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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Hamm
Urteil verkündet am 23.04.2004
Aktenzeichen: 13 (12) Sa 1832/03
Rechtsgebiete: TV-V, BGB


Vorschriften:

TV-V § 6 Abs. 4
TV-V § 10
TV-V § 10 Abs. 1 Satz 1
TV-V § 10 Abs. 1 Satz 2
TV-V § 10 Abs. 2
BGB § 291
BGB § 288
BGB § 611 Abs. 1
BGB § 612 Abs. 2
Die Höhe der Überstundenvergütung für Arbeitnehmer in rechtlich selbständigen Versorgungsbetrieben bemisst sich nach der individuellen Entgeltgruppenstufe und nicht allgemein nach der untersten Stufe der jeweiligen Entgeltgruppe.
Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Iserlohn vom 24.09.2003 - 1 Ca 2798/03 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Höhe des zu zahlenden Entgelts für geleistete Überstunden.

Der Kläger ist als Arbeitnehmer im Versorgungsbetrieb der Beklagten beschäftigt. Seit dem 01.01.2002 findet auf das Arbeitsverhältnis der Tarifvertrag Versorgungsbetriebe vom 05.10.2000 (im Folgenden kurz: TV-V) Anwendung. Der Kläger erhält eine Vergütung nach Entgeltgruppe 9 Stufe 4 des TV-V.

In der Vergangenheit leistete er insgesamt 225 Überstunden. Dafür erhielt er - neben Zeitzuschlägen - einen Stundensatz nach Entgeltgruppe 9 Stufe 1 TV-V in der ab 01.01.2002 geltenden Fassung in Höhe von 14,36 Euro statt einem Stundensatz in Höhe von 17,74 Euro nach Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TV-V.

Mit seiner der Beklagten am 27.08.2003 zugestellten Klage verlangt der Kläger die Zahlung der Differenz in Höhe von 760,50 Euro (225 Stunden x 3,38 Euro).

Er hat die Auffassung vertreten, das Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung gemäß § 10 TV-V sei entsprechend seiner individuellen Eingruppierung zu bemessen; andernfalls würde er untertariflich vergütet.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 760,50 Euro nebst 9,22 % Zinsen seit Rechtshängigkeit (27.08.2003) zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Meinung vertreten, der TV-V enthalte hinsichtlich der Bemessung der Vergütung für geleistete Überstunden eine Regelungslücke, die durch die tarifliche Bestimmung für die Bezahlung von Zeitzuschlägen nach § 10 Abs. 1 S. 2 TV-V zu schließen sei. Danach könne der Kläger "nur" ein Entgelt der Stufe 1 seiner Entgeltgruppe 9 TV-V verlangen.

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 24.09.2003 der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass der TV-V eine Regelungslücke enthalte, deren Schließung aber nicht geboten sei. Ein Anspruch des Klägers ergebe sich vielmehr aus § 612 Abs. 2 BGB, wonach in Konstellationen wie hier die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen sei. Dabei sei vom einschlägigen Tarifentgelt auszugehen. Dementsprechend müsse die Überstundenvergütung des Klägers auf der Grundlage der Stufe 4 der Entgeltgruppe 9 TV-V ermittelt werden.

Gegen das der Beklagten am 06.10.2003 zugestellte Urteil hat sie am 04.11.2003 Berufung eingelegt und diese am 28.11.2003 begründet.

Sie meint, § 10 Abs. 2 TV-V enthalte negativ eine Regelung für Überstunden, so dass § 612 Abs. 2 BGB gar nicht einschlägig sei. Es müsse von einer unbewussten Tariflücke ausgegangen werden, die wegen der unterschiedlichen Ausfüllungsmöglichkeiten nur von den Tarifvertragsparteien geschlossen werden könne, nicht aber von den Gerichten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Iserlohn vom 24.09.2003 - 1 Ca 2798/03 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass es im TV-V an einer Abrede zur Berechnung der Überstundenvergütung fehle. Deshalb sei § 612 Abs. 2 BGB einschlägig, so dass zur Bestimmung der üblichen Vergütung auf die konkrete tarifliche Entgeltbestimmung zurückzugreifen sei, hier also auf die Stufe 4 der Entgeltgruppe 9 TV-V.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte und zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Dem Kläger steht für die von ihm unstreitig geleisteten 225 Überstunden ein weiterer Entgeltbetrag in Höhe von 760,50 Euro brutto zu. Dieser errechnet sich aus der Differenz in Höhe von 3,38 Euro brutto pro Stunde zwischen den Stufen 1 und 4 der Entgeltgruppe 9 TV-V in der ab 01.01.2002 gültigen, auf der Basis des § 6 Abs. 4 TV-V erstellten "Stundenentgelttabelle für Arbeitnehmer nach § 6 Abs. 1 S. 1 (West)" als Anlage 3a zum TV-V.

I.

Unstreitig findet auf das Arbeitsverhältnis der Parteien - in jedem Fall kraft arbeitsvertraglicher Abrede - ab dem 01.01.2002 der TV-V vom 05.10.2000 Anwendung.

II.

