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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Urteil verkündet am 24.11.2005
Aktenzeichen: 6 Sa 1172/05
Rechtsgebiete: BetrVG


Vorschriften:

BetrVG § 102 Abs. 5
Die sachliche Begründetheit des hinreichend konkret formulierten Widerspruchs des Betriebsrats ist keine Anspruchsvoraussetzung für den Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses.
Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 14.07.2005 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Köln - 8 Ga 127/05 - abgeändert:

1. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses als Mitarbeiter der Buchhaltung nach näherer Maßgabe des Arbeitsvertrags weiter zu beschäftigen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

3. Der Streitwert beträgt unverändert 4.650,00 €.

Tatbestand:

Die Parteien streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über einen Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers nach § 102 Abs. 5 BetrVG.

Mit Schreiben vom 28.04.2005 (Kopie Bl. 12 d. A.) kündigte die Beklagte das seit dem 24.06.1999 bestehende Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 30.06.2005 aus dringenden betrieblichen Gründen. Der Betriebsrat hatte dieser Kündigung unter dem 20.04.2005 unter Hinweis auf § 102 Abs. 3 Nr. 1, 3, 4, 5 BetrVG widersprochen und seine Gründe hierfür ausführlich schriftlich dargelegt (Kopie Bl. 85 ff. d. A.). Von einer weitergehenden Darstellung des Sachverhalts wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen.

Der Kündigungsschutzprozess ist unter dem Aktenzeichen 8 Ca 4681/05 beim Arbeitsgericht anhängig.

Das Arbeitsgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung mit Urteil vom 14.07.2005 zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, ein Verfügungsanspruch auf Weiterbeschäftigung nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG sei nicht gegeben, weil der Widerspruch des Betriebsrats keine hinreichende Begründung insbesondere zur Auswahlrüge nach § 102 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG enthalte. Auch auf den sogenannten allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch für die Dauer des Kündigungsschutzverfahrens könne sich der Kläger nicht berufen, weil eine die Unwirksamkeit der Kündigung feststellende Entscheidung noch nicht ergangen sei.

Mit seiner Berufung gegen das am 04.08.2005 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts, die am 19.08.2005 eingelegt und am 12.09.2005 begründet worden ist, verfolgt der Kläger sein Rechtsschutzbegehren unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens weiter. Er ist der Ansicht, dass der Betriebsrat eine einzelfallbezogene Begründung seines Widerspruchs unter ausdrücklicher Benennung vergleichbarer Mitarbeiter in dem erforderlichen Maß vorgenommen habe, um den Beschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 BetrVG auszulösen.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Köln vom 14.07.2005 - 8 Ga 127/05 - die Beklagte zu verurteilen, ihn über den 30.06.2005 hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Mitarbeiter der Buchhaltung weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil aus Sach- und Rechtsgründen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes haben die Parteien auf die von ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Die Berufung des Klägers ist zulässig, weil sie statthaft (§ 64 Abs. 1 u. 2 ArbGG) und frist- sowie formgerecht eingelegt und begründet worden ist.

II. Das Rechtsmittel hat auch mit der tenorierten Maßgabe Erfolg.

Der Kläger kann gemäß § 102 Abs. 5 S. 1 i. V. m. Abs. 3 Nr. 1 BetrVG seine Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses verlangen. Denn der bei der Beklagten gebildete Betriebsrat hat der Kündigung vom 28.04.2005 frist- und ordnungsgemäß widersprochen. Zudem hat der Kläger rechtzeitig Klage auf Feststellung erhoben, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist.

