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Gericht: Landesarbeitsgericht Hamm
Beschluss verkündet am 21.05.2008
Aktenzeichen: 10 TaBVGa 5/08
Rechtsgebiete: ArbGG, BetrVG


Vorschriften:

ArbGG § 85 Abs. 2
BetrVG § 50 Abs. 1
BetrVG § 95 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Beschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen vom 21.02.2008 - 1 BVGa 1/08 - wird zurückgewiesen.

Gründe:

A.

Der Betriebsrat begehrt im Wege der einstweiligen Verfügung von der Arbeitgeberin die Unterlassung der Anwendung eines Punktesystems beim bevorstehenden Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen.

Die Arbeitgeberin, ein Unternehmen mit bundesweit 74 Einzelhandelsfilialen betreibt u.a. in L1 ein Warenhaus mit ca.30 Arbeitnehmern. Im Betrieb in L1 ist ein dreiköpfiger Betriebsrat gebildet, der Antragsteller im vorliegenden Verfahren.

Ferner existiert im Unternehmen der Arbeitgeberin ein Gesamtbetriebsrat, der Beteiligte zu 3.

Am 08.11.2007 schloss die Arbeitgeberin mit dem Gesamtbetriebsrat einen Interessenausgleich ab, der einen unternehmensweiten Personalabbau von 502 Vollbeschäftigten vorsieht, um die Personalkosten des Unternehmens auf 12 % der jeweiligen Filiale, gemessen an dem geplanten Umsatz vom Stand 31.07.2007, der jeweiligen Filiale, zu reduzieren.

Von diesem vereinbarten Personalabbau ist auch die Filiale L1 betroffen.

Auf die Bestimmungen der Gesamtbetriebsvereinbarung vom 08.11.2007 (Bl. 7 ff d.A.) wird Bezug genommen.

Während der Interessenausgleichsverhandlungen wurde mit dem Gesamtbetriebsrat auch die Frage einer einheitlichen Sozialauswahl für alle Filialen diskutiert. Zu einer Regelung über eine einheitliche Sozialauswahl für alle Beschäftigten in den betroffenen Filialen kam es jedoch nicht, auch nicht in dem am 27.11.2007 abgeschlossenen Sozialplan.

Am 17.01.2008 übergab der Geschäftsleiter Henkel der Filiale L1 dem Betriebsrat eine Liste der in L1 beschäftigten Verkaufsmitarbeiter sowie ein Sozialpunkteschema, nach dem die Betriebszugehörigkeit je vollem Jahr der ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit mit 1 Punkt, das Lebensalter gestaffelt von 0 bis zu 9 Punkten, die Unterhaltspflichten mit 3 Punkten für Verheiratete und 5 Punkten für jedes unterhaltsberechtigte Kind laut Steuerkarte sowie die Schwerbehinderung mit 1 Punkt je 10 Grad der Behinderung bewertet wurde. Nach diesem Sozialpunkteschema (Bl. 13 d.A.), das für andere Filialen der Arbeitgeberin entwickelt worden war, wurde für alle Mitarbeiter des Betriebes in L1 die entsprechende Punktzahl errechnet (Bl. 14 ff d.A.).

Nachdem der Betriebsrat gegenüber der Arbeitgeberin bei der Erstellung von Auswahlrichtlinien ein Mitbestimmungsrecht nach § 95 BetrVG für sich in Anspruch genommen hatte, begann die Geschäftsleitung der Filiale in L1, die ebenfalls von der Gesamtbetriebsvereinbarung vom 08.11.2007 betroffen war, mit einer Reihe von Mitarbeitern Gespräche über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu führen. Mit Schreiben vom 21.01.2008 (Bl. 18 d.A.) forderte der Betriebsrat daraufhin die Geschäftsleitung auf, es zu unterlassen, das Punkteschema anzuwenden. Die Arbeitgeberin reagierte hierauf jedoch nicht.

Am 23.01.2008 gingen beim Betriebsrat Anhörungsschreiben zur betriebsbedingten Kündigung bzw. Änderungskündigung von sechs Arbeitnehmerinnen der Filiale L1 ein. Danach war die Sozialauswahl nach dem oben bezeichneten Punkteschema vorgenommen worden (Bl. 19 ff d.A.).

Mit dem am 25.01.2008 beim Arbeitsgericht Detmold eingeleiteten Beschlussverfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung machte der Betriebsrat daraufhin die Unterlassung der Anwendung dieses Punktesystems geltend.