Aus § 10 Abs. 1 Satz 1 TV-V in Verbindung mit § 611 Abs. 1 BGB folgt, dass der Kläger für die von ihm abgeleisteten Überstunden nach seiner individuellen Entgeltgruppenstufe 4 zu vergüten ist und nicht nach Stufe 1 der Entgeltgruppe 9 TV-V. Dies ergibt die Auslegung der einschlägigen tarifvertraglichen Bestimmungen.

Dabei ist - entsprechend den Grundsätzen der Gesetzesauslegung - zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen; maßgeblich ist aber auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, um so den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien zu ergründen und den beabsichtigten Sinn und Zweck der einschlägigen Tarifnorm zu ermitteln (vgl. z.B. BAG, Urteil vom 12.09.1984 - 4 AZR 336/82 - AP TVG § 1 Auslegung Nr. 135; zuletzt BAG, Urteil vom 18.03.2003 - 9 AZR 691/01 - NZA-RR 2004, 31).

Bei Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 10 Abs. 1 Satz 1 TV-V, dass der Kläger für die 225 Überstunden - neben den gewährten Zeitzuschlägen - ein "Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung" nach seiner individuellen Entgeltgruppenstufe verlangen kann. Indem die Tarifvertragsparteien nämlich an die tatsächliche Arbeitsleistung anknüpfen, bringen sie hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass es entscheidend auf die Tätigkeit des jeweiligen Arbeitnehmers ankommt. Wird die Vergütung dieser Tätigkeit nun im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit (§ 8 Abs. 1 Satz 1 TV-V) unter Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit und gegebenenfalls auch Leistungsgesichtspunkten (vgl. § 5 Abs. 2 TV-V) nach einer bestimmten Stufe bemessen, muss das konsequenterweise auch dann gelten, wenn über 38,5 Wochenstunden hinaus Arbeitsleistungen in Gestalt von Überstunden (vgl. § 9 Abs. 7 TV-V) erbracht werden. Denn auch in diesen Zeiten bringt der betroffene Arbeitnehmer seine mit zunehmenden Betriebszugehörigkeitszeiten z.B. verbundenen besonderen Erfahrungen ein und wird dem gegebenenfalls gesondert berücksichtigten Leistungsvermögen (§ 5 Abs. 2 Satz 4 TV-V) gerecht.

Das gewonnene Ergebnis wird bestätigt, wenn man beispielhaft den Fall eines nach der höchsten Entgeltgruppe 15 Stufe 6 TV-V vergüteten Beschäftigten nimmt, der in der Zeit ab dem 01.01.2002 nach der einschlägigen Entgelttabelle einen Stundensatz von 32,16 Euro erhielt. Würde man diesem Beschäftigten, wie es von der Beklagten vertreten wird, für berstunden ausschließlich nach Stufe 1 bezahlen, könnte er pro Stunde 21,53 Euro zuzüglich 6,46 Euro Zuschlag, insgesamt also 27,99 Euro beanspruchen. Damit bliebe er um 4,17 Euro unter seinem individuellen Stundensatz von 32,16 Euro, würde also für zusätzliche, in der Regel mit mehr Belastungen verbundene Arbeiten deutlich geringer vergütet.

Des Weiteren bekäme z.B. ein Teilzeitbeschäftigter, der im Sinne des § 9 Abs. 6 TV-V Mehrarbeit bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten leistet, im Falle des finanziellen Ausgleichs nach § 10 Abs. 2 TV-V je Stunde 100 % des auf eine Stunde entfallenden Anteils des individuellen monatlichen Entgelts, also im gebildeten Beispiel 32,16 Euro, während er bei darüber hinausgehenden Überstunden deutlich weniger erhalten würde.

Aus alledem wird deutlich, dass ein Arbeitnehmer gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 TV-V als Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung den nach seiner individuellen Stufe bemessenen Stundensatz verlangen kann (vgl. Herzberg/Schaum, Kommentar zum Tarifvertrag Versorgungsbetriebe, Kapitel B, Abschnitt 6, Rdnr. 14a, 16).

Daneben sind Zeitzuschläge zu erbringen, und nur für deren Bemessung gilt nach § 10 Abs. 1 Satz 2 TV-V ("Sie...") statisch die Stufe 1 der jeweiligen Entgeltgruppe.

Die darin zum Ausdruck kommende klare Trennung zwischen der Vergütung von Überstunden als solche und der Gewährung von Zeitzuschlägen nehmen die Tarifvertragsparteien in § 10 Abs. 1 Satz 4 und 5 TV-V wieder auf, wenn es um den Ausgleich im Rahmen eines Arbeitszeitkontos geht (vgl. auch § 11 Abs. 3 Satz 1 TV-V).

Somit kann festgestellt werden, dass die Tarifvertragsparteien in § 10 Abs. 1 Satz 1 TV-V entsprechend der Überschrift den Ausgleich für alle Sonderformen der Arbeit, also auch für die Überstunden, einer abschließenden Regelung mit dem im Wege der Auslegung gewonnenen Ergebnis einer individuellen Bemessung des Stundensatzes zugeführt haben.

Dementsprechend kann der Kläger die Nachzahlung des begehrten Betrages in Höhe von 760,50 Euro brutto verlangen.

Der Anspruch auf Zahlung von Zinsen in unstreitiger Höhe von 9,22 % folgt aus § 291 i.V.m. § 288 BGB.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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