Das Berufungsgericht vermag der Auffassung der Beklagten und ihr folgend des Arbeitsgerichts, es liege keine "qualifizierte Auswahlrüge" im Sinne des § 102 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG vor, nicht zuzustimmen. Es ist zwar anerkannt, dass der Betriebsrat zur Begründung des Widerspruchs konkrete Tatsachen angeben muss und die bloße Wiederholung des Gesetzestextes nicht ausreicht (vgl. LAG Düsseldorf vom 23.05.1975 - EZA § 102 BetrVG 1972 Beschäftigungspflicht Nr. 4). Die Widerspruchsgründe brauchen aber nicht schlüssig zu sein, wenn nur ein Mindestmaß an konkreter Argumentation im Gegensatz zu reiner Spekulation vorhanden ist (vgl. BAG vom 17.06.1999 AP Nr. 102 BetrVG 1972 Weiterbeschäftigung Nr. 13). Der vorgetragene Sachverhalt muss es als möglich erscheinen lassen, dass einer der in § 102 Abs. 3 BetrVG abschließend aufgezählten Widerspruchsgründe vorliegt (vgl. Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 9. Auflage, Rz. 2084 m. w. N.).

Diese Anforderungen sind jedenfalls im Hinblick auf § 102 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG erfüllt, wonach der Betriebsrat der ordentlichen Kündigung widersprechen kann, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat. In dem Widerspruchsschreiben vom 20.04.2005 führt der Betriebsrat hierzu u. a. aus:

"Selbst wenn jedoch von der dringenden betrieblichen Notwendigkeit der Personalreduzierung im Buchhaltungsservice Köln ausgegangen werden müsste, haben Sie bei der Auswahl gerade des Herrn G eine Reihe von zugunsten des Betroffenen sprechende soziale Gesichtspunkte nicht berücksichtigt. Ausweislich Ihrer Kündigungsmitteilung haben Sie im Rahmen der Begründung der sozialen Auswahl Herrn A als die am wenigsten schutzbedürftigste Mitarbeiterin ausgewiesen mit der Begründung, er sei ledig und lebt bei seinen Eltern. Bei seinem sozialen Umfeld fiele Herr A trotz des Verlustes des Arbeitsplatzes relativ "weich". Gespräche mit Herrn A und den anderen von Ihnen in die Sozialauswahl einbezogenen Mitarbeiter hat es augenscheinlich nicht gegeben. Eine auf den Wortlaut des Gesetztes reduzierte Auslegung, die zu einer reinen schematisierten Eingrenzung der sozialen Auswahl auf die Grunddaten führt, ist mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben unvereinbar. Ungeachtet Ihres Beurteilungsspielraumes müssen Sie die individuelle Situation des Einzelnen betrachten. Ohne Gespräche zu führen ist dies letztlich nicht möglich. Der Betriebsrat hat gestern Herrn A nach § 82 Abs. 1 BetrVG in Verbindung mit § 102 BetrVG in dieser betrieblichen Angelegenheit, die seine Person betrifft, angehört. In dem Gespräch wurden die Bedenken des Betriebsrates insoweit bestätigt, als Herr A angab zwar im Hause seiner Eltern zu leben, aber dennoch laufende "mietähnliche" Kosten zu haben. Der Verlust des Arbeitsplatzes sei definitiv schmerzlich für ihn. Er habe im Vorfeld ein Stellenangebot abgeschlagen, wegen der damals augenscheinlich "guten Perspektive" bei der MC, weil er seine Arbeit mag und auch die Atmosphäre im Team schätzt. In der Sozialauswahl eine Gewichtung auf private Vermögensverhältnisse des Arbeitnehmers vorzunehmen, wurde bereits mehrfach vor dem Bundesarbeitsgericht negativ beschieden. Im September 2004 hat Herr A auf eigene Kosten angefangen an einem Lehrgang zum Bilanzbuchhalter teilzunehmen. Kürzlich hat er eine erste Teilprüfung mit Erfolg abgelegt und er wird die Fortbildung voraussichtlich im Januar 2006 mit Erfolg beenden. Die Tätigkeiten übt er jedoch, so seine Angaben, bereits jetzt vollumfänglich aus. Der Abschluss würde letztlich nur die "Legitimation" bedeuten. Aus seiner Sicht wäre neben dem Weggang von Frau S ein weiterer Personalabbau in seinem Team keinesfalls zu verkraften. Im Team Köln 2, so geht es auch aus den Kündigungsanhörungen hervor, wurde bereits aus der Umbesetzung des Personalkonzeptes (Erhöhung auf 42 Stunden-Woche) 0,3 Stellen mehr abgebaut, als lt. Plan notwendig waren. Die Arbeiten von Frau S sind zu einem erheblichen Teil auf Herrn A übertragen worden. Weiter ist in dem Team auch ein Kollege aus dem Betriebsrat beschäftigt. Dieser Kollege kann ebenfalls nicht seine ganze Arbeitszeit dem Buchhaltungsteam zur Verfügung stellen, da er sich auch für erforderliche Betriebsratsarbeit bereithalten muss. Es ist daher auch für den Betriebsrat nicht nachvollziehbar, dass die Geschäftsleitung hier von einem andauernden Personalüberhang ausgeht, da eher die gegenteilige Auswirkung angenommen werden muss.

