. Die Beklagte beschäftigt dort regelmäßig mehr als fünf Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung beschäftigten.

Die Beklagte ließ die Dekorationsarbeiten in dem Kaufhaus W. Straße neben der Klägerin von den vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern K. und A. verrichten. Herr K., geboren am ... 1956, ist seit dem 21. April 1981 für die Beklagte tätig und hat nach ihren Angaben für ein Kind zu sorgen. Herr A., geboren am ... 1948, wird seit dem 1. Januar 1994 beschäftigt und hat keine unterhaltsberechtigten Kinder; er war bis längstens 31. Mai 2002 Mitglied des Betriebsrats.

Die Beklagte setzt für Dekorationsarbeiten in ihren Warenhäusern seit dem 1. März 2003 zentral gebildete "Visual-Merchandising-Teams" ein, um auf diese Weise die Schaufenster einheitlich zu gestalten. Sie schloss in diesem Zusammenhang mit dem Betriebsrat des Warenhauses W. Straße am 4. März 2003 für den Bereich Merchandising eine Vereinbarung, in der es u.a. heißt:

"... Durch den Einsatz des Zentralen Visual-Merchandising-Teams für die Gestaltung der Schaufenster entfällt ein Großteil der bisherigen Aufgaben. Es verbleibt lediglich das Anziehen der Figuren und Torsen im Verkauf, sowie der Aufbau von 2-3 Großaktionen im Displaybereich pro Jahr, sowie die Erstellung von Preisbeschilderungen. Mit den Dekorationstätigkeiten durch die Zentrale, ist ein Wegfall von 1/3 des Arbeitsanfalles verbunden, damit entfällt 1 von 3 Arbeitsplätzen.

Die Gesamtbetriebsvereinbarung "Rahmen-Sozialplan" vom November 2001 wird zum Ausgleich und zur Milderung der den Mitarbeitern entstehenden Nachteile mit den Änderungen in der Ergänzungsvereinbarung angewandt."

Die Beklagte hörte den Betriebsrat mit Schreiben vom 7. März 2003 zu der beabsichtigten Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin an, nachdem sie auf der Grundlage der "Gesamtbetriebsvereinbarung/Rahmensozialplan" von November 2001 (Kopie Bl. 65 ff. d.A.) eine Sozialauswahl zwischen den drei genannten Schauwerbegestaltern durchgeführt hatte. Der Betriebsrat widersprach der Kündigung mit Schreiben vom 13. März 2003 (Kopie Bl. 81 d.A.).

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 26. März 2003, das die Klägerin am 28. März 2003 erhielt, zum 31. Oktober 2003.

Mit ihrer am 14. April 2003 beim Arbeitsgericht eingegangenen und der Beklagten am 24. April 2003 zugestellten Klage hat sich die Klägerin gegen die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses gewandt und im Wege des unechten Hilfsantrages die Verurteilung der Beklagten zur vorläufigen Weiterbeschäftigung begehrt. Sie hat in Abrede gestellt, dass dringende betriebliche Erfordernisse ihrer Weiterbeschäftigung entgegenstünden. Auch hätte die Beklagte an ihrer Stelle jedenfalls das Arbeitsverhältnis des Herrn A. kündigen müssen. Die Klägerin hat ferner bestritten, dass die Beklagte den Betriebsrat im Rahmen des Anhörungsverfahrens ausreichend von den Umständen der Sozialauswahl unterrichtet habe. Die Beklagte hat demgegenüber die streitbefangene Kündigung für sozial gerechtfertigt gehalten. Infolge des Einsatzes eines zentralen Merchandising-Teams auch in dem Warenhaus W. Straße sei dort der Beschäftigungsbedarf für einen Schauwerbegestalter weggefallen. Die Sozialauswahl sei zu Lasten der Klägerin ausgefallen, weil das Arbeitsverhältnis des Herrn A. wegen des nachwirkenden Kündigungsschutzes für ehemalige Mitglieder des Betriebsrates nicht habe ordentlich gekündigt werden können. Der Betriebsrat sei vollständig von den Umständen der Sozialauswahl unterrichtet worden.

