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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Hamm
Urteil verkündet am 07.11.2005
Aktenzeichen: 1 Sa 1110/05
Rechtsgebiete: KSchG


Vorschriften:

KSchG § 1 Abs. 5
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Minden vom 18.04.2005 - 4 Ca 1720/04 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Streitwert für das Berufungsverfahren: 8.500,00 €

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, auf betriebsbedingte Gründe gestützten Kündigung.

Die im August 1967 geborene Klägerin wurde von der Beklagten mit Wirkung vom 02.01.1991 als Verpackungshelferin in der Betriebsstätte der Beklagten in E2xxxxxxx eingestellt. Ihre monatliche Vergütung belief sich bei einer Arbeitszeit von 38,5 Wochenstunden nach ihren Angaben zuletzt auf ca. 1.700,00 € brutto, während die Vergütung der Klägerin in der Liste zum Sozialplan mit 1.936,00 € brutto vermerkt ist. Die Klägerin lebt von ihrem Ehemann getrennt. Sie hat zwei Kinder, die im Zeitpunkt der Kündigung acht und 18 Jahre alt waren. Beide Kinder leben im Haushalt der Klägerin. Das ältere Kind - der am 08.07.1986 geborene Sohn - besuchte bis zum Sommer 2005 eine Kollegschule. Für die Tochter bezieht die Klägerin Unterhaltszahlungen des Vaters.

Geschäftsgegenstand der Beklagten ist die Herstellung und der Vertrieb hochwertiger Ersatzteile für Fahrzeugelektronik für den internationalen Markt. Auf dem Hintergrund eines massiven Preiskampfes mit Mitbewerbern und fortschreitender Marktanteilverluste entschloss sich die Geschäftsführung der Beklagten im Frühjahr 2004, die Produktion im Bereich Automotive in wesentlichen Teilen nach Indien zu verlagern. In dem unter dem 07.09.2004 unterzeichneten, seit Anfang Juni 2004 verhandelten Interessenausgleich ist festgehalten, dass ein Teil der Produktion bereits gegen Ende Oktober 2004 nach Indien verlagert werden sollte. Kündigungen sollten im Zuge dieses ersten Schrittes durch die Nichtweiterbeschäftigung von Leiharbeitnehmern vermieden werden. Die sich daran anschließende Verlagerung der weiteren Teile der Produktion war nach dem Interessenausgleich für die Zeit von Anfang März bis Ende Juni 2005 vorgesehen, was in der Betriebsstätte in E2xxxxxxx mit einem Abbau von 37 von 70 Arbeitsplätzen verbunden sein sollte. Von der Verlagerung ausgeschlossen bleiben sollten die Bereiche Logistik, Stanzerei und Spritzerei.

In § 4 des Interessenausgleichs heißt es:

" . . . Zur Ermittelung der zu kündigenden Arbeitnehmer wurde eine Sozialauswahl vorgenommen.

Dabei haben sich Betriebsrat und Firma zunächst daran orientiert, dass die betriebsverfassungsrechtlichen Mandatsträger Betriebsratsmitglieder und Ersatzmitglieder, die auf Grund der Teilnahme an Betriebsratssitzungen besonderen Kündigungsschutz genießen) von dem Personalabbau ausgenommen wurden

Im Übrigen haben Betriebsrat und Firma bei den danach umfassend miteinander vergleichbaren Arbeitnehmern der Produktion der Sozialauswahl folgende Richtlinie zu Grunde gelegt (§ 95 BetrVG i. V. m. § 1 Abs. 3 bis 5 KSchG):

(1) Betriebszugehörigkeit (BZ)

Für jedes vollendete Jahr der Betriebszugehörigkeit wird ein Punkt berechnet.

(2) Lebensalter (LA)

Für jedes vollendete Lebensjahr werden 0,75 Punkte bewährt.

(3) Unterhaltspflichtige Kinder (UK)

Je unterhaltsberechtigtes Kind werden vier Punkte vergeben.