Durch Beschluss des Arbeitsgerichts Detmold vom 01.02.2008 (48 ff d.A.) wurde das Verfahren unter Hinweis auf die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats an das Arbeitsgericht Gelsenkirchen verwiesen.

Der Betriebsrat hat die Auffassung vertreten, er könne von der Arbeitgeberin die Unterlassung der Anwendung des Punktesystems verlangen. Dieses von der Arbeitgeberin angewendete Punkteschema enthalte Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG, die mit dem zuständigen örtlichen Betriebsrat nicht abgestimmt seien. Das Mitbestimmungsrecht stehe dem örtlichen Betriebsrat zu, nicht dem Gesamtbetriebsrat, der gerade in dem mit der Arbeitgeberin ausgehandelten Interessenausgleich nicht festgelegt habe, nach welchen Kriterien die Sozialauswahl bei auszusprechenden betriebsbedingten Kündigungen erfolgen solle. Ein zwingendes Erfordernis einer betriebsübergreifenden Auswahlrichtlinie bestehe nicht, weil es bei der Sozialauswahl auf die Personalstruktur der einzelnen Filialen ankomme und die nach dem Interessenausgleich angestrebte Personalkostenquote unabhängig von dem Ergebnis der Sozialauswahl zu erreichen sei.

Auch der erforderliche Verfügungsgrund sei gegeben, weil der Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen und Änderungskündigungen unmittelbar bevorstehe. Es sei nicht auszuschließen, dass andere Arbeitnehmer/innen zu kündigen wären, wenn der Betriebsrat bei der Aufstellung des Punkteschemas mitbestimmt hätte.

Der Betriebsrat hat beantragt,

1. der Arbeitgeberin zu untersagen, ohne Zustimmung des Betriebsrats oder eine die Zustimmung ersetzende Entscheidung der Einigungsstelle bei Beendigungs- und Änderungskündigungen Punktesysteme anzuwenden, nach denen die Sozialauswahl der zu kündigenden Beschäftigten vorgenommen wird,

2. der Arbeitgeberin für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen ihre Verpflichtungen aus Ziffer 1 a) und b) ein Ordnungsgeld in Höhe von 100.000,00 Euro anzudrohen.

Die Arbeitgeberin hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, ein Unterlassungsanspruch stehe dem örtlichen Betriebsrat nicht zu. Für die Erstellung von Auswahlrichtlinien sei, wenn überhaupt, der Gesamtbetriebsrat zuständig, weil eine zwingende Notwendigkeit für die Regelung auf Unternehmensebene bestehe.

Der beteiligte Gesamtbetriebsrat, der keine Anträge gestellt hat, hat vorgetragen, er sei an der Erstellung des vorliegend angewendeten Punkteschemas nicht beteiligt worden. Zwar sei von der Arbeitgeberin im Rahmen der Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen ein Punkteschema für die Sozialauswahl vorgeschlagen worden. Aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zwischen den Einzelbetriebsräten und dem Gesamtbetriebsrat sei es aber zu einer Regelung hierüber nicht gekommen. Der Gesamtbetriebsrat habe seine Zuständigkeit für die Vereinbarung von Auswahlrichtlinien nicht annehmen können und im Übrigen wegen der Verantwortlichkeit des Unternehmens für die soziale Auswahl auch nicht für sinnvoll erachtet.

Durch Beschluss vom 21.02.2008 hat das Arbeitsgericht die Anträge des Betriebsrates abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, zwar könne auch ein Unterlassungsanspruch in Betracht kommen, wenn das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bei der Erstellung von Auswahlrichtlinien verletzt werde. Das Mitbestimmungsrecht stehe im vorliegenden Fall jedoch dem örtlichen Betriebsrat, sondern dem Gesamtbetriebsrat zu. Die Umsetzung des Interessensausgleichs und die Aufstellung von Auswahlrichtlinien müsse auf Unternehmensebene erfolgen.

Gegen den dem Betriebsrat am 27.02.2008 zugestellten Beschluss, auf dessen Gründe ergänzend Bezug genommen wird, hat der Betriebsrat am 28.02.2008 Beschwerde zum Landesarbeitsgericht eingelegt und diese zugleich begründet.