Das Arbeitsgericht hat durch ein am 2. Oktober 2003 verkündetes Urteil festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 26. März 2003 nicht aufgelöst worden ist; es hat die Beklagte ferner verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits zu unveränderten Bedingungen als Schauwerbegestalterin weiterzubeschäftigen. Die Kündigung sei gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam. Die Beklagte habe nicht hinreichend vorgetragen, dass sie den Betriebsrat im Rahmen des Anhörungsverfahrens von sämtlichen Umständen der getroffenen Sozialauswahl unterrichtet habe. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Bl. 175-178 d.A.) verwiesen.

Gegen dieses ihr am 24. November 2003 zugestellte Urteil richtet sich die am 22. Dezember 2003 eingelegte Berufung der Beklagten, die sie mit einem am 19. Januar 2004 eingegangenen Schriftsatz begründet hat.

Die Beklagte hält die streitbefangene Kündigung unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vorbringens weiterhin für rechtswirksam. Sie habe gemeinsam mit dem Betriebsrat am 4.März 2003 die sich aus der "Gesamtbetriebsvereinbarung/Rahmensozialplan" ergebenden Sozialpunkte der drei Schauwerbergestalter errechnet; hierzu sei dem Betriebsrat vor Abschluss der Vereinbarung vom 4. März 2003 eine Liste mit sämtlichen Sozialdaten dieser Arbeitnehmer übergeben worden. Dem Betriebsrat seien daher die Umstände der Sozialauswahl bereits vor Beginn des Anhörungsverfahrens bekannt gewesen. Ein Beschäftigungsbedarf für die Klägerin bestehe seit dem 1. März 2003 nicht mehr; auch sei die durchgeführte Sozialauswahl - so meint die Beklagte - nicht zu beanstanden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage unter Änderung des Urteils des Arbeitsgerichts Berlin vom 2. Oktober 2003 - 4 Ca 10253/03 - abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Kündigung unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens für rechtsunwirksam.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze vom 14. Januar, 23. Februar und 5. März 2004 nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Beklagte hat die gemäß § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§ 66 Abs. 1 ArbGG). Dabei ist es unschädlich, dass die Berufungsbegründung keine Ausführungen zu der erfolgten Verurteilung zur vorläufigen Weiterbeschäftigung enthält. Die Klägerin hat die Beschäftigungsklage für den Fall des Erfolges mit der Kündigungsschutzklage erhoben. Die in der Berufungsbegründung erfolgten Angriffe der Berufung gegen die Feststellung des Arbeitsgerichts, die streitbefangene Kündigung habe das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst, richten sich daher auch gegen die Verurteilung zur Weiterbeschäftigung.

II.

Die Berufung ist unbegründet.

Das Arbeitsverhältnis der Parteien wurde durch die Kündigung vom 26. März 2003 nicht aufgelöst. Die Beklagte ist ferner verpflichtet, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen.

1.

Die Kündigung vom 26. März 2003 ist sozial ungerechtfertigt und damit gemäß § 1 Abs. 1 KSchG rechtsunwirksam, weil die Beklagte bei der Auswahl der Klägerin soziale Gesichtspunkte i.S.d. § 1 Abs. 3 KSchG nicht ausreichend beachtet hat. Die Beklagte hätte das Arbeitsverhältnis des Herrn A. kündigen und die Klägerin weiterbeschäftigen müssen.

a)

Führen dringende betriebliche Erfordernisse i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG zu einem Beschäftigungsüberhang, so hat der Arbeitgeber unter den Arbeitnehmern, die von dem Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit betroffen sein können, eine Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten vorzunehmen. Die Sozialauswahl beschränkt sich dabei auf vergleichbare, d.h. austauschbare Arbeitnehmer, wobei sich die Vergleichbarkeit vor allem nach arbeitsplatzbezogenen Merkmalen richtet. Dem Arbeitgeber steht bei der Gewichtung der sozialen Gesichtspunkte ein Beurteilungsspielraum zu. Werden die sozialen Gesichtspunkte und ihre Bewertung durch eine Auswahlrichtlinie i.S.d. § 95 BetrVG festgelegt, so steht auch den Betriebsparteien ein Beurteilungsspielraum zu. Beschränkt sich die Auswahlrichtlinie jedoch darauf, eine Vorauswahl zu treffen und überlässt sie die Endauswahl dem Arbeitgeber, so hat dieser letztlich die sozialen Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen.