(4) Familienstand/Steuerklasse (S)

Je nach Familienstand/Steuerklasse werden Punkte wie folgt vergeben:

Steuerklasse 1 - 4 Punkte

Steuerklasse 2 - 8 Punkte

Steuerklasse 3 - 8 Punkte

Steuerklasse 4 - 4 Punkte

Steuerklasse 5 - 0 Punkte

Pauschale Besteuerung - 0 Punkte

(5) Schwerbehinderung (SB)

Schwerbehinderte Arbeitnehmer mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 50 erhalten für die Schwerbehinderung 8 Punkte.

(6) Stichtag

Bei der Durchführung der Sozialauswahl und der Ermittlung der dafür notwendigen Daten wird als Stichtag der 01.07.2004 zu Grunde gelegt.

. . . "

Dem Interessenausgleich war als dessen Bestandteil eine Namensliste mit den 37 zur Kündigung vorgesehenen Arbeitnehmerinnen, darunter die Klägerin, fest beigeheftet (Bl. 64 GA).

Ebenfalls am 07.09.2004 kam es zum Abschluss eines Sozialplans. Nach dessen § 3 berechnen sich die Sozialplanansprüche der Arbeitnehmer nach dem Punktsystem, welches der Richtlinie zur Sozialauswahl gemäß § 4 des Interessenausgleichs entspricht. Für die Klägerin errechnete die Beklagte danach eine Sozialplanabfindung in Höhe von 12.347,00 € auf der Basis von 52 "Sozialendpunkten". Sie entnahm für die Ermittlung der sowohl für die Sozialauswahl wie für die Höhe der Sozialplanabfindung maßgeblichen Punktzahl die Anzahl der zu berücksichtigenden unterhaltsberechtigten Kinder aus den Eintragungen in der Lohnsteuerkarte. Auf der Lohnsteuerkarte der Klägerin war die Lohnsteuerklasse II und die Zahl der Kinderfreibeträge mit 1,0 eingetragen. Gekündigt wurde allen Arbeitnehmern, die weniger als 54,75 Sozialpunkte aufwiesen (Liste Bl. 96 bis 98 GA).

Mit Schreiben vom 02.09.2004 leitete die Beklagte das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG gegenüber dem Betriebsrat ein (Bl. 93 GA). Darin heißt es u. a.:

" . . .

In der Anlage 2 erhalten Sie überdies eine Liste über die unsererseits vorgenommene Sozialauswahl. In dieser Liste sind zusätzlich der Familienstand sowie die Anzahl minderjähriger Kinder lt. Steuerkarte angegeben. Ebenfalls haben wir sonstige Informationen zu etwaigen Schwerbehinderungen oder aber Elternzeit/Mutterschutz und Arbeitszeiten in die Liste aufgenommen.

Die Sozialauswahlkriterien entsprechen den gemeinsamen Besprechungen im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen.

. . . "

Mit Schreiben vom 24.09.2004 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zum 30.06.2005 (Bl. 4/5 GA). Das Kündigungsschreiben ist der Klägerin am 24.09.2004 zugegangen.

Mit der am 06.10.2004 beim Arbeitsgericht Minden eingegangenen Klage, die den Hinweis enthält, dass die Klägerin zwei Kinder im Alter von acht und 18 Jahren habe, hat sich die Klägerin gegen die Kündigung gewandt. Gleichzeitig hat sie ihre tatsächliche Weiterbeschäftigung begehrt. Sie hat geltend gemacht, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Im Schriftsatz vom 23.03.2005 hat sie die Ansicht vertreten, die Sozialauswahl sei grob fehlerhaft vorgenommen worden, weil bei ihr das zweite unterhaltsberechtigte Kind unberücksichtigt geblieben sei. Bei Zugrundelegung von weiteren vier Punkten für ihr zweites Kind habe sie nicht mehr zu den zu kündigenden Arbeitnehmern gehört. Die Berechnung der Kinderzahl nach den Eintragungen in der Lohnsteuerkarte stelle - selbst wenn sie auf einer, von der Klägerin bestrittenen, Vereinbarung mit dem Betriebsrat beruhe - eine unangemessene Benachteiligung getrenntlebender bzw. geschiedener Arbeitnehmer dar, die gezwungen seien, die Eintragungen auf der Steuerkarte ändern zu lassen. Mit dem Betriebsrat seien die Auswirkungen einer solchen Regelung offenbar auch nicht erörtert worden.