Der Betriebsrat ist der Auffassung, dass ein Unterlassungsanspruch nach wie vor gegeben sei. Auch wenn bislang unstreitig sechs Kündigungen von Mitarbeitern/Innen der Filiale L1 - 4 Beendigungskündigungen und 2 Änderungskündigungen - ausgesprochen seien, sei zumindest noch eine beabsichtigte Kündigung bislang nicht ausgesprochen worden. Insoweit handele es sich um die beabsichtigte Änderungskündigung der Mitarbeiterin G3, die allerdings Sonderkündigungsschutz nach § 15 KSchG genieße; ein Zustimmungsersetzungsverfahren sei beim Betriebsrat jedenfalls noch nicht eingeleitet worden.

Zu Unrecht habe das Arbeitsgericht angenommen, das Mitbestimmungsrecht bei der Erstellung von Auswahlrichtlinien stehe dem Gesamtbetriebsrat zu. Grundsätzlich vertrete der örtliche Betriebsrat die Interessen der Belegschaft gegenüber dem Unternehmen. Betriebsübergreifenden Auswahlrichtlinien bedürfe es im vorliegenden Fall nicht. Die bloße Zweckmäßigkeit einer Regelung auf Unternehmensebene könne die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats nicht begründen. Die Sozialauswahl nach § 1 Abs.3 KSchG sei vielmehr betriebsbezogen vorzunehmen, dabei sei auf die Verhältnisse in den einzelnen Filialen abzustellen.

Im Übrigen habe der Gesamtbetriebsrat trotz des abgeschlossenen Interessenausgleichs sich gerade nicht festgelegt, nach welchen Kriterien die Sozialauswahl habe durchgeführt werden sollen. Der Betriebsrat verfolge mit dem vorliegenden Verfahren auch nicht das Ziel, den Ausspruch von Kündigungen an sich zu verhindern. Er wolle lediglich verhindern, dass Kündigungen unter Anwendung eines nicht mitbestimmten Punktesystem ausgesprochen würden.

Der Gesamtbetriebsrat ist der Auffassung, dass für die Vereinbarung von Auswahlrichtlinien die jeweiligen Einzelbetriebsräte der betroffenen Filialen zuständig seien. Er behauptet, dass es anlässlich der Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen keine Erörterungen über die angeblich zwingende Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats zur Vereinbarung von Auswahlrichtlinien gegeben habe. Die Behauptung der Arbeitgeberin, wonach der Gesamtbetriebsrat die Absicht der Arbeitgeberin unterstützt habe, für alle Betriebe einheitlich eine soziale Auswahl vorzunehmen, sich daran jedoch nicht habe aktiv beteiligen wollen, sei unzutreffend. Auch aus der Sicht des Gesamtbetriebsrats gebe es keinen nachvollziehbaren Grund dafür, weshalb die zur Umsetzung der Betriebsänderung auf den Betrieb bezogene soziale Auswahl bei betriebsbedingten Kündigungen unternehmenseinheitlich hätte geregelt werden müssen.

Der Betriebsrat und der Gesamtbetriebsrat beantragen,

den Beschluss des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen vom 21.02.2008 - 1 BVGa 1/08 - abzuändern und der Arbeitgeberin zu untersagen, ohne Zustimmung des Betriebsrats oder eine die Zustimmung ersetzende Entscheidung der Einigungsstelle bei Beendigungs- und Änderungskündigungen Punktesysteme anzuwenden, nach denen die Sozialauswahl der zu kündigenden Beschäftigten vorgenommen wird, weiterhin der Arbeitgeberin für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen ihre Verpflichtung aus Ziff. 1 ein Ordnungsgeld in Höhe von 100.000,00 € anzudrohen

Die Arbeitgeberin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie verteidigt den angefochtenen Beschluss und hält nach wie vor den Gesamtbetriebsrat für die Vereinbarung von Auswahlrichtlinien für zuständig. Dies habe bereits das Arbeitsgericht Detmold in dem Verweisungsbeschluss erkannt. Wären die Einzelbetriebsräte bei der Aufstellung von Auswahlrichtlinien zuständig, könnte es insbesondere bei Änderungskündigungen und Versetzungsmaßnahmen zu unüberbrückbaren Ergebnissen kommen. Hieraus ergebe sich ein zwingendes Bedürfnis, die Auswahlrichtlinien auf Unternehmensebene zu vereinbaren. Die von der Arbeitgeberin beabsichtigte Betriebsänderung betreffe eben zahlreiche Betriebe des Unternehmens. Die Auswahlrichtlinien stünden in unmittelbarem Zusammenhang mit den durchzuführenden Personalanpassungsmaßnahmen. Dieses Anpassungskonzept werde unternehmenseinheitlich durchgeführt. Dem Konzept liege ein einheitlicher Berechnungsschlüssel zugrunde, der auf alle betroffenen Filialen flächendeckend und gleichermaßen anzuwenden sei. Gerade die Ermittlung der zu kündigenden Mitarbeiter in den jeweiligen Funktionsstufen und Funktionen führe dazu, dass die Frage nach einer Austauschkündigung und etwaiger Änderungskündigungen in anderen Filialen auf offene Stellen geprüft werden könne. Örtlich unterschiedliche Punkteschemata könnten dazu führen, dass örtliche Auswahlrichtlinien den gleichen Zugriff auf andere Stellen innerhalb der Betriebe, vor allem auf offene Stellen in anderen Filialen, verhindern würden.

