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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Hamm
Beschluss verkündet am 17.08.2007
Aktenzeichen: 13 TaBV 30/07
Rechtsgebiete: BetrVG


Vorschriften:

BetrVG § 37 Abs. 6 S. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Beschwerde der Arbeitgeberin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Minden vom 18.01.2007 - 1 BV 34/06 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt lautet:

Die Arbeitgeberin wird verpflichtet, den Betriebsratsvorsitzenden B4 von der Verbindlichkeit in Höhe von 267,50 Euro gegenüber der ver.di Bildung + Beratung gGmbH aus der Rechnung vom 19.05.2006, Nr. 123456, freizustellen.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe:

A.

Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten für die Teilnahme des Betriebsratsvorsitzenden an dem eintägigen Seminar "Tarifabschluss im Einzelhandel NRW".

Die Arbeitgeberin, bei der etwa 300 Arbeitnehmer beschäftigt sind, ist innerhalb der P1- M1-Gruppe ein Unternehmen der Logistikbranche, das keinem Arbeitgeberverband angehört.

Die Arbeitgeberin hat den Bereich "Logistik" zum 01.01.2003 im Wege eines Betriebsübergangs von der P1 M1 Handelsgesellschaft GmbH & Co. KG F1 u. G3 übernommen. Diese Gesellschaft war bis zum 31.12.2001 Mitglied eines tarifschließenden Arbeitgeberverbandes des Einzelhandels NRW. In den bei ihr zuvor geschlossenen Arbeitsverträgen heißt es z.B.: "Die Arbeitsbedingungen richten sich nach den jeweiligen tariflichen Bestimmungen des Einzelhandels" (= Arbeitnehmer B5) oder "Der jeweilige Manteltarifvertrag für den Einzelhandel sowie der Lohn- und Gehaltstarifvertrag für den Einzelhandel sind Inhalt dieses Anstellungsvertrages" (= Arbeitnehmer B4).

Nachdem die letzte Tarifbindung an den MTV Einzelhandel NRW mit Ablauf des 31.03.2003 entfallen war, teilte die Arbeitgeberin durch ihren damaligen Geschäftsführer F1 dem Betriebsrat im Schreiben vom 11.04.2003 unter anderem folgendes mit:

...

die P1 M1 L1 GmbH & Co.KG für Westfalen ist kein Einzelhandelsunternehmen und unterliegt als Firma nicht dem Einzelhandelstarifvertrag.

Unabhängig davon, ist mit den Mitarbeitern in den Arbeitsverträgen die Wirkung des Einzelhandelstarifvertrages vereinbart worden. Für alle Mitarbeiter, die diese Vereinbarung haben, gelten mit arbeitsrechtlicher Wirkung auch in Zukunft für den jeweiligen Mitarbeiter die Bestimmungen des Einzelhandelstarifvertrages Nordrhein-Westfalen. Alle zukünftigen Mitarbeiter werden eine Tarifbindung zum Einzelhandelstarifvertrag nicht mehr besitzen.

Die für den Einzelhandel NRW im Jahre 2003 vereinbarte Tariflohnerhöhung (1,6 % ab 01.07.2003 zuzüglich Pauschalzahlungen für die vorangegangenen drei Monate) gab die Arbeitgeberin in vollem Umfang an ihre Mitarbeiter weiter.

Nachdem im Februar 2006 im genannten Tarifbereich neue Tarifverträge abgeschlossen worden waren, lehnte die Arbeitgeberin gegenüber dem Betriebsrat am 28.04.2006 die Übernahme ab, worüber der Betriebsrat am 11.05.2006 die Belegschaft informierte.

Am 18.05.2006 fasste der Betriebsrat dann den Beschluss, den Vorsitzenden zu einem eintägigen Seminar am 01.06.2006 mit dem Thema "Tarifabschluss im Einzelhandel NRW" zu entsenden. Wegen des genauen Inhalts und der Durchführungsmodalitäten wird verwiesen auf das mit Antragsschriftsatz vom 18.08.2006 in Kopie eingereichte Seminarangebot (Bl. 6 f. d. A.).