Die Klägerin hat beantragt,

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten mit Schreiben vom 24.09.2004, zugegangen am 24.09.2004, nicht aufgelöst ist.

2. Hilfsweise für den Fall des Obsiegens die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss dieses Kündigungsschutzprozesses auch tatsächlich zu den bisherigen Bedingungen weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat behauptet, mit dem Betriebsrat sei vereinbart gewesen, wegen der Vielzahl von zu vergleichenden Arbeitnehmern ausschließlich die auf der jeweiligen Lohnsteuerkarte der Arbeitnehmer befindlichen Daten zu Grunde zu legen.

Mit am 18.04.2005 verkündeten Urteil hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen der Argumentation der Klägerin zur grob fehlerhaft getroffenen Sozialauswahl angeschlossen. Die in der Lohnsteuerkarte eingetragenen Unterhaltspflichten seien, so hat es ausgeführt, unergiebig. Der Arbeitgeber habe den Arbeitnehmer zu befragen, wenn ihm die den Arbeitnehmer treffenden Belastungen nicht aus den Personalakten oder anderweitig bekannt seien. Zumindest müsse es zugelassen werden, dass der Arbeitnehmer innerhalb der Klagefrist einen hinsichtlich der Unterhaltspflichten bestehenden Irrtum des Arbeitgebers aufkläre und so dem Arbeitgeber eine zeitnahe Korrektur seiner Kündigungsentscheidung ermögliche. Die Angaben der Klägerin in der Klageschrift hätten dazu ausgereicht. Bei objektiver Ermittlung der Unterhaltspflichten sei die Klägerin nicht unter den zu kündigenden Arbeitnehmern gewesen. Eine anderslautende Vereinbarung mit dem Betriebsrat könne die Sozialauswahlkriterien des § 1 Abs. 3 KSchG nicht abbedingen.

Gegen das ihr am 29.04.2005 zugestellte und wegen seiner weiteren Einzelheiten in Bezug genommene Urteil hat die Beklagte am 30.05.2005 (Montag) Berufung eingelegt und diese mit am 29.06.2005 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet.

Sie hält der angefochtenen Entscheidung entgegen, es sei nicht grob fehlerhaft, wenn sich ein Arbeitgeber bei Massentatbeständen an den Daten der Lohnsteuerkarte der Arbeitnehmer orientiere. Es könne nicht zu ihren Lasten gehen, wenn sie sich an die Rechtsprechung angelehnt habe, die zum Insolvenzarbeitsrecht ergangen sei. Danach reiche es im Rahmen der Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG aus, dem Betriebsrat die Sozialdaten "laut Steuerkarte" anzugeben. Auch sei es für zulässig angesehen worden, bei Sozialplanabfindungen für die Erhöhungsbeträge für unterhaltsberechtigte Personen die Daten aus der Lohnsteuerkarte zu Grunde zu legen. Dies müsse auch für die Sozialauswahl gelten. Eine Berücksichtigung von Angaben der Arbeitnehmer innerhalb der Klagefrist des § 4 KSchG scheide aus, denn dies führe zu erheblichen Unsicherheiten und nicht hinnehmbaren Zeitverlusten. Aus der Klageschrift der Klägerin ergebe sich im Übrigen nicht, dass sie gegenüber zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtet ist.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil. Die Verhältnisse bei einer Betriebsverlagerung seien mit denen einer Insolvenz nicht zu vergleichen. Der Beklagten könne es bei ihrer umfangreich vorbereiteten Maßnahme durchaus abverlangt werden, sich bei ihren Arbeitnehmern nach den genauen Sozialdaten zu erkundigen. Sie habe dem Geschäftsführer der Beklagten im Übrigen bereits bei der Aushändigung des Kündigungsschreibens sofort mitgeteilt, dass sie zwei Kinder habe. Noch bis Ende 2003 seien auch 1,5 Kinder auf ihrer Lohnsteuerkarte eingetragen gewesen. Der Beklagten sei bekannt gewesen, dass die Umtragung auf der Trennung von ihrem Ehemann beruht habe.