Dass der Gesamtbetriebsrat von seinem Mitbestimmungsrecht keinen Gebrauch gemacht habe, führe nicht zur Zuständigkeit der Einzelbetriebsräte.

Im Übrigen wird auf den weiteren Inhalt der von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen Bezug genommen.

B.

Die zulässige Beschwerde des Gesamtbetriebsrats ist nicht begründet.

I.

Die Anträge sind zulässig.

Nach den §§ 2 a, 80 ArbGG ist das gewählte Beschlussverfahren die richtige Verfahrensart. Zwischen den Beteiligten ist eine Angelegenheit aus dem Betriebsverfassungsgesetz streitig. Die Beteiligten streiten nämlich um die Unterlassung der Anwendung eines Sozialpunkteschemas, für die der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht nach § 95 BetrVG in Anspruch nimmt.

Auch im Beschlussverfahren ist der Erlass einer einstweiligen Verfügung grundsätzlich zulässig, § 95 Abs. 2 Satz 1 ArbGG.

Die Antragsbefugnis des Betriebsrats sowie die Beteiligung der Arbeitgeberin und des Gesamtbetriebsrates am vorliegenden Verfahren ergeben sich aus den §§ 10, 83 Abs. 3 ArbGG. Durch die begehrte Entscheidung ist auch der Gesamtbetriebsrat in seiner betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsstellung unmittelbar betroffen. Die vom Betriebsrat der Filiale L1 begehrte Entscheidung betrifft auch die betriebsverfassungsrechtliche Stellung des Gesamtbetriebsrats. Würde dem Antrag des örtlichen Betriebsrates stattgegeben, stünde damit zugleich fest, dass das von ihm in Anspruch genommene Mitbestimmungsrecht dem Gesamtbetriebsrat nicht zusteht (BAG, 10.12.2002 - AP BetrVG 1972 § 95 Nr. 42; BAG, 31.05.2005 - AP BetrVG 1972 § 87 Lohngestaltung Nr. 125).

II.

Die vom Betriebsrat und vom Gesamtbetriebsrat gestellten Anträge sind jedoch unbegründet.

Ein Unterlassungsanspruch in dem begehrten Sinn steht dem Betriebsrat nicht zu. Dies hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt.

Der Betriebsrat kann von der Arbeitgeberin nicht im Wege der einstweiligen Verfügung die Unterlassung der Anwendung des nicht mitbestimmten Punktesystems verlangen. Für einen derartigen Unterlassungsanspruch fehlt es, unabhängig vom vorliegen eines Verfügungsanspruchs, bereits am notwendigen Verfügungsgrund i. S. des § 85 Abs. 2 ArbGG i. V. m. § 940 ZPO. Danach sind einstweilige Verfügungen auch im Beschlussverfahren nur zur Abwendung wesentlicher Nachteile zulässig.

1. Es besteht nicht die Besorgnis, dass die Verwirklichung eines Rechts des Betriebsrates ohne eine alsbaldige einstweilige Regelung vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Zur Abwendung dieser Gefahr muss die begehrte einstweilige Verfügung erforderlich sein. Dabei kommt eine einstweilige Verfügung, die aufgrund ihres Leistungsausspruches einen endgültigen Zustand schaffen würde, nur ausnahmsweise in Betracht. Angesichts dieser Tatsache ist eine umfassende Interessenabwägung erforderlich. Es kommt insoweit darauf an, ob die glaubhaft gemachten Gesamtumstände es in Abwägung der beiderseitigen Belange zur Abwendung wesentlicher Nachteile erforderlich erscheinen lassen, eine sofortige Regelung zu treffen (LAG Hamm, 19.04.1984 - LAGE GG Art. 9 Nr. 14 = NZA 1994, 130; LAG Hamm, 17.03.1987 - LAGE GG Art. 9 Nr. 39 = DB 1987, 846; LAG Hamm, 06.02.2001 - AiB 2001, 488). Dabei ist das Gewicht des drohenden Verstoßes und die Bedeutung der umstrittenen Maßnahme einerseits für den Arbeitgeber und andererseits für die Belegschaft angemessen zu berücksichtigen (BAG, 03.05.1994 - AP BetrVG 1972 § 23 Nr. 23 - unter B. III. 3. der Gründe). Bei dieser Abwägung können die Anforderungen an den Verfügungsgrund umso geringer sein, desto schwerer und offensichtlicher die drohende oder bestehende Rechtsverletzung ist (LAG Köln, 24.11.1998 - NZA 1999, 1008).

