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Gericht: Landesarbeitsgericht Hamm
Urteil verkündet am 07.03.2007
Aktenzeichen: 18 Sa 1839/06
Rechtsgebiete: EZFG, BGB, SGB X


Vorschriften:

EZFG § 3 Abs. 1
EZFG § 4 Abs. 1
BGB § 611 Abs. 1
SGB X § 115 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Siegen vom 11.10.2006 - 2 Ca 751/06 - wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.821,38 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31.05.2006 zu zahlen.

Die Kosten der Berufung werden der Beklagten auferlegt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin macht gegen die Beklagte als Arbeitgeberin ihres Versicherten M3xxxx M2xxx Entgeltfortzahlungsansprüche im Krankheitsfall für die Zeit vom 01.05.2005 bis zum 22.05.2005 aus übergegangenem Recht geltend.

Der am 12.01.13xx geborene Versicherte M3xxxx M2xxx ist seit dem 01.09.1997 im Betrieb der Beklagten als Maschineneinrichter und Maschinenbediener an Schraubenpressen tätig. Zu den Bedienungstätigkeiten gehören regelmäßig auch Einstellarbeiten an diesen Maschinen.

Am 19.04.2005 hatte er die Schraubenpresse AT-1010 umzurüsten. Dazu musste er ein Abschneidmesser, das jeweils für den gerade konkret verwendeten Draht eingesetzt wird, vom Messerbalken lösen und durch ein neues Messer ersetzen. Das Messer wird durch gekonterte Muttern vom Typ M 16 am Messerbalken befestigt. Am Messerbalken befand sich an diesem Tag nicht eine ordnungsgemäße M 16 Mutter, sondern eine auf etwa die Hälfte der normalen Höhe abgedrehte Mutter. Der Versicherte M2xxx setzte einen Ringschlüssel an, der von der abgedrehten Mutter nur zur Hälfte ausgefüllt wurde. Bei dem Versuch, diese abgedrehte Mutter zu lösen, rutschte er mit dem Ringschlüssel ab und schlug mit der rechten Hand gegen den Maschinenkörper. Dabei zog er sich eine Platzwunde am rechten Zeigefinger mit einer Endgliedfraktur zu. Wegen der Einzelheiten der Verletzung wird auf den Durchgangsarztbericht des D2. K5xxx D3xxxx vom 19.04.2005 (Bl. 5 d.A.) verwiesen.

Die letzte Generalüberholung der Schraubenpresse AT-1010 durch den japanischen Hersteller fand am 01.12.2003 statt. Nach der Ersatzteilliste wurde keine Mutter ausgetauscht. Weder bei dem Angebot noch bei der Bestellung der Reparatur wurde eine M16-Mutter aufgelistet oder berechnet (siehe Schreiben der Firma S4xxx S6xxxx vom 17.08.2006, Bl. 74 d.A.).

Am 07.02.2005 wurde durch den in der Instandhaltung beschäftigten Mitarbeiter M1xx, der zum damaligen Zeitpunkt noch Sicherheitsbeauftragter war, eine Störung im Materialeinzug dieser Maschine beseitigt. Materialeinzug und Messerbalken stehen in einem unmittelbaren aufeinanderfolgenden Bezug. Eine fehlerhafte Mutter am Messerbalken wurde von dem Mitarbeiter M1xx in diesem Zusammenhang nicht gemeldet oder ausgetauscht.

Die letzte Umrüstung des Messerbalkens fand am 07.04.2005 in der Zeit zwischen 13.19 Uhr und 19.45 Uhr statt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Versicherte M2xxx Spätschicht von 13.15 Uhr bis 20.33 Uhr und war an dieser Presse eingesetzt.

Bei der Beklagten besteht die Anweisung, dass etwaige Mängel an einer Maschine unverzüglich zu melden sind. Die Meldung hat gegenüber der Instandhaltung, dem Meister oder der bei der Beklagten beschäftigten freigestellten Sicherheitsfachkraft zu erfolgen. Bei der Beklagten finden regelmäßig Belehrungen aller Mitarbeiter über dieses Vorgehen in solchen Fällen statt. Die letzte Arbeitssicherheitsunterweisung des Versicherten M2xxx, die sich mit der Manipulation von Sicherheitseinrichtungen an Maschinen und der Erläuterung von Betriebsanweisungen hierzu befasste, fand am 11.03.2004 statt.

Im Rahmen der Untersuchung des Unfalls durch den Dipl.-Ingenieur W4. M4xxxx konnte nach dem Unfalluntersuchungsbericht vom 05.09.2005 nicht geklärt werden, wann und durch wen die abgedrehte Mutter zur Befestigung des Abschneidmessers angebracht war. An der Maschine AT-1010 werden täglich mehrere Schichten gefahren. Der Versicherte M2xxx war nicht allein an dieser Maschine tätig. In dem Untersuchungsbericht wird als Unfallursache die Verwendung einer nicht normgerechten Sechskantmutter am Halter für das Abschneidmesser festgestellt und dass der Versuch, diese Schraube trotz des offensichtlichen Mangels zu lösen, zum Unfall und damit zu den Verletzungen des Versicherten M2xxx geführt hat (siehe Unfalluntersuchungsbericht vom 05.09.2005, Bl. 16. d.A.).