b)

Bei Anwendung dieser Grundsätze erweist sich die Entscheidung der Beklagten, Herrn A. weiterzubeschäftigen und das Arbeitsverhältnis der Klägerin zu kündigen, als fehlerhaft.

aa)

Bei der Klägerin und Herrn A. handelte es sich um vergleichbare Arbeitnehmer, die in gleicher Weise von den von der Beklagten behaupteten dringenden betrieblichen Erfordernissen und dem auf ihnen beruhenden Beschäftigungsüberhang betroffen waren. Sowohl die Klägerin als auch Herr A. wurden als Schauwerbegestalter beschäftigt. Ein Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit für einen Schauwerbegestalter im Warenhaus W. Straße konnte sich daher sowohl auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin als auch auf das des Herrn A. auswirken. Der Vergleichbarkeit beider Arbeitnehmer steht nicht entgegen, dass die Klägerin lediglich als Teilzeitbeschäftigte eingesetzt wurde. Eine Sozialauswahl zwischen teilzeit- und vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern findet nur dann nicht statt, wenn der Arbeitgeber vor oder im Zusammenhang mit der Kündigung entschieden hat, dass die verbleibenden Arbeitsplätze Vollzeitkräften vorzubehalten sind. Eine derartige Organisationsentscheidung ist für die Gerichte für Arbeitssachen bindend, sofern sie nicht offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist. Liegt eine derartige Organisationsentscheidung hingegen nicht vor und geht es dem Arbeitgeber lediglich darum, die Beschäftigungskapazität dem verringerten Arbeitsvolumen anzupassen, so steht die Teilzeitbeschäftigung eines Arbeitnehmers seiner Vergleichbarkeit im Rahmen der Sozialauswahl nicht entgegen (vgl. hierzu BAG AP Nr. 39, 44 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl). Im vorliegenden Fall hat die Beklagte jedoch nicht geltend gemacht, die im Warenhaus W. Straße verbleibenden Tätigkeit für Schauwerbegestalter erfordere die Beschäftigung von Vollzeitarbeitskräften, sondern sie hat die teilzeitbeschäftigte Klägerin im Rahmen einer Sozialauswahl mit den vollzeitbeschäftigten Schauwerbegestaltern verglichen.

