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Gericht: Landesarbeitsgericht Hamm
Urteil verkündet am 03.04.2006
Aktenzeichen: 13 Sa 1027/05
Rechtsgebiete: BetrVG, KSchG


Vorschriften:

BetrVG § 102
KSchG § 17
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bochum vom 31.03.2005 - 3 Ca 3013/04 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.

Die am 24.02.1954 geborene Klägerin ist verheiratet und hat zwei Kinder. Seit dem 01.06.1991 steht sie als kaufmännische Angestellte in den Diensten der Beklagten. Zuletzt arbeitete sie mit 21,6 Wochenstunden und einer Bruttomonatsvergütung in Höhe von 1.375,80 € im Bereich der Kreditorenbuchhaltung. Dort war sie im Umfang von ca. 2/3 ihrer Gesamtarbeitszeit damit betraut, die Intrahandelsstatistik, in der alle Wareneingänge und Rechnungen über die im Ausland von der Beklagten erworbenen Produkte zur Vorlage beim Statistischen Bundesamt erfasst werden, anzufertigen und aufzuarbeiten. Daneben hatte sie Buchungen von Rechnungen egal welcher Herkunft vorzunehmen.

Die Beklagte, ein Unternehmen der Bekleidungsindustrie, hatte in der Vergangenheit gravierende Verluste zu verzeichnen. Im Zuge deshalb erforderlicher Umstrukturierungsmaßnahmen kam es ab Ende des Jahres 2003 zu erheblichen Personalabbaumaßnahmen. Auf der Basis zweier mit dem zuständigen Betriebsrat Verwaltung geschlossener Interessenausgleiche einschließlich Namenslisten vom 17.12.2003/09.01.2004 und vom 27.04.2004 erhielt die Klägerin zwei Kündigungen ihres damals noch bestehenden Vollzeitarbeitsverhältnisses, und zwar vom 21.01.2004 zum 30.06.2004 und hilfsweise vom 27.04.2004 zum 30.09.2004 (ArbG Bochum, 3 Ca 323/04). Im Juni 2004 kamen die Parteien überein, das Arbeitsverhältnis ab dem 01.07.2004 mit reduzierter Wochenstundenzahl (von 35 auf 21,6 Std.) fortzusetzen.

Im September 2004 kam es erneut zu Verhandlungen der Beklagten mit dem Betriebsrat Verwaltung über einen weiteren Abbau der zum damaligen Zeitpunkt noch bestehenden 698 (vormals 1056) Arbeitsplätze. Am 27.09.2004 schlossen die Betriebspartner einen Interessenausgleich mit Namensliste ab, wonach in Fortführung des eingeleiteten Personalabbaus insgesamt weiteren 59 Beschäftigten neu gekündigt werden sollte, darunter der Klägerin. Wegen des genauen Inhalts des Interessenausgleichs einschließlich der Namensliste wird verwiesen auf die mit Beklagtenschriftsatz vom 10.01.2005 eingereichten Kopien (Bl. 47 ff. d. A.).

Mit Schreiben vom 28.09.2004, zugegangen am Folgetag, wurde der Klägerin das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 28.02.2005 gekündigt.

Am 04.10.2004 zeigte die Beklagte der zuständigen Agentur für Arbeit per Fax ihre Absicht von Entlassungen an. Hierauf erging am 07.10.2004 ein behördlicher Bescheid, in dem es unter anderem heißt: "Die geplanten Entlassungen sind nach den in der Anzeige gemachten Angaben nicht anzeigepflichtig".

Mit einer beim Arbeitsgericht am 15.10.2004 eingegangenen Klage hat sich die Klägerin gegen die Wirksamkeit der Kündigung gewandt. Sie hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei sittenwidrig und verstoße gegen Treu und Glauben, weil sie erst einige Monate zuvor unter dem Eindruck zweier Kündigungen einer Stundenreduzierung zugestimmt habe und nunmehr Gefahr laufe, nur einen reduzierten Arbeitslosengeldanspruch zu haben.

