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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Hamm
Urteil verkündet am 26.10.2005
Aktenzeichen: 2 Sa 1682/05
Rechtsgebiete: InsO, ZPO


Vorschriften:

InsO § 55 Abs. 2 Satz 1
InsO § 209 Abs. 2 Nr. 3
ZPO § 935
ZPO § 940
Wird die einstweilige Verfügung auf Weiterbeschäftigung auf finanzielle Gründe gestützt, kann die erforderliche Dringlichkeit nur zur Abwehr einer sonst eintretenden wirtschaftlichen Notlage bejaht werden.
Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Herford vom 08.07.2005 - 1 Ga 15/05 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen. Tatbestand:

Die Klägerin hält die von dem Beklagten angeordnete Freistellung für unwirksam und möchte im Wege einer einstweiligen Verfügung die unveränderte Weiterbeschäftigung als Sachbearbeiterin erreichen.

Die heute 52-jährige Klägerin, die verheiratet ist, war seit dem 01.03.1986 bei der Firma M2xxxxxxxxxxx T1xxxxxxx GmbH & Co. KG als Sachbearbeiterin im Verkaufsinnendienst mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden tätig. Über das Vermögen der genannten Firma wurde am 01.06.2005 das Insolvenzverfahren eröffnet. Der zum Insolvenzverwalter bestellte Beklagte hat die Klägerin ab 01.06.2005 freigestellt und sie aufgefordert, sich beim zuständigen Arbeitsamt arbeitslos zu melden, weil sie im Rahmen der Gleichwohlgewährung gemäß § 143 Abs. 3 SGB III Anspruch auf Arbeitslosengeld habe.

Die Klägerin ist mit der Freistellung nicht einverstanden, weil sie auf ihre laufenden Einnahmen aus dem Arbeitsverhältnis in voller Höhe angewiesen sei. Bei der Auswahl der freizustellenden Arbeitnehmer habe der Beklagte soziale Gesichtspunkte missachtet, so dass seine Entscheidung als willkürlich erscheine. So werde die wesentlich jüngere und kürzer beschäftigte Kollegin A2xx K2xxxxxx, die mit dem gleichen Tätigkeitsfeld wie sie betraut sei, weiterbeschäftigt.

Der Beklagte hat geltend gemacht, eine ausreichende Beschäftigung für sämtliche Mitarbeiter sei nicht vorhanden gewesen. Deshalb habe er bei Insolvenzeröffnung insgesamt 62 der 185 Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin von der Arbeitsleistung freigestellt. Von den 17 in der Auftragsbearbeitung tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern habe er insgesamt acht Mitarbeiter freigestellt. Der Mitarbeiter G1xxxxx sei aufgrund Eigenkündigung ausgeschieden. Zur Aufrechterhaltung des ordnungsgemäßen Geschäftsbetriebes sei er gezwungen gewesen, sich nicht nur an den Sozialdaten der Mitarbeiter zu orientieren, sondern auch deren Kernkompetenzen besonders zu berücksichtigen. Dies habe dazu geführt, dass sowohl ältere und langjährig beschäftigte Arbeitnehmer freigestellt worden seien wie auch jüngere Arbeitnehmer mit kürzerer Betriebszugehörigkeit. Für die Klägerin bedeute die Freistellung keine unbillige finanzielle Härte, weil ihr Ehemann eine Rente beziehe und sie selbst über Arbeitslosengeld verfüge.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung durch Urteil vom 08.07.2005 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, es sei bereits fraglich, ob die Klägerin einen Verfügungsanspruch habe, denn der Insolvenzverwalter sei grundsätzlich berechtigt, auch in bestehenden Arbeitsverhältnissen Arbeitnehmer freizustellen. Ob der Beklagte bei Ausübung dieses Rechts die Grenze des billigen Ermessens überschritten habe, bedürfe keiner abschließenden Entscheidung. Es fehle nämlich an der gemäß §§ 935, 940 ZPO erforderlichen Dringlichkeit. Die von der Klägerin angeführten finanziellen Gründe reichten dafür nicht aus. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichts Bezug genommen.