2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Beschwerdekammer einen Verfügungsgrund nicht annehmen können.

a) Zwar geht auch die Beschwerdekammer - ebenso wie das Arbeitsgericht in dem angefochtenen Beschluss - davon aus, dass dem Betriebsrat grundsätzlich ein Unterlassungsanspruch zusteht, wenn der Arbeitgeber bei der Erstellung und/oder Anwendung von Auswahlrichtlinien das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats verletzt. Ein Punkteschema für die soziale Auswahl ist auch dann eine nach § 95 Abs. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtige Auswahlrichtlinie, wenn es der Arbeitgeber nicht generell auf alle künftigen betriebsbedingten Kündigungen, sondern nur auf konkret bevorstehende Kündigungen anwenden will. Verletzt der Arbeitgeber in einem solchen Fall das Mitbestimmungsrecht, kann ihm auf Antrag des Betriebsrats die Wiederholung des mitbestimmungswidrigen Verhaltens auf der Grundlage des allgemeinen Unterlassungsanspruchs gerichtlich untersagt werden (BAG, 26.07.2005 - AP BetrVG 1972 § 95 Nr. 43; BAG, 06.07.2006 - AP BetrVG 1972 § 95 Nr. 48; Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG, 24. Aufl. § 95 Rn. 31; Däubler/Kittner/Klebe, BetrVG, 11. Aufl., § 95 Rn. 32; ErfK/Kania, 8. Aufl., § 95 BetrVG Rn. 18; GK-BetrVG/Oetker, 8. Aufl., § 23 Rn. 148; GK-BetrVG/Kraft/Raab, a.a.O., § 95 Rn. 23 m.w.N.).

b) Ob aber das Mitbestimmungsrecht nach § 95 BetrVG im vorliegenden Fall dem örtlichen Betriebsrat, dem Antragsteller des vorliegenden Verfahrens, oder dem Gesamtbetriebsrat, dem Beteiligten zu 3 zusteht, ist schon zwischen den Beteiligten des vorliegenden Verfahrens höchst streitig.

Zwar folgt aus der Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats, der vorliegend den Interessenausgleich vom 08.11.2007 mit der Arbeitgeberin abgeschlossen hat, nicht notwendig auch seine Zuständigkeit für den Abschluss eines Sozialplanes und ggf. auch für Auswahlrichtlinien (BAG, 11.12.2001 - AP BetrVG 1972 § 50 Nr. 22; BAG, 03.05.2006 - AP BetrVG 1972 § 50 Nr. 29). Nach der Kompetenzzuweisung des Betriebsverfassungsgesetzes ist der von den Arbeitnehmern gewählte örtliche Betriebsrat grundsätzlich auch für die Ausübung der gesetzlichen Mitbestimmungsrechte zuständig. Er hat die Interessen der Belegschaft des einzelnen Betriebsrats gegenüber dem Unternehmer wahrzunehmen. Dem Gesamtbetriebsrat ist diese Aufgabe nach § 50 Abs. 1 BetrVG nur für den Fall zugewiesen, dass die zu regelnde Angelegenheit nicht auf den einzelnen Betrieb beschränkt ist und deshalb die Interessen der Arbeitnehmer nicht mehr auf der betrieblichen Ebene gewahrt werden können. Dazu muss ein zwingendes Erfordernis nach einer betriebsübergreifenden Regelung vorliegen. Deren bloße Zweckmäßigkeit kann in den Angelegenheiten der zwingenden Mitbestimmung die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats nicht begründen (BAG, 10.12.2002 - AP BetrVG 1972 § 95 Nr. 42 - unter III.4.c) der Gründe; Fitting, a.a.O. § 95 Rn. 17; ErfK/Kania, a.a.O., § 95 BetrVG Rn. 9; Richardi/Thüsing, BetrVG, 11. Aufl., § 95 Rn. 57 m.w.N.). Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erscheint auch der Beschwerdekammer die Zuständigkeit des örtlichen Betriebrats bei der Erstellung von Auswahlrichtlinien im vorliegenden Fall als wenig wahrscheinlich. Vielmehr sprechen bei der im einstweiligen Verfügungsverfahren erforderlichen summarischen Überprüfung die überwiegenden Gründe für die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats.