Die Klägerin hält der behaupteten Betriebsbedingtheit der Kündigung entgegen, dass zwar eine Verlagerung der Produktion nach Indien eingeleitet sei, dass es aber eine bis zum 30.06.2006 befristete Betriebsvereinbarung vom 25.07.2005 gebe, die entgegen der bisherigen Regelung zu den Arbeitszeiten aus 1998 sofort einen Aufbau von bis zu 50 Überstunden zulasse, wobei darüber hinaus geleistete Überstunden zur Auszahlung gebracht würden.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsprotokolle verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 24.09.2004 nicht wirksam zum 30.06.2005 aufgelöst worden. Die Kündigung ist sozial ungerechtfertigt im Sinne des § 1 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3, 5 KSchG, denn die von der Beklagten getroffene Sozialauswahl ist rechtlich nicht haltbar.

1. Die Kündigung ist durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung der Klägerin entgegenstehen, bedingt (§ 1 Abs. 2, 5 KSchG).

Die Betriebsbedingtheit der Kündigung wird im Streitfall bereits gemäß § 1 Abs. 5 S. 1 KSchG vermutet. Die Beklagte führt mit der Verlagerung von Teilen ihrer Produktion aus dem Bereich Automotive zu einem Standort in Indien, die auch die Klägerin nicht in Abrede stellt, und der daraus resultierenden Kündigung von 37 von 70 Produktionsmitarbeitern über einen längeren Zeitraum einer Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG durch. Die Arbeitnehmer, die für eine Kündigung vorgesehen waren, sind im Interessenausgleich vom 07.09.2004 namentlich bezeichnet, darunter die Klägerin. Wirkung des Interessenausgleichs mit Namensliste ist gemäß § 1 Abs. 5 S. 1 KSchG, dass der Arbeitnehmer darzulegen und zu beweisen hat, dass seine Beschäftigungsmöglichkeit nicht weggefallen ist. Vom Arbeitnehmer wird substantiiertes Sachvorbringen verlangt, welches den gesetzlich vermuteten Umstand der Betriebsbedingtheit der Kündigung nicht nur in Zweifel zieht, sondern, ihn ausschließt (zur Vorgängerfassung des § 1 Abs. 5 KSchG vom 25.09.1996: BAG v. 22.01.2004 - AP Nr. 1 zu § 112 BetrVG 1972; KR-Etzel 7. Aufl. § 1 KSchG Rn. 703 e bis 703 g m. w. N.).

Die Klägerin hat nicht schlüssig dargelegt, dass die Kündigung nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist. Dass kein Auftragsrückgang zu verzeichnen sei, ist eine pauschale und im Zusammenhang mit der Produktionsverlagerung nichtssagende Behauptung, die bestimmte Schlussfolgerungen zum konkreten dauerhaften Beschäftigungsbedarf bei der Beklagten in deren Produktionsstätte in E2xxxxxxx nicht zulässt. Dies gilt auch für die Tatsache, dass die Beklagte mit dem Betriebsrat im Juli 2005 die Befristung des Zusatzes zur Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit bis zum 30.06.2006 verlängert hat, wonach vermehrt Überstunden aufgebaut werden können und weitergehende Überstunden ausgezahlt werden. Es ist nicht ersichtlich, in welchem Umfang konkret Überstunden geleistet werden und inwieweit sie sich durch die Flexibilisierung der Arbeitszeiten nicht ohne

Auswirkung auf die nach dem Arbeitsplatzabbau verbliebenen Arbeitsplätze auffangen lassen.