Aufgrund der Verletzung am 19.04.2005 war der Versicherte M2xxx in der Zeit vom 20.04.2005 bis zum 22.05.2005 arbeitsunfähig krank. Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung für den Monat April 2005. Die Entgeltfortzahlung für den Monat Mai 2005 wurde von ihr dagegen verweigert. Die Klägerin zahlte daraufhin an den Versicherten M2xxx Verletztengeld einschließlich der Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 1.821,38 € für die Zeit vom 01.05.2005 bis zum 22.05.2005.

Die Klägerin hat den Erstattungsanspruch am 26.05.2006 gerichtlich geltend gemacht.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auch für die Zeit vom 01.05.2005 bis zum 22.05.2005 verpflichtet.

Der Versicherte M2xxx habe seine Arbeitsunfähigkeit nicht verschuldet. Er habe die abgedrehte Mutter nicht an der Maschine angebracht. Ein grob fahrlässiges Vorgehen ihres Versicherten M2xxx liege nicht vor.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.821,38 € nebst 4 % Zinsen seit dem 31.05.2006 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, ihr Arbeitnehmer M2xxx habe seine Arbeitsunfähigkeit selbst verschuldet, was einen Entgeltfortzahlungsanspruch ausschließe. Er hätte erst gar nicht versuchen dürfen, die abgedrehte Mutter zu lösen, sondern entsprechend den Anweisungen die Instandhaltung bzw. den Sicherheitsbeauftragten oder Vorgesetzten rufen müssen. Das Ganze sei vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Beklagte eine freigestellte Sicherheitsfachkraft beschäftige und ihre Mitarbeiter regelmäßig schule und unterweise. Sinn und Zweck sei es, dass es erst gar nicht zu solchen Unfällen komme und die entsprechend geschulten Mitarbeiter nach Information durch die Maschinenbediener mit geeigneten Werkzeugen den Fehler beheben.

Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 11.10.2006 der Klage stattgegeben und die Kosten des Rechtsstreits der Beklagten auferlegt. Den Streitwert hat es auf 1.821.38 € festgesetzt.

In den Entscheidungsgründen ist das Arbeitsgericht der Auffassung der Klägerin gefolgt.

Gegen dieses ihr am 26.10.2006 zugestellte und wegen der sonstigen Einzelheiten hiermit in Bezug genommene Urteil hat die Beklagte am 22.11.2006 Berufung eingelegt und diese am 27.12.2006 begründet.

Die Beklagte greift das arbeitsgerichtliche Urteil insgesamt an. Sie stützt sich maßgeblich weiter auf ihren erstinstanzlichen Vortrag.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Siegen vom 11.10.2006 - 2 Ca 751/06 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt

unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten das Urteil des Arbeitsgerichts Siegen vom 11.10.2006 - 2 Ca 751/06 - wie folgt neu zu fassen:

Die Beklagte wird verurteilt, an sie 1.821,38 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31.05.2006 zu zahlen.

Die Klägerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

Das Berufungsgericht hat den von dem Versicherten M2xxx am 19.04.2005 benutzten Ringschlüssel, die abgedrehte Mutter und eine Originalmutter M 16 in der mündlichen Verhandlung vom 07.03.2007 in Augenschein genommen. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift der mündlichen Verhandlung vom 07.03.2007 (Bl. 154 bis 156 d.A.) verwiesen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

A. Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Der Klägerin steht aus übergegangenem Recht gemäß §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 4 Abs. 1 EFZG i.V.m. § 115 Abs. 1 SGB X der begehrte Anspruch gegen die Beklagte in Höhe von 1.821,38 € zu, wie das Arbeitsgericht zutreffend erkannt hat.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zu sechs Wochen, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert wird, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.

Ein solcher Anspruch gegen die Beklagte ist in der Person des Versicherten M2xxx entstanden und kraft Gesetzes gemäß § 115 Abs. 1 SGB X durch Zahlung des Verletztengeldes durch die Klägerin auf diese übergegangen.

I. Der Versicherte M2xxx war auch in der Zeit vom 01.05.2005 bis zum 22.05.2005 arbeitsunfähig krank wegen der Endgliedfraktur des rechten Zeigefingers, welche er sich bei dem Arbeitsunfall am 19.04.2005 zugezogen hatte.

Er stand zu diesem Zeitpunkt in einem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten.

II. Die Arbeitsunfähigkeit ist ohne Verschulden des Versicherten M2xxx eingetreten.

1. Schuldhaft im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG handelt der Arbeitnehmer, der gröblich gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhalten verstößt.