Einer Vergleichbarkeit der Klägerin mit Herrn A. steht auch nicht entgegen, dass die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Herrn A. im Zeitpunkt der streitbefangenen Kündigung gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG nicht durch eine ordentliche Kündigung beenden konnte. Allerdings sind Arbeitnehmer grundsätzlich nicht in eine Sozialauswahl einzubeziehen, deren Arbeitsverhältnis durch eine ordentliche Kündigung nicht beendet werden kann. Fehlt dem Arbeitgeber die rechtliche Möglichkeit, gegenüber einem Arbeitnehmer eine betriebsbedingte Kündigung zu erklären, so kann ein gekündigter Arbeitnehmer auch nicht geltend machen, nicht sein Arbeitsverhältnis, sondern das einem besonderen Kündigungsschutz unterliegende Arbeitsverhältnis eines ansonsten vergleichbaren Arbeitnehmers hätte gekündigt werden müssen. Im vorliegenden Fall besteht jedoch die Besonderheit, dass der Kündigungsschutz des § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG für Herrn A. spätestens am 31. Mai 2003 endete und eine gegenüber Herrn A. im Juni 2003 erklärte ordentliche Kündigung sein Arbeitsverhältnis vor dem 31. Oktober 2003 - dem Ende der gegenüber der Klägerin erklärten Kündigungsfrist - aufgelöst hätte. Herr A. war im Juni 2003 länger als acht Jahre, jedoch noch keine zehn Jahre bei der Beklagten tätig. Die Kündigungsfrist einer damals ausgesprochenen Kündigung wäre daher sowohl nach § 622 Abs. 2 BGB als auch nach § 15 des möglicherweise anwendbaren Manteltarifvertrages für den Berliner Einzelhandel vom 6. Juli 1994 in der Fassung vom 8. Juli 2001 am 30. September 2003 abgelaufen. Selbst wenn die Beklagte gegenüber der Klägerin nach § 622 Abs. 2, 3 BGB lediglich eine Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Ende eines Kalendermonats hätte einhalten müssen, wäre diese ebenfalls am 30. September 2003 abgelaufen. Der besondere Kündigungsschutz des Herrn A. hinderte die Beklagte daher letztlich nicht, sein Arbeitsverhältnis mindestens zum gleichen Zeitpunkt durch ordentliche Kündigung zu beenden wie das der Klägerin. Bei dieser besonderen Sachlage ist es nicht gerechtfertigt, den Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz von vornherein aus der Sozialauswahl auszunehmen. Ist dieser Arbeitnehmer - worauf noch einzugehen sein wird - unter sozialen Gesichtspunkten eindeutig weniger schutzbedürftig als ein vergleichbarer Arbeitnehmer, würde ansonsten der Zweck des § 1 Abs. 3 KSchG umgangen, ohne dass sich dies sachlich rechtfertigen ließe. Die Sozialauswahl soll gewährleisten, dass der vor allem durch Beschäftigungsdauer, Lebensalter und Unterhaltspflichten erreichte soziale Bestandsschutz der Arbeitnehmer bei einem betriebsbedingten Personalabbau gewährleistet wird. Etwas anderes gilt nur, wenn vergleichbare Arbeitnehmer nicht im Betrieb verbleiben, ihnen gegenüber eine Kündigung nicht erklärt werden kann oder aber besondere betriebliche Interessen i.S.d. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG die Weiterbeschäftigung sozial stärkerer Arbeitnehmer erfordern. Ist die ordentliche Kündigung gegenüber einem sozial stärkeren Arbeitnehmer jedoch nur zeitweise ausgeschlossen und könnte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis anschließend zum gleichen Zeitpunkt wie das Arbeitsverhältnis eines sozial schwächeren Arbeitnehmers kündigen, muss von dem Arbeitgeber erwartet werden, dass er mit dem Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung bis zum Ablauf des Sonderkündigungsschutzes abwartet. Nur dies wird den schutzwürdigen Interessen aller Beteiligten gerecht. Ist ein Beschäftigungsbedürfnis für einen Arbeitnehmer nicht mehr vorhanden, muss der Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis zum frühestmöglichen Zeitpunkt beenden können. Der sozial schutzwürdigere Arbeitnehmer hat grundsätzlich ein Interesse daran, dass andere weniger schutzbedürftige Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einbezogen werden. Der Arbeitnehmer, dem noch ein besonderer Kündigungsschutz zusteht, darf nur erwarten, dass eine ordentliche Kündigung so lange unterbleibt, wie sie gesetzlich ausgeschlossen ist; sein Interesse, dass ein betrieblich notwendiger Personalabbau vor Ablauf seines Sonderkündigungsschutzes durchgeführt wird und seine Beschäftigung deshalb auch anschließend gesichert ist, genießt demgegenüber keinen Schutz. Wenn die Beklagte hiergegen einwendet, für die Beurteilung der Wirksamkeit einer Kündigung komme es auf die Umstände im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung an, trifft dies zwar grundsätzlich zu, rechtfertigt jedoch letztlich kein anderes Ergebnis. Denn hieraus folgt nicht, dass der Arbeitgeber bei Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung nur die gegenwärtigen betrieblichen Verhältnisse, nicht aber auch die bereits absehbare zukünftige Entwicklung berücksichtigen darf und muss. Es ist vielmehr anerkannt, dass der Arbeitgeber eine betriebsbedingte Kündigung bereits vor dem Wegfall des Beschäftigungsbedarfs erklären kann, sofern nur die betriebsbedingten Gründe im Kündigungszeitpunkt greifbare Formen angenommen haben und eine vernünftige, betriebswirtschaftliche Betrachtung die Prognose rechtfertigt, dass bis zum Ablauf der Kündigungsfrist die zur Kündigung führenden Maßnahmen durchgeführt sein werden und der Arbeitnehmer deshalb nicht mehr benötigt wird (vgl. hierzu nur BAG AP Nr. 53 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung). Auch muss der Arbeitgeber bei der Frage, ob der zu kündigende Arbeitnehmer zu gleichen oder geänderten Arbeitsbedingungen weiterbeschäftigt werden kann, auch Arbeitsplätze berücksichtigen, die zwar gegenwärtig noch besetzt sind, jedoch während der Kündigungsfrist oder sogar in absehbarer Zeit nach Ablauf der Kündigungsfrist frei werden (BAG AP Nr. 67 a.a.O.). In gleicher Weise kann von dem Arbeitgeber erwartet werden, dass er bei Durchführung einer Sozialauswahl den bereits absehbaren, wenn auch noch nicht eingetretenen Wegfall des Sonderkündigungsschutzes eines ansonsten vergleichbaren Arbeitnehmers berücksichtigt und gegebenenfalls gegenüber diesem Arbeitnehmer die erforderliche betriebsbedingte Kündigung erklärt, sobald dies rechtlich möglich ist.