2. Die Kündigung ist jedoch sozialwidrig nach § 1 Abs. 3, 5 S. 2 KSchG, denn die Beklagte die Sozialauswahl grob fehlerhaft vorgenommen.

Nach § 1 Abs. 3 Satz 3 KSchG hat der Arbeitnehmer die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung als sozial ungerechtfertigt im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG erscheinen lassen. Der eingeschränkte Prüfungsmaßstab der groben Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl in den Fällen des § 1 Abs. 5 S. 2 KSchG ändert an der Verteilung der (grundsätzlich abgestuften) Darlegungs- und Beweislast nichts (BAG v. 22.01.2004 a. a. O.; HaKo/Gallner, Kündigungsschutzgesetz 2. Aufl. § 1 Rn. 809).

Im Streitfall lässt sich die grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl der Beklagten bereits anhand der zwischen den Parteien unstreitigen Tatsachen feststellen.

Eine grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl ist zunächst anzunehmen, wenn die Gewichtung der Kriterien des § 1 Abs. 3 (Alter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten sowie Schwerbehinderung) jede Ausgewogenheit vermissen lässt. Die Überprüfbarkeit der Sozialauswahl auf lediglich grobe Fehlerhaftigkeit ist aber auch insgesamt umfassend. Sie bezieht sich etwa auch auf die Bestimmung des Kreises der vergleichbaren Arbeitnehmer einschließlich der Herausnahme bestimmter Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl aufgrund berechtigter betrieblicher Interessen (KR-Etzel 7. Aufl. § 1 KSchG Rn. 703 h m. w. N.; HWK/Quecke § 1 KSchG Rn. 429).

Die Bildung auswahlrelevanter Gruppen ist im Streitfall ebenso wenig als grob fehlerhaft zu bemängeln, wie die generelle Gewichtung der Sozialindikatoren, wie sie im Interessenausgleich festgehalten ist. Die Beklagte hat aber die Unterhaltspflichten der Klägerin auf einer nicht ausreichenden Grundlage ermittelt, wodurch die Sozialauswahl, bezogen auf die Klägerin, unzutreffend ist. Der Klägerin hätte bei zutreffender Ermittlung der Anzahl ihrer unterhaltsberechtigten Kinder unter Anlegung der Maßstäbe des Interessenausgleichs in Verbindung mit § 1 Abs. 3 KSchG nicht gekündigt werden dürfen.

Nach dem Interessenausgleich vom 07.09.2004 werden im Rahmen der Sozialauswahl je unterhaltsberechtigtem Kind vier Punkte vergeben. Im Haushalt der Klägerin lebten zum Stichtag 01.07.2004 ihre zwei Kinder, die damals beide noch minderjährig waren. Sie war den Kindern gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet, §§ 1601 ff. BGB. Dass ihre Tochter vom Vater des Kindes Barunterhalt erhielt, ändert an der eigenen gesetzlichen Unterhaltspflicht der Klägerin gegenüber ihrer Tochter nichts, wobei sie ihrer Unterhaltspflicht (auch) durch ihre Betreuungsleistung gegenüber dem Kind nachkommt (§ 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB; Palandt/Diederichsen BGB 65. Aufl. § 1606 Rn. 18; Horstkötter/Schiek, AuR 1998, 230). Die Beklagte hat bei der Klägerin lediglich für ein unterhaltsberechtigtes Kind die im Interessenausgleich vorgesehene Punktzahl vergeben, weil auf der Lohnsteuerkarte der Klägerin der Kinderfreibetrag mit 1,0 eingetragen war.