Davon abgesehen liege ein gleichbleibender Arbeitsanfall vor, der nur von der selben Zahl von Arbeitnehmern erledigt werden könne.

Was die Sozialauswahl angehe, habe man diese - fehlerhafterweise - wohl nur auf die Abteilung beschränkt und nicht auf den gesamten Betrieb erstreckt. Im Übrigen seien in der Abteilung die Mitarbeiter P2xxxx, H1xxxxxxx, K2xxxxxx-K3xxxxxx, R1xxxxx, K4xxxxxxxxxx, B2xxxx und R2xxxx sowie weitere Arbeitnehmer mit ihr vergleichbar und weniger schutzwürdig.

Es müsse auch die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats bestritten werden. Augenscheinlich liege auch keine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige vor.

Die Klägerin hat beantragt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die arbeitgeberseitige Kündigung vom 28.09.2004 zum 28.02.2005 nicht aufgelöst wurde.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat behauptet, der Beschäftigungsbedarf habe sich im Bereich der Klägerin um drei Arbeitsplätze reduziert. Ursache dafür sei neben dem Erfordernis zur Personalkostensenkung der Verkauf von vier Unternehmen sowie das verminderte Umsatzziel mit der damit verbundenen Reduzierung von Lieferanten.

Im Rahmen der Sozialauswahl seien mit der Klägerin "nur" die fünf Arbeitnehmer P2xxxx, H2xxxxxxx, K2xxxxxx-K3xxxxxx, S3xxxxxx und M4xxxx vergleichbar gewesen. Die Mitarbeiterinnen H2xxxxxxx und K2xxxxxx-K3xxxxxx habe man als Leistungsträgerinnen aus der Sozialauswahl herausgenommen. Alle anderen Arbeitnehmer wiesen im Verhältnis zur Klägerin eine höhere Punktzahl auf.

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 31.03.2005 der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kündigung sei wegen einer Verletzung der Anzeigepflicht gemäß § 17 Abs. 1 KSchG i. V. m. § 134 BGB unwirksam. Im Anschluss an eine Entscheidung des EuGH vom 27.01.2005 sei bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung nämlich von der Abgabe der Kündigungserklärung als das mit dem Wort "Entlassung" bezeichnete Ergebnis auszugehen. Auf Vertrauensschutzgesichtspunkte könne sich die Beklagte nicht berufen.

Gegen dieses ihr am 27.04.2005 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 19.05.2005 Berufung eingelegt und diese am 27.06.2005 begründet.

Sie ist der Ansicht, der in § 17 KSchG verwandte Begriff der Entlassung könne nicht dahingehend ausgelegt werden, dass damit die Kündigungserklärung gemeint sei - auch als maßgebliches Ereignis für die Berechnung der Schwellenwerte. Im Übrigen führe ein Verstoß auch nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Auch müsse die Bindungswirkung des Bescheids der Agentur für Arbeit vom 07.10.2004 beachtet werden. Letztlich seien die Grundsätze zum Vertrauensschutz einschlägig.

Was die Anhörung des Betriebsrats angehe, habe man diesem am 16.09.2004 eine Gesamtpersonalliste übergeben mit dem Hinweis, auch das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG durchzuführen. Zu der vorgeschlagenen Auswahl habe man dem Betriebsrat erläutert, dass weiteren Arbeitnehmern gekündigt werden müsse, weil der im November 2003 begonnene Umbau von einem Konzernunternehmen zu einem mittelständischen DOB-Hersteller noch nicht abgeschlossen sei und weitere 3 Millionen Euro Personalkosten einzusparen seien. Im Zuge der folgenden Verhandlungen sei dann mit dem Betriebsrat, der aufgrund der vorangegangenen Personalabbaumaßnahmen bereits erhebliche Vorkenntnisse gehabt habe, für jeden einzelnen Arbeitsbereich die Situation detailliert erörtert worden.