Aus der Sozialauswahl wurden von Ihnen explizit zwei Kollegen (M V ) mit der Begründung diese bearbeiten "spezielle" Buchungskreise herausgenommen. Sie unterstellen, dass eine Veränderung in der Bearbeitung mit erheblichen Qualitätsverlusten einhergehende würde. Das können wir nicht so sehen. Letztlich gibt es ausreichend Mitarbeiter mit vergleichbar guten Fachkenntnissen. Die von Ihnen angeführten Gründe erachten wir als nicht so gewichtig, dass sie die Interessen der sozial Schwächeren überwiegen, zumal Herr M der Mitarbeiter mit der deutlich niedrigsten Punktezahl nach der Auswahltabelle ist. Er ist erst 26 Jahre alt, hat lediglich ein volles Jahr Betriebszugehörigkeit nachzuweisen und verfügt offensichtlich über so gute Fachkenntnisse, dass seine Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt erheblich besser sein dürften, als die der meisten anderen Mitarbeiter."

Mit dieser Begründung hat sich der Betriebsrat konkret auf die von der Beklagten zur Verfügung gestellten Informationen bezüglich der sozialen Auswahl bezogen. Eine Beurteilung und Widerspruchsbegründung über die Tatsache hinaus, dass Herr K - wie aus der von der Beklagten überreichten tabellarischen Aufstellung ersichtlich - als sozial stärker als der Kläger eingestuft wurde, war mit Rücksicht auf die gegebenen Informationen weder möglich noch erforderlich. Der Kläger macht in diesem Zusammenhang mit Recht geltend, dass sich der Vortrag des Betriebsrats zur Begründung des Widerspruchs an dem Vorbringen des Arbeitgebers orientieren muss. Je präziser der Arbeitgeber vorträgt, umso präziser muss auch der Betriebsrat seinen Widerspruch begründen. Hier hat der Betriebsrat den Arbeitnehmer M als vergleichbaren Mitarbeiter ausdrücklich benannt und im Einzelnen dargelegt, warum er die soziale Auswahl im Verhältnis zum Kläger für unzutreffend hält.

Hinreichend konkret hat der Betriebsrat auch die Herausnahme des Mitarbeiters K als sogenannten Leistungsträger aus der sozialen Auswahl nach § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG beanstandet. Wenn er - wiederum bezogen auf die zuvor erhaltenen Informationen durch die Beklagte - ausführt, er könne mit Veränderungen in der personellen Beratung einhergehende Qualitätsverluste "nicht so sehen" und es gebe "letztlich (...) ausreichend Mitarbeiter mit vergleichbaren Fachkenntnissen", so wird damit deutlich, dass nach Auffassung des Betriebsrats die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG für eine Herausnahme des Mitarbeiters K aus der Sozialauswahl nicht gegeben sind. Ob dies tatsächlich so ist, also der ordnungsgemäß begründete Widerspruch des Betriebsrats begründet ist, kann und