Die Übernahme der Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte ist für die zuverlässige Ermittlung der Unterhaltspflichten gegenüber Kindern ungeeignet. Die Eintragungen spiegeln nicht zwingend die tatsächlichen Unterhaltspflichten wider. Vermerkt werden (§§ 32, 38 b, 39 EStG) - je nach Sachlage auch nur auf entsprechenden Antrag - Kinderfreibeträge, die mit der Anzahl der unterhaltsberechtigten Kinder nicht übereinstimmen muss. Es können Freibeträge für Kinder mit eigenem Einkommen und für Pflegekinder eingetragen werden. Freibeträge können gequotelt sein, so dass - wie bei der Klägerin - der Zähler 1 sich aus zwei mit dem jeweiligen Zähler 0,5 berücksichtigten Kinderfreibeträgen zusammensetzen kann, wobei der Freibetrag bei Ehegatten mit gemeinsamen Kindern aber wiederum unter bestimmten Voraussetzungen übertragbar ist. Auch ist nicht gewährleistet, dass Änderungen bei den persönlichen Verhältnissen zeitnah in der Lohnsteuerkarte geändert werden, denn der Arbeitnehmer ist dazu nach den steuerrechtlichen Vorschriften nicht stets verpflichtet (LAG Niedersachsen v. 28.05.2004 - LAGE § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 44 a; LAG Hamm v. 29.03.1985 - LAGE § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 1; Bütefisch, Die Sozialauswahl, 2000, S. 238 ff.). Auf die Eintragungen in der Lohnsteuerkarte kann sich der Arbeitgeber deshalb in diesem Zusammenhang nicht verlassen (LAG Düsseldorf v. 04.11.2004 - DB 2005, 454; HK-Dorndorf, Kündigungsschutzgesetz, 4. Aufl. § 1 Rn 1047; KR-Etzel 7. Aufl. § 1 KSchG Rn. 678 d; Linck, AR-Blattei 1020.1.2 Rn. 85; APS/Kiel, Kündigungsschutzgesetz, 2. Aufl. § 1 Rn. 725; Kleinebrink, DB 2005, 2524 m. w. N.).

Für die Ermittlung der für die Sozialauswahl maßgeblichen Tatsachen ist auf die objektive Lage abzustellen (vgl. LAG Köln v. 29.07.2004 - LAGE § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 45 a).

Gründe der Praktikabilität mögen für die Verwendung der Daten aus der Lohnsteuerkarte sprechen. Das neben den anderen für die Sozialauswahl unerlässlich heranzuziehende Kriterium in § 1 Abs. 3 KSchG lautet aber nicht "Unterhaltspflichten laut Lohnsteuerkarte". Der Arbeitgeber muss deshalb, wenn er nicht ohnehin über weitere Personalunterlagen verfügt, bei den vergleichbaren Arbeitnehmern nachfragen, ob (weitere) Unterhaltspflichten bestehen (HK-Dorndorf a. a. O.; LAG Niedersachsen a. a. O.; LAG Rheinland-Pfalz v. 08.03.2002 - AiB 2004, 443; Gaul/Lunk, NZA 2004, 187; Bütefisch a. a. O. S. 240 f.; Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1106; MüKo-BGB/Hergenröder 4. Aufl. § 1 KSchG Rn. 389; B. Preis, DB 1998, 1764; a. A. Fischermeier, NZA 1997, 1094 m. w. N.; ErfK/Ascheid 6. Aufl. § 1 Rn. 488; Berkowsky, Die betriebsbedingte Kündigung 5. Aufl. § 6 Rn. 188 m. w. N.).

Auch die mit den Regelungen des Arbeitsmarktreformgesetzes verfolgte Erzielung größerer Rechtssicherheit und Berechenbarkeit bei der Sozialauswahl steht dem Erfordernis von Nachfragen nicht entgegen. In den Gesetzesmaterialien findet sich gerade der Hinweis, Ziel der Neuregelung sei eine rechtssicherere Gestaltung der Sozialauswahl durch die Verwendung von Daten, die für den Arbeitgeber aus Personalakten oder durch Befragung leicht zu ermitteln seien (BT-Drucks. 12/1504 S. 11). Die Beklagte wäre auch tatsächlich nicht gehindert gewesen, derartige Ermittlungen anzustellen. Sie hatte die Verlagerung der Produktion nach Indien akribisch und über einen längeren Zeitraum vorbereitet. Auch die Verhandlungen zu dem Interessenausgleich und Sozialplan zogen sich über gut drei Monate hin. Der betroffene Personenkreis von 70 Arbeitnehmern war zudem überschaubar, so dass eine Befragung der Mitarbeiter zumindest in Zweifelsfällen nicht auf unzumutbare Schwierigkeiten gestoßen wäre.