Am 24.09.2004 sei schwerpunktmäßig der Bereich Kreditorenbuchhaltung verhandelt worden. Die Personalleiterin S3xx habe im Bezug auf den Arbeitsplatz der Klägerin erläutert, dass im Zuge von Rationalisierungen die Intrahandelsstatistik nur noch ein Mal im Monat erfolge, wobei in Folge von Umstrukturierungsmaßnahmen lediglich ein Aufwandsvolumen von ca. drei Arbeitstagen im Monat verbleibe. Sonstige (unterstützende) Tätigkeiten der Klägerin sollten wieder durch die die Rechnungen buchenden Kreditoren-Mitarbeiter, bei denen freie Kapazitäten vorhanden seien, erfolgen.

Weiterhin sei auch erörtert worden, die Mitarbeiter H2xxxxxxx und K5xxxxxx-K3xxxxxx trotz geringerer Punktzahl als Leistungsträger aus der Sozialauswahl herauszunehmen. So habe man im Falle H2xxxxxxx herausgestrichen, sie verfüge - anders als die Klägerin - über sehr gute Englisch-Kenntnisse, die erforderlich wären für die Bearbeitung der Auslandslieferantenrechnungen. Auch habe man betont, die Klägerin könne die Arbeiten auch deshalb nicht übernehmen, weil sie etwa Rechnungen nicht selbständig einbuchen könne. Entsprechendes sei im Falle Kxxxxx-Kxxxxxxxx erörtert worden, die ausschließlich originär buchhalterische Tätigkeiten versehe, die von der Klägerin nicht ausgeführt worden seien.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Bochum vom 31.03.2005 - 3 Ca 3013/04 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bestreitet, dass eine Anhörung des Betriebsrats speziell zu den Hintergründen ihrer Kündigung stattgefunden habe. Es habe zu keiner Zeit eine konkrete Darlegung der Beklagten über den Arbeitskräfteüberhang insgesamt und speziell in den einzelnen Abteilungen gegeben. Lediglich sei ohne weitere Erläuterung mitgeteilt worden, Personalkosten im Umfang von 3 Millionen Euro müssten eingespart werden.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen A1xxxxxxx und D3xxxxxxx. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird verwiesen auf die Sitzungsniederschrift vom 03.04.2006 (Bl. 286 ff. d. A.).

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet, weil die ordentliche Kündigung vom 28.09.2004 rechtsunwirksam ist.

I.

Dies ergibt sich allerdings entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts nicht bereits aus Rechtsgründen gemäß § 17 Abs. 1 KSchG i. V. m . § 134 BGB.

Selbst wenn man in dem Zusammenhang im Zuge einer richtlinienkonformen Auslegung der Entscheidung des EuGH vom 27.01.2005 folgt und im Rahmen des § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG auf den Ausspruch der Kündigung abstellt, ist problematisch, ob ein Verstoß die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge hat oder "nur" dazu führt, dass die Entlassung nicht vollzogen werden kann (BAG, Urteil vom 23.03.2006 - 2 AZR 343/05 - Pressemitteilung Nr. 18/06).

Ausschlaggebend ist hier, dass die Beklagte im Kündigungszeitpunkt Ende September 2004 auf die bis zum Bekanntwerden der EuGH-Entscheidung vier Monate später geltende ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und die durchgängige Verwaltungspraxis der Agenturen für Arbeit, konkret bestätigt durch den Bescheid vom 07.10.2004, vertrauen durfte, die eine Anzeige rechtzeitig vor der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausreichen ließen. Einem Arbeitgeber können nämlich aus rechtsstaatlichen Gründen nicht rückwirkend Handlungspflichten auferlegt werden, mit denen er nicht zu rechnen brauchte und die er nachträglich nicht mehr erfüllen kann (BAG, a.a.O.; LAG Hamm NZA-RR 2006, 135; LAG Hamm, Urteil vom 19.10.2005 - 2 Sa 481/05).

II.

Die streitbefangene Kündigung ist aber gemäß § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG (analog) unwirksam. Denn aufgrund des Ergebnisses der am 03.04.2006 durchgeführten Beweisaufnahme kann nicht festgestellt werden, dass der zuständige Betriebsrat Verwaltung im Vorfeld ordnungsgemäß im Sinne des § 102 Abs. 1 S. 1, 2 BetrVG angehört worden ist.

Nach der zutreffenden ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (zuletzt BAG AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 134 m. w. N.) ergibt sich weder aus dem Wortlaut noch aus Sinn und Zweck des § 1 Abs. 5 KSchG ein Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber beim Vorliegen eines Interessenausgleichs mit Namensliste - wie hier - die Anwendung des § 102 BetrVG ausschließen bzw. einschränken wollte (zustimmend z.B. KR/Etzel, 7. Aufl., § 1 KSchG Rdnr. 705).

Dementsprechend hat der Arbeitgeber auch in dieser Konstellation dem Betriebsrat die aus seiner Sicht subjektiv tragenden Kündigungsgründe so zu beschreiben, dass der Betriebsrat den Sachverhalt unter Einsatz bereits vorhandenen Wissens verstehen und ohne zusätzliche eigene Nachforschungen Alternativen zur beabsichtigten Kündigung aufzeigen kann (z.B. zuletzt BAG, Urteil v. 06.10.2005 - 2 AZR 280/04; AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 142 m. w. N.).

Der so umschriebenen Mitteilungspflicht ist die Beklagte nach dem Ergebnis der Vernehmung der Betriebsratsvorsitzenden und ihres Stellvertreters nicht gerecht geworden. Es ist danach dem Betriebsrat namentlich nicht ausreichend erklärt worden, warum aus Sicht der Beklagten nach Ablauf der Kündigungsfrist der Arbeitsplatz der Klägerin wegfallen sollte. So haben die beiden Zeugen nicht bestätigt, dass sie am 16. und/oder 24.09.2004 über die Gründe für den Rückgang des Arbeitsvolumens im Bereich der Intrahandelsstatistik und über die Zurückverlagerung der weiteren bislang von der Klägerin verrichteten Tätigkeiten auf die Kreditoren-Mitarbeiter unterrichtet worden sind. Dieser Informationen hätte es aber bedurft, damit auf Seiten des Betriebsrats der Wegfall des Beschäftigungsbedarfs für die Klägerin kompetent hätte nachvollzogen werden können.

In dem Zusammenhang hat sich nur die Zeugin A1xxxxxxx als Betriebsratsvorsitzende noch an die (geplante) Einführung eines EDV-Programms im Bereich der Intrahandelsstatistik erinnern können, das nach den eigenen Angaben der Beklagten aber bereits im Sommer 2004 nicht zuletzt auch aufgrund von Einwendungen des Betriebsrats gestoppt worden war.

An andere Einzelheiten zu den Gründen für den Abbau des Arbeitsplatzes der Klägerin konnte sich die Zeugin aber ebenso wenig erinnern wie ihr Stellvertreter, der Zeuge D3xxxxxxx. Dies verwundert nicht weiter, wenn man berücksichtigt, dass der Betriebsrat seit November 2003 in mehreren Etappen über mehr als 10 Monate mit Personalabbaumaßnahmen im Volumen von insgesamt mehreren 100 Arbeitsplätzen in unterschiedlichen Abteilungen zu unterschiedlichen Zeiten befasst war, das konkrete Geschehen mehr als 1 1/2 Jahre zurückliegt und es arbeitgeberseits nicht für erforderlich gehalten wurde, den Betriebsrat (zumindest auch) schriftlich zu informieren.

Bezeichnenderweise ist auch im Interessenausgleich vom 27.09.2004 an keiner Stelle genauer ausgeführt, warum die Arbeit von insgesamt weiteren 59 Mitarbeitern in Wegfall kommen sollte; vielmehr finden sich dort namentlich unter § 4 "nur" Hinweise auf eine Personalliste mit Informationen, die ausschließlich im Rahmen der Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 KSchG) relevant waren.

Nach alledem geht es im Rahmen des § 102 Abs. 1 BetrVG zu Lasten der insoweit beweispflichtigen Beklagten, wenn der Sachverhalt in Bezug auf den Wegfall der bislang von der Klägerin verrichteten Tätigkeiten nicht weiter aufgeklärt werden konnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben.

Ende der Entscheidung

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