bb)

Bei Durchführung einer Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG hätte die Beklagte nicht das Arbeitsverhältnis der Klägerin, sondern das des Herrn A. kündigen müssen. Die Klägerin ist im Vergleich zu Herrn A. eindeutig sozial schutzbedürftiger, was von der Beklagten letztlich nicht in Abrede gestellt wird. Bereits nach der Anlage 1 zur "Gesamtbetriebsvereinbarung/Rahmensozialplan" kommt der Klägerin mit 88 Punkten im Vergleich zu 76 Punkten für Herrn A. der höhere soziale Schutz zu. Auch eine Gesamtabwägung der sozialen Gesichtspunkte zeigt, dass die Klägerin im Vergleich zu Herrn A. den höheren sozialen Schutz genießt. So war die Klägerin im Zeitpunkt der Kündigung länger als 22,5 Jahre und damit mehr als doppelt so lang bei der Beklagten tätig wie Herr A.. Der Dauer der Betriebszugehörigkeit kommt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bei einer Sozialauswahl erhebliche Bedeutung zu, weil mit ihr im Allgemeinen der Beitrag wächst, den der Arbeitnehmer zum Wert des Unternehmens leistet; auch nimmt die persönliche Bindung des Arbeitnehmers an das Unternehmen zu, die etwa in einer arbeitsplatzbezogenen Wahl des Wohnortes und der Entwicklung von Freundschaften und Lebensgewohnheiten zum Ausdruck kommen kann (BAG EzA Nr. 51 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl). Die Klägerin hat zudem im Gegensatz zu Herrn Altmann für zwei Kinder zu sorgen. Vor diesem Hintergrund ist es auch unter Berücksichtigung eines der Beklagten einzuräumenden Beurteilungsspielraums ohne Belang, dass im Zeitpunkt der Kündigung Herr A. 54 Jahre und die Klägerin 40 Jahre alt war. Zwar kann ohne weiteres angenommen werden, dass Herr A. bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu der Beklagten nur schwer eine neue Beschäftigung gefunden hätte. Aber auch die Klägerin befand sich nicht mehr in einem Alter, das sie nicht bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz behindert hätte. Insgesamt musste die Sozialauswahl daher zugunsten der Klägerin ausgehen, was letztlich zur Unwirksamkeit der streitbefangenen Kündigung führt.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Revision wurde gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen. Der Rechtssache kommt nach Auffassung der Berufungskammer im Hinblick auf die Frage, ob der Arbeitgeber in Fallgestaltungen wie der vorliegenden Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz in die Sozialauswahl einzubeziehen hat, grundsätzliche Bedeutung zu.

Ende der Entscheidung

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