Mit ihrer Berufung will die Klägerin eine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne ihres Weiterbeschäftigungsantrags erreichen. Sie verweist dazu auf die Einkommensverhältnisse der Eheleute. Unter Zugrundelegung des ihr gewährten Arbeitslosengeldes und der Rente ihres Ehemannes ergäbe sich durch die Freistellung eine monatliche Nettodifferenz in Höhe von 811,00 €. Um den gemeinsamen monatlichen Verbindlichkeiten und Kosten nachzukommen, benötigten die Eheleute ein monatliches Einkommen von 2.666,76 €. Infolge der Freistellung sei das gemeinsame monatliche Nettoeinkommen auf 2.043,00 € herabgesunken. Sie vertritt die Auffassung, dass diese monatliche wirtschaftliche Unterdeckung ein ausreichender Grund für den Erlass der begehrten einstweiligen Verfügung sei. Sie sei nach Aufgabengebiet und Beschäftigung mit der Mitarbeiterin A2xx K2xxxxxx vergleichbar, die 1964 geboren sei und der Insolvenzschuldnerin erst seit 1993 angehöre. An welchen Kernkompetenzen sich der Beklagte bei seiner Auswahlentscheidung orientiert habe, bleibe dunkel.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und dem Beklagten aufzugeben, die Verfügungsklägerin als Sachbearbeiterin zu den bisherigen Bedingungen in einer 30-Stunden-Woche bei der Schuldnerin tatsächlich zu beschäftigen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil und tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

Der Beklagte hat das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin inzwischen am 23.06.2005 und erneut am 26.08.2005 zum 30.11.2005 gekündigt mit der Begründung, er sei gezwungen gewesen, den Betrieb der Schuldnerin zum 30.11.2005 stillzulegen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit einer einzigen ernsthaften Übernahmeinteressentin habe die Gläubigerversammlung am 24.08.2005 die Stilllegung des gesamten Betriebes beschlossen.

Das Arbeitsgericht hat in dem von der Klägerin angestrengten Kündigungsschutzverfahren durch Teilurteil vom 12.10.2005 die Unwirksamkeit der Kündigung vom 23.06.2005 festgestellt. Über die Kündigung vom 26.08.2005 hat das Arbeitsgericht nicht entschieden, sondern eine Beweisaufnahme ins Auge gefasst.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vortrags der Parteien wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat den Antrag der Klägerin auf Erlass einer Weiterbeschäftigungsverfügung zu Recht abgelehnt. Das Berufungsgericht macht sich die zutreffenden Gründe des Arbeitsgerichts zu Eigen und nimmt darauf gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG Bezug. Das Vorbringen der Klägerin in der Berufungsinstanz gibt lediglich Anlass zu folgenden Ergänzungen:

I.

Es kann offen bleiben, ob die Klägerin infolge Unwirksamkeit der Freistellungsentscheidung des Beklagten gemäß den §§ 62 Abs. 2 ArbGG, 935, 940 ZPO einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung hat. Es fehlt jedenfalls an dem weiterhin erforderlichen Verfügungsgrund.

1. Der Beklagte kann zur Weiterbeschäftigung der Klägerin verpflichtet sein, falls sich ihre Freistellung als unwirksam erweist. Zunächst ist klarzustellen, dass es ein besonderes im Insolvenzrecht wurzelndes Freistellungsrecht des Insolvenzverwalters nicht gibt. Der Insolvenzverwalter ist ebenso wie der Arbeitgeber in einem bestehenden Arbeitsverhältnis verpflichtet, die Arbeitnehmer tatsächlich zu beschäftigen. Die Vorschriften der InsO räumen ihm keine Freistellungsprivilegien ein. Der Insolvenzverwalter kann sich von seiner grundsätzlichen Beschäftigungspflicht nur bei Vorliegen triftiger Freistellungsgründe befreien (vgl. im Einzelnen Marotzke, Die Freistellung von Arbeitnehmern in der Insolvenz des Arbeitgebers InVo 2004, 301 ff; Seifert DZWiR 2002, 407). Der allgemeine Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers tritt nur dann zurück, wenn ihm überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen (BAG Großer Senat v. 27.02.1985 - GS 1/84, NZA 1985, 702 = NJW 1985, 2968). Aus § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO und § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO lässt sich ein insolvenzrechtliches Freistellungsrecht des Insolvenzverwalters nicht herleiten, weil in den genannten Vorschriften nur der Rang der Vergütungsansprüche bei Inanspruchnahme bzw. Nichtinanspruchnahme der Gegenleistung geregelt wird. Eine besondere Befugnis des Insolvenzverwalters zur Freistellung, losgelöst von allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätzen, kann daraus nicht abgeleitet werden.