Indem die Beklagte die Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte für die Feststellung der Unterhaltspflichten herangezogen hat, hat sie die Sozialauswahl grob fehlerhaft getroffen, wobei davon auszugehen ist, dass der eingeschränkte Prüfungsmaßstab des § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG nicht nur für die Gewichtung der Unterhaltspflichten, sondern bereits für die Ermittlung gilt, ob und welche Unterhaltspflichten bestehen (vgl. LAG Köln v. 10.05.2005 - 1 Sa 1510/04 -). Es ist evident, dass die Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte nicht dem Nachweis der Familienverhältnisse gegenüber dem Arbeitgeber dienen. Aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten, die für Eltern im Zusammenhang mit der Eintragung von Kinderfreibeträgen in Betracht kommen, ist insbesondere dieser Eintrag ersichtlich ungeeignet für gesicherte Schlussfolgerungen zu bestehenden Unterhaltspflichten. Bei einer Steuerklassenkombination III/V erhält der Elternteil mit der Steuerklasse V keinen Kinderfreibetrag bescheinigt; bei der Kombination IV/IV wird bei jedem Elternteil 1,0 eingetragen, bei getrennt lebenden oder geschiedenen Eltern wird der Zähler 0,5 vermerkt. Es kann ohne weiteres zu Zufallsergebnissen kommen, die eine auf gleichen Maßstäben beruhende Berücksichtigung sozialer Schutzbedürftigkeit nicht mehr gewährleistet.

Dies gilt auch, wenn die Betriebspartner bei der Sozialauswahl bewusst nicht die bloße Zahl der unterhaltsberechtigten Kinder hätten berücksichtigen wollen, sondern die hinter den Kinderfreibeträgen stehende Bewertung der wirtschaftlichen Belastung durch Kinder in steuerrechtlicher Hinsicht. Ob dies überhaupt der Vereinbarung der Betriebspartner entsprach, ist fraglich, denn der Interessenausgleich stellt in § 4 Abs. 3 eindeutig auf die Zahl der unterhaltsberechtigten Kinder ab, die mit jeweils vier Punkten zu Buche schlagen. Es wird keinerlei Einschränkung ohne Differenzierung nach den jeweiligen Familienverhältnissen gemacht. Es fehlt jeder Hinweis auf die Maßgeblichkeit der auf der Lohnsteuerkarte eingetragenen Kinderfreibeträge (und die etwa daraus resultierende Reduzierung der Punktzahl auf zwei statt vier Punkte) oder auf die Auswirkungen von Unterhaltsleistungen anderer Personen. Die Beklagte behauptet allerdings, dass mit dem Betriebsrat vereinbart gewesen sei, bei der Sozialauswahl ausschließlich auf die Lohnsteuerkarteneintragungen abzustellen. Der Betriebsrat hat dies offenbar auch hingenommen, denn der Liste mit der von der Beklagten vorgenommenen Sozialauswahl hat er nicht widersprochen. Zu ihr hat die Beklagte ausdrücklich im Anschreiben an den Betriebsrat vom 02.09.2004 mitgeteilt, dass in der Liste "der Familienstand und die Anzahl minderjähriger Kinder lt. Steuerkarte" angegeben seien. Ob dem Betriebsrat allerdings klar war, in welchem Umfang die Zahl der unterhaltsberechtigten Kinder von der Anzahl der auf den Lohnsteuerkarten vermerkten Kinderfreibeträgen divergieren konnten - z. B. unterfällt eine Vielzahl der bei der Beklagten beschäftigten und von der Sozialauswahl betroffenen Arbeitnehmerinnen der Lohnsteuerklasse V -, ist zweifelhaft. Die Vereinbarung über die Art der Ermittlung der unterhaltsberechtigten Kinder hat trotz ihrer Bedeutung nicht in den schriftlich abzuschließenden Interessenausgleich Eingang gefunden. Damit existiert sie allenfalls lediglich als mündliche, in Ergänzung zum Interessenausgleich getroffene Regelungsabrede, zu der der Prüfungsmaßstab "der groben Fehlerhaftigkeit" nicht gilt. Sie würde aber selbst diesem hohen Maßstab nicht Stand halten. Steuerrechtliche Tatbestände können mit dem Kriterium der sozialen Schutzbedürftigkeit aufgrund von Unterhaltslasten im Zusammenhang mit einem möglichen Arbeitsplatzverlust nicht ohne weiteres gleichgestellt werden. Weshalb bei einer Arbeitnehmerin mit der Lohnsteuerklasse IV ein gesetzlich unterhaltsberechtigtes Kind mit vier Punkten Berücksichtigung finden soll, bei einer Arbeitnehmerin mit der Lohnsteuerklasse V oder II jedoch nicht oder allenfalls zum Teil, hat auch die Beklagte nicht begründet. Die Art der (Nicht-)Berücksichtigung von unterhaltsberechtigten Kindern über die Eintragungen in der Lohnsteuerkarte hätte für einen Teil der Arbeitnehmer zum Ergebnis, dass über die Sozialauswahl mittelbar deren Entscheidung, die - beide Elternteile grundsätzlich gleichmäßig treffende - Unterhaltspflicht für ihre Kinder durch Erwerbseinkommen statt (ausschließlich) durch Betreuungsunterhalt zu erfüllen, unterlaufen würde (vgl. zur mittelbaren Diskriminierung: Horstkötter/Schiek, AOR 1998, 230).