Das Gesetz schließt den Anspruch auf Entgeltfortzahlung bei eigenem Verschulden des Arbeitnehmers aus, weil es unbillig wäre, den Arbeitgeber mit der Verpflichtung zur Entgeltfortzahlung zu belasten, wenn der Arbeitnehmer zumutbare Sorgfalt sich selbst gegenüber außer Acht gelassen und dadurch seine Arbeitsunfähigkeit verschuldet hat (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vgl. z.B. BAG, Urteil vom 11.03.1987 - 5 AZR 739/85 - DB 1987, 1495; BAG, Urteil vom 07.10.1987 - 5 AZR 116/86 - DB 1988, 403; BAG, Urteil vom 30.03.1988 - 5 AZR 42/87 - AP LFZG § 1 Nr. 77; LAG Hamm, Urteil vom 24.09.2003 - 18 Sa 785/03 - NZA RR 2004, 68; LAG Hamm, Urteil vom 08.02.2006 - 18 Sa 1083/05 - NZA RR 2006, 401; Schmitt, EFZG, 5. Aufl., § 3 Rdnr. 111; Marienhagen/Künzel, EFZG, § 3 Rdnr. 26; ErfK/Dörner, 7. Aufl., § 3 EFZG Rdnr. 46).

2. Bei einem Arbeitsunfall - wie im vorliegenden Fall - kann Verschulden insbesondere dann zu bejahen sein, wenn der Arbeitnehmer gröblich gegen Anordnungen des Arbeitgebers oder gegen Unfallverhütungsvorschriften verstoßen hat (vgl. z.B. BAG, Urteil vom 25.06.1964 - 2 AZR 421/63 - AP ArbKrankhG, § 1 Nr. 38; LAG Hamm, Urteil vom 08.02.2006 - 18 Sa 1083/05 - NZA RR 2006, 406; LAG Hamm, Urteil vom 30.10.2002 - 4 Sa 405/02 -; Schmitt EFZG 5. Aufl., § 3 Rdnr. 122; Marienhagen/Künzel, EFZG, § 3 Rdnr. 27; ErfK/Dörner, 7. Aufl., § 3 EFZG Rdnr. 50).

a) Ein solch grober Verstoß gegen die Unfallverhütungsvorschriften ist ersichtlich.

Soweit die Beklagte meint, der Versicherte M2xxx habe seine besondere Unterstützungspflicht entsprechend BGVA 1 ("Grundsätze der Prävention", § 16 Abs. 1 und 2) grob fahrlässig verletzt, ist dies nicht nachzuvollziehen. Dass eine unmittelbare erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit durch die abgedrehte Mutter während des Laufes der Maschine bestand, ist dem Vortrag der Beklagten nicht zu entnehmen. Auch handelt es sich bei der abgedrehten Mutter nicht um Teil einer Schutzvorrichtung oder eines Schutzsystems.

b) Es liegt weiter kein gröblicher Verstoß gegen Anordnungen des Arbeitgebers vor.

aa) Zwar hat der Versicherte M2xxx gegen die ihm bekannte Sicherheitsanweisung, in einem Fall wie dem Vorliegenden zunächst die Instandhaltung, den Meister oder die Sicherheitskraft zu unterrichten, verstoßen.

bb) Es ist aber zu berücksichtigen, dass nicht festgestellt worden ist, wer die abgedrehte Mutter ursprünglich angebracht hat. So ist auch nicht ausgeschlossen, dass bei der Generalüberholung am 01.12.2003 und bei der Störungsbeseitigung durch den damaligen Sicherheitsbeauftragten M1xx am 07.02.2005 nicht bemerkt worden ist, dass die Befestigungsmutter abgedreht war. Es ist weiter möglich, dass der Versicherte M2xxx, wie er sagt, auch schon vorher ohne Probleme einen Austausch des Messers trotz der von ihm vorgefundenen abgedrehten Mutter hat erledigen können. Das Lösen einer Mutter mit einem Ringschlüssel gehört zu seinen alltäglichen Aufgaben und stellt keine besonderen Anforderungen im Bereich der Unfallverhütung.

cc) Das Berufungsgericht verkennt nicht, dass im Falle einer auf die Hälfte abgedrehten Mutter die Gefahr des Abrutschens und die Gefahr einer Verletzung des Arbeitnehmers, der eine solche Mutter löst, besteht.

Das Gefährdungspotential eines solchen Lösungsvorgangs ist nicht sehr groß, wie insbesondere auch ein Vergleich zu den vom Arbeitsgericht genannten bisher in der Rechtsprechung entschiedenen Fällen von groben Verstößen zeigt.

dd) Der Versicherte M2xxx hat zwar die Gefahr des Abrutschens unterschätzt und sich auch über eine betriebliche Weisung hinweggesetzt. Dennoch kann bei einer Bewertung der Gesamtumstände des vorliegenden Einzelfalles in Übereinstimmung mit der Bewertung des Arbeitsgerichts nicht von einem gröblichen Verstoß ausgegangen werden.

B. Nach alledem hat das Rechtsmittel keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Ende der Entscheidung

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