Es gibt aber insolvenzspezifische Gründe, welche den Insolvenzverwalter zur

Freistellung berechtigen, weil infolge der Einschränkung der Produktion bzw. Stilllegung von Betriebsabteilungen keine Beschäftigungsmöglichkeit besteht oder die vorhandene Masse nicht ausreicht, um alle Arbeitnehmer bezahlen zu können (Bertram, NZI 2001, 625, 627; LAG Hamm v. 27.09.2000 - 2 Sa 1178/00, NZI 2001, 499 = ZinsO 2001, 333 = ZIP 2001, 435). Dazu ist vorliegend unwidersprochen geblieben, dass nach dem erstellten Sachverständigengutachten vom 30.05.2005 eine dauerhafte Fortführung des Geschäftsbetriebes der Schuldnerin mit 188 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus Mitteln der Masse nicht möglich ist, sondern ein erheblicher Abbau von Arbeitsplätzen erfolgen muss. Demgemäß hat der Beklagte am 23.06.2005 die Arbeitsverhältnisse von 53 Mitarbeitern gekündigt. Diese Betriebsänderung ist Gegenstand des ersten zwischen dem Beklagten und dem Betriebsrat geschlossenen Interessenausgleichs vom 21.06.2005. Danach bestand zwischen den Betriebsparteien Einigkeit, dass eine Fortführung des Betriebes nur bei Einsparung von Kosten möglich sei. Deshalb sei es erforderlich, insgesamt 63 Mitarbeiter freizustellen. Auf der diesem Interessenausgleich beigefügten Namensliste befindet sich auch der Name der Klägerin, so dass ein fehlender Beschäftigungsbedarf gemäß § 125 InsO zu vermuten ist. Allerdings hat das Arbeitsgericht die zum 30.09.2005 ausgesprochene Kündigung der Klägerin durch Teilurteil vom 12.10.2005 für unwirksam erklärt. Über die Wirksamkeit der weiteren zum 30.11.2005 ausgesprochenen Kündigung des Beklagten hat es ebenso wenig entschieden wie über den im Hauptsacheverfahren gestellten Weiterbeschäftigungsantrag der Klägerin. Demzufolge kann von einer grundsätzlichen Weiterbeschäftigungspflicht des Beklagten nur bis zum 30.11.2005 ausgegangen werden. Von einer offensichtlichen Unwirksamkeit der Kündigung zum 30.11.2005 kann nach dem Vortrag der Klägerin nicht ausgegangen werden. Für die Betriebsbedingtheit dieser Kündigung streitet der zweite Interessenausgleich vom 25.08.2005 über die Stilllegung des gesamten Betriebes.

2. Dass der Beklagte berechtigt war, eine Anzahl von Mitarbeitern freizustellen, wird von der Klägerin im Grundsatz nicht in Frage gestellt. Sie vertritt aber den Standpunkt, dass der Beklagte bei der Auswahl der freizustellenden Arbeitnehmer soziale Gesichtspunkte vernachlässigt habe und seine Entscheidung deshalb als willkürlich zu bezeichnen sei. Dabei übersieht die Klägerin, dass der Insolvenzverwalter bei einem an sich gegebenen triftigen Freistellungsgrund die Auswahl der freizustellenden Arbeitnehmer nicht streng nach sozialen Gesichtspunkten gemäß § 1 Abs. 3 KSchG treffen muss, denn die Pflicht zur sozialen Auswahl gilt nur bei Kündigungen (Seifert, DZWiR 2002, 10; Weisemann, DZWiR 2001, 151, 152). Allerdings ist der Insolvenzverwalter bei seiner Freistellungsentscheidung nicht frei von rechtlichen Schranken, sondern an die Ausübung eines billigen Ermessens gemäß § 315 BGB gebunden. Dabei können soziale Aspekte und besondere finanzielle Interessen der betroffenen Arbeitnehmer höher einzustufen sein als die betrieblichen Interessen an der Weiterbeschäftigung bestimmter Arbeitnehmer.