Dass das Bundesarbeitsgericht bei Abfindungsregelungen in Sozialplänen das Abstellen auf Eintragungen in der Lohnsteuerkarte für rechtlich bedenkenfrei gehalten hat (BAG v. 12.03.1997 - NZA 1997, 1058) und es für die Ordnungsgemäßheit der Betriebsratsanhörung auch genügen kann, wenn die Zahl der unterhaltsberechtigten Personen entsprechend den Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte angegeben wird (LAG Köln v. 29.07.2004 - 5 Sa 63/04 -; LAG Schleswig-Holstein vom 10.08.2004 - NZA-RR 2004, 582; für den Insolvenzfall: LAG Hamm v. 01.08.1997 - LAGE § 102 BetrVG 1972 Nr. 62), hindert die Feststellung der groben Fehlerhaftigkeit nicht. Die Grundsätze zu den Sozialplänen und zu den Betriebsratsanhörungen sind auf die Sozialauswahl nicht übertragbar (Gaul/Lunk, NZA 2004, 187).

Die Beklagte hätte deshalb bei der Klägerin vier Sozialpunkte mehr in Ansatz bringen müssen. Dass die Klägerin in diesem Fall mit 56 Punkten auf der Liste zumindest die nicht entlassene Arbeitnehmerin T1xxxxxx (Nr. 33 der Liste mit 54,75 Punkten) erreicht und überholt hätte, hat die Beklagte nicht bestritten. Die Beklagte hat auch nicht geltend gemacht, dass ohne die Zugrundelegung der Daten aus der Lohnsteuerkarte die Sozialauswahl dennoch zu Lasten der Klägerin ausgefallen wäre.

3. Aus dem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses folgt der Anspruch der Klägerin auf tatsächliche Weiterbeschäftigung während der Dauer des Kündigungsrechtsstreits (BAG GS v. 27.02.1985 - EzA § 611 BGB Beschäftigungspflicht Nr. 9). Die Beklagte hat den dazu ergangen Feststellungen des Arbeitsgerichts auch nichts entgegengehalten.

4. Die Berufung der Beklagten war somit mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.

Der Streitwert aus der erstinstanzlichen Entscheidung hat sich für das Berufungsverfahren nicht geändert.

Die Berufungskammer hat die Revision gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen.

Ende der Entscheidung

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