Die Arbeitgeberin lehnte den begehrten Besuch des Seminars mit Schreiben vom 22.05.2006 ab.

Nach erfolgter Seminarteilnahme erhielt der Betriebsratsvorsitzende eine an ihn gerichtete Rechnung der ver.di Bildung + Beratung Gemeinnützige GmbH vom 19.05.2006 über einen Betrag in Höhe von 267,50 € (Bl. 10 d. A.).

Nachdem die Arbeitgeberin in der Folgezeit die Erstattung ablehnte, leitete der Betriebsrat das vorliegende Beschlussverfahren ein.

Er hat die Auffassung vertreten, die Teilnahme an dem Seminar sei erforderlich gewesen, weil unverändert Streit darüber bestehe, ob die Tarifregelungen des Einzelhandels NRW im Betrieb dynamisch fortgelten würden.

Der Betriebsrat hat beantragt,

die Arbeitgeberin zu verpflichten, den Betriebsratsvorsitzenden B4 von den Schulungskosten seiner Teilnahme an dem Seminar "Tarifabschluss im Einzelhandel NRW" am 01.06.2006 in K2 gegenüber der ver.di Bildung + Beratung gGmbH, M4 W3 123, 45678 D4, aus der Rechnung mit der Nr. 123456 vom 19.05.2006 über einen Betrag von 267,50 € freizustellen und an die ver.di Bildung und Beratung gGmbH 267,50 € nebst Zinsen von jeweils fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26.08.2006 zu zahlen.

Die Arbeitgeberin hat beantragt,

den Antrag abzuweisen.

Sie hat zum Ausdruck gebracht, dass die neu abgeschlossenen Einzelhandelstarifverträge in ihrem Betrieb nicht mehr gelten würden. Schon deshalb habe keine Notwendigkeit für den Betriebsratsvorsitzenden bestanden, sich dazu über einen Zeitraum von sieben Stunden schulen zu lassen.

Das Arbeitsgericht hat mit Beschluss vom 18.01.2007 dem Antrag stattgegeben. Hinsichtlich der Begründung wird Bezug genommen auf B. der Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung.

Gegen diesen ihr am 09.02.2007 zugestellten Beschluss hat die Arbeitgeberin am 22.02.2007 Beschwerde eingelegt und sie am 10.04.2007, dem Dienstag nach Ostern, begründet.

Sie meint, es habe kein aktueller Anlass für den Besuch der Schulungsveranstaltung bestanden, weil der Tarifabschluss im Einzelhandel aus dem Jahre 2006 für den Betrieb keine Bedeutung mehr habe. So lasse sich weder aus den abgeschlossen Alt-Arbeitsverträgen noch aus Aussagen des ehemaligen Geschäftsführers F1 eine dynamische Weitergeltung der Tarifverträge des Einzelhandels NRW ableiten.

Selbst wenn die aktuellen tariflichen Vergütungsregelungen weiter einschlägig seien, rechtfertige das nicht den Besuch eines siebenstündigen Seminars.

Der Arbeitgeber beantragt,

den Beschluss des Arbeitsgerichts Minden vom 18.01.2007 - 1 BV 34/06 - abzuändern und den Antrag abzuweisen.

Der Betriebsrat beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er vertritt die Auffassung, die Alt-Arbeitsverträge beinhalteten dynamische Verweisungen. Davon abgesehen lasse sich dem Schreiben des ehemaligen Geschäftsführers F1 vom 11.04.2003 eine entsprechende Zusicherung entnehmen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze nebst Anlagen ergänzend Bezug genommen.

B.

Die zulässige Beschwerde der Arbeitgeberin ist unbegründet.

Zu Recht und mit zutreffender Begründung ist das Arbeitsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Arbeitgeberin den Betriebsratsvorsitzenden B4 von den Schulungskosten gemäß Rechnung der ver.di Bildung + Beratung gGmbH vom 19.05.2006 in Höhe von 267,50 € freizustellen hat.