Ob der Beklagte gemessen an diesen Kriterien die Auswahl der freizustellenden Arbeitnehmer nach billigem Ermessen getroffen hat, kann aufgrund seines Vortrags nicht zuverlässig beurteilt werden. Nach seiner eidesstattlichen Versicherung vom 15.06.2005 hat er sich nicht nur nach den ihm bekannten sozialen Daten der Arbeitnehmer gerichtet, sondern auch arbeitsorganisatorische Aspekte und die besonderen Kenntnisse der Mitarbeiter berücksichtigt. Trotz gerichtlicher Auflage hat sich der Beklagte aber nicht veranlasst gesehen, konkret zu den Gründen vorzutragen, die ihn bewogen haben, die Mitarbeiterin A2xx K2xxxxxx der Klägerin vorzuziehen.

Doch kommt es hierauf nicht entscheidend an. Die Berufung hat schon deswegen keinen Erfolg, weil der Erlass einer Weiterbeschäftigungsverfügung nicht geboten war. Es mangelt an der dafür erforderlichen Dringlichkeit. Da der Beschäftigungsanspruch durch Zeitablauf irreversibel untergeht, wird teilweise der erforderliche Verfügungsgrund bereits aufgrund dieser Anspruchsvereitelung bejaht (vgl. LAG München v. 19.08.1992 - 5 Ta 185/92, NZA 1993, 1131; LAG Chemnitz v. 08.03.1996 - 3 Sa 77/96, NZA-RR 1997, 4; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, vor § 935 ZPO Rdnr. 56). Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass für eine Befriedigungsverfügung unter den erleichterten Voraussetzungen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens besondere Gründe vorliegen müssen, die ein Abwarten der Entscheidung in der ersten Instanz als nicht hinnehmbar erscheinen lassen (vgl. Schuschke/Walker, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz, 3. Aufl., vor § 935 ZPO Rdnr. 119; LAG Düsseldorf v. 25.01.1993 - 19 Sa 1650/92, BB 1993, 1151 = DB 1993, 1680; LAG Baden-Württemberg v. 30.08.1993 - 15 Sa 35/93, NZA 1995, 683; LAG Köln v. 18.01.1984 - 7 Sa 1156/83, NZA 1985, 57; vgl. im Einzelnen Reinhardt/Kliemt, Die Durchsetzung arbeitsrechtlicher Ansprüche im Eilverfahren, NZA 2005, 545, 548). Bei der erforderlichen Interessenabwägung kommt es darauf an, ob unzweifelhaft ein Weiterbeschäftigungsanspruch besteht und darüber hinaus dem Arbeitnehmer bei fortdauernder Nichtbeschäftigung besondere Nachteile entstehen.

3. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Ein etwaiger Weiterbeschäftigungsanspruch der Klägerin könnte allenfalls noch bis zum 30.11.2005 bestehen. Die von ihr angeführten finanziellen Interessen rechtfertigen keine einstweilige Verfügung zur Abwendung wesentlicher Nachteile. Die Klägerin ist durch die Freistellung nicht einkommenslos geworden. Sie gerät durch die Verringerung ihres monatlichen Nettoverdienstes nicht in eine finanzielle Notlage. Sie hat nämlich nicht glaubhaft machen können, dass sie zur Kompensation der aufgezeigten Unterdeckung nicht auf vorhandene finanzielle Reserven zurückgreifen könnte. Ihre Vergütungsansprüche sind Masseforderungen gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO, die der Beklagte erfüllen muss. Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung der arbeitsvertraglich vereinbarten Vergütung geht durch die Freistellung nicht unter. Die erst später mögliche Realisierung (vgl. § 90 InsO) ihrer Forderungen führt nicht zu einer Notlage der Klägerin.

II.

Die Klägerin hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihres erfolglos gebliebenen Rechtsmittels zu tragen.

Ende der Entscheidung

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