Zwar ist ein zwingendes Erfordernis einer betriebsübergreifenden Regelung im vorliegenden Fall nicht schon wegen der Gleichartigkeit der angesprochenen Personenkreise und der Aufgaben in den einzelnen Betrieben zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen geboten. Allein der Umstand, dass eine unternehmerische Entscheidung für das Gesamtunternehmen getroffen worden ist, vermag die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats auch bei der Erstellung von Auswahlrichtlinien oder eines Punkteschemas für die Sozialauswahl der zu kündigenden Mitarbeiter nicht zu begründen. Es kann aber nicht unberücksichtigt bleiben, dass bei der Aufstellung von Auswahlrichtlinien und Punkteschemata in den jeweiligen einzelnen von der Betriebsänderung betroffenen Filialen der Arbeitgeberin vor dem Hintergrund einer anders gearteten Punktevorgabe in einer anderen Filiale die Durchsetzung der Betriebsänderung erschwert werden könnte. Die Anwendung unterschiedlicher Auswahlrichtlinien in den einzelnen Betrieben könnte nämlich zu unterschiedlichen Ergebnissen führen und dadurch die Durchführung der Betriebsänderung mindestens erheblich erschweren, wenn nicht gar verhindern. Hierauf haben bereits das Arbeitsgericht Detmold in dem Verweisungsbeschluss vom 01.02.2008 und auch das Arbeitsgericht in dem angefochtenen Beschluss zutreffend hingewiesen. Insoweit erscheint die Aufstellung einheitlicher Richtlinien zwingend geboten. Bereits aus diesem Grunde muss nach Auffassung der Beschwerdekammer das Ergebnis des Hauptsacheverfahrens, in dem die Zuständigkeit des örtlichen Betriebsrats bzw. des Gesamtbetriebsrats abschließend geklärt werden kann, abgewartet werden. In jedem Fall ist die Zuständigkeit des antragstellenden Betriebsrats für die Erstellung von Auswahlrichtlinien und die Anwendung des streitigen Punktesystems nicht offensichtlich gegeben.

c) Selbst wenn sich tatsächlich im Hauptsacheverfahren die Zuständigkeit des antragstellenden Betriebsrats herausstellen sollte, wären die sich hieraus ergebenden Nachteile für den Betriebsrat hinnehmbar. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung im derzeitigen Zeitpunkt erscheint auch insoweit nicht geboten. Zwischen den Beteiligten ist nämlich unstreitig, dass in der Filiale L1 sechs Kündigungen - vier Beendigungskündigungen und zwei Änderungskündigungen - bereits ausgesprochen worden sind. Für diese sechs Kündigungen hätte das Unterlassungsbegehren des Betriebsrates keine Auswirkungen mehr. Unstreitig ist in der Filiale L1 lediglich noch eine Änderungskündigung geplant, die das Betriebsratsmitglied G3 betrifft. Ob diese Kündigung in naher Zukunft ausgesprochen wird bzw. werden kann, und ob nicht zuvor ein Zustimmungsverfahren beim Betriebsrat bzw. ein Zustimmungsersetzungsverfahren beim Arbeitsgericht eingeleitet werden muss, steht noch aus. Seit der Einleitung des vorliegenden Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Verfügung im Januar 2008 ist jedenfalls diese Kündigung gegenüber dem Betriebsratsmitglied G3 bis zum Anhörungstermin vor der Beschwerdekammer am 21.05.2008 nicht ausgesprochen worden. Gerade im Hinblick darauf, dass lediglich noch eine Änderungskündigung gegenüber einem Betriebsratsmitglied - unter Anwendung des streitigen Punkteschemas - beabsichtigt ist, erscheinen die Überprüfungsmöglichkeiten des antragstellenden Betriebsrats - jedenfalls auch im Hinblick auf die Zustimmungsverweigerungsgründe des § 99 Abs. 2 Nr. 2, 3 und 4 BetrVG - nicht ausgeschlossen.

Ende der Entscheidung

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