Ein entsprechender Anspruch des Betriebsrates ergibt sich aus § 40 Abs. 1 i. V. m. § 37 Abs. 6 S. 1 BetrVG.

Nach § 40 Abs. 1 BetrVG hat der Arbeitgeber für die durch die Tätigkeit des Betriebsrates entstandenen Kosten aufzukommen. Dazu gehören auch die Kosten, die anlässlich der Teilnahme eines Betriebsratsmitglieds an einer Schulungsveranstaltung nach § 37 Abs. 6 S. 1 BetrVG entstandenen sind, sofern das dort vermittelte Wissen für die Betriebsratsarbeit erforderlich ist. Davon ist auszugehen, wenn die erworbenen Kenntnisse unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse im Betrieb und im Betriebsrat notwendig sind, damit der Betriebsrat seine gegenwärtigen oder in naher Zukunft anstehenden Aufgaben sach- und fachgerecht erfüllen kann (zuletzt BAG AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 136).

Bei dem Merkmal der Erforderlichkeit handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, bei dessen Ausfüllung dem Betriebsrat, abgestellt auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung, ein gewisser Beurteilungsspielraum zusteht, innerhalb dessen die Entscheidung so oder so ausfallen kann. Dabei hat der Betriebsrat sich allerdings nicht nach seinen subjektiven Vorstellungen zu richten; vielmehr muss er sich auf den Standpunkt eines verständigen Dritten stellen, der die Interessen des Betriebs einerseits und die des Betriebsrates und der Arbeitnehmerschaft andererseits gegeneinander abzuwägen hat (BAG AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 58, 67).

Gemessen an diesen Maßstäben war die Teilnahme des Betriebsratsvorsitzenden an der eintägigen Schulung zu den tarifvertraglichen Neuerungen im Einzelhandel NRW erforderlich.

Dabei ist vorauszuschicken, dass es allgemein zumindest für ein Betriebsratsmitglied notwendig ist, sich jeweils aktuell Kenntnisse über den (geänderten) Inhalt von Tarifverträgen zu verschaffen, sofern diese im Betrieb, wenn auch "nur" auf arbeitsvertraglicher Grundlage (vgl. BAG AP BetrVG 1972 § 80 Nr. 61), zur Anwendung gelangen (vgl. BAG AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 4; LAG Hamm DB 1981, 1678; ArbG Aachen ARST 1975, 163; Fitting, 23. Aufl., § 37 Rdnr. 149; GK-BetrVG/Weber, 8. Aufl., § 37 Rdnr. 169). Denn nur dann ist es dem Betriebsrat möglich, im Rahmen des § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG über deren ordnungsgemäße Durchführung zu wachen. Er benötigt dieses Wissen auch, um zum Beispiel im Rahmen seiner Mitbestimmungsrechte gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10, 11 BetrVG abschätzen zu können, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang ein Tarifvorrang (§ 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG) besteht und ob bei personellen Einzelmaßnahmen eine tarifvertragliche Bestimmung tangiert ist (vgl. § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG).

Vorliegend ist allerdings zwischen den Beteiligten umstritten, ob das Tarifwerk des Einzelhandels NRW weiterhin dynamisch im Betrieb zur Anwendung kommt. Es fällt aber in den bestehenden gesetzlichen Beurteilungsspielraum, wenn der Betriebsrat bei seiner Beschlussfassung am 18.05.2006 davon ausging, die eintägige Schulung eines Betriebsratsmitgliedes zu den tarifvertraglichen Änderungen im Einzelhandel sei erforderlich. Aus der maßgeblichen Sicht eines verständigen Dritten war nämlich die juristisch umstrittene Frage der dynamischen Weitergeltung des gesamten Tarifwerks im Betrieb der Arbeitgeberin nicht ohne weiteres zu entscheiden. Dazu hat die Arbeitgeberin selbst mit beigetragen, indem sie zum Beispiel, ohne aus ihrer Sicht dazu verpflichtet zu sein, im Jahre 2003 die vereinbarten Tariflohnerhöhungen einschränkungslos an ihre Arbeitnehmer weitergab. Auch die Aussagen in dem an den Betriebsrat am 11.04.2003 gerichteten Schreiben zur "Tarifzugehörigkeit" geben nicht unmissverständlich wieder, dass bei einzelvertraglicher Inbezugnahme die Tarifverträge in Zukunft nur statisch weitergelten sollten. Davon abgesehen wird zum Beispiel im Arbeitsvertrag des Beteiligten B4 in § 1 "nur" Bezug genommen auf den MTV Einzelhandel und den Lohn- und Gehaltstarifvertrag, während man sich bei dem Arbeitnehmer B5 unter Ziffer 2 des Arbeitsvertrages auf die "jeweiligen tariflichen Bestimmungen des Einzelhandels" bezieht, also zum Beispiel unter Einschluss des Tarifvertrages über Sonderzahlungen.

Hinzu kommt, dass das Bundesarbeitsgericht ein halbes Jahr vor der Beschlussfassung des Betriebsrates in seiner Entscheidung vom 14.12.2005 (4 AZR 536/04 - NZA 2006, 607) für die ab 01.01.2002 abgeschlossenen Arbeitsverträge eine Änderung der Rechtsprechung zur Auslegung der arbeitsvertraglichen Gleichstellungsabrede angekündigt hatte; danach sollen dynamische Verweisungen in Arbeitsverträgen auf einschlägige Tarifverträge und Tarifwerke fortan nicht mehr stets als bloße Gleichstellungsklauseln zu verstehen sein. Allerdings hat der Senat - im Widerspruch zur Regelung des Übergangsrechts in Artikel 229 § 5 S. 2 EGBGB (vgl Giesen, NZA 2006, 625, 628) - für die vor dem 01.01.2002 geschlossenen sogenannten Altverträge aus Gründen des Vertrauensschutzes angekündigt, die alte Auslegungsregel, wonach die vertragliche Einbindung in die (dynamische) Tarifentwicklung mit dem Wegfall der Tarifbindung auf Arbeitgeberseite endet, weiterhin anzuwenden.

Wenn in dieser Situation der Betriebsrat, ohne im Einzelnen über die einschlägige Ausgestaltung der bei der Arbeitgeberin ab dem 01.01.2002 abgeschlossenen Arbeitsverträge orientiert zu sein, in Kenntnis des am 11.04.2003 verfassten, nicht ganz klaren arbeitgeberseitigen Schreibens am 18.05.2006 zu der Entscheidung gelangt ist, den Vorsitzenden zu einer eintägigen Schulung über die Ergebnisse des aktuellen Tarifabschlusses im Einzelhandel NRW zu entsenden, hat er sich dabei im Rahmen des ihm gesetzlich eingeräumten Beurteilgungsspielraumes gehalten. Denn wegen des "in seinen Folgen noch nicht vollständig klaren Rechtsprechungswandels" (so ErfK/Franzen, 7. Aufl., § 3 TVG Rdnr. 36) war es sachgerecht, wenn der Betriebsrat sich über die Fortentwicklung des Tarifwerks im nordrhein-westfälischen Einzelhandel auf dem Laufenden hielt, um gegebenenfalls seinen Pflichten zum Beispiel gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG jederzeit kompetent nachkommen zu können. Dies wäre von vornherein unmöglich, wenn man ihm einen Schulungsbedarf versagen würde, sich aber irgendwann in laufenden gerichtlichen Urteilsverfahren herausstellen würde, dass das genannte Tarifwerk (ganz oder zum Teil) weiterhin zumindest für einen Teil der Arbeitnehmer dynamisch weitergegolten hat.

Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde sind nicht gegeben.

Ende der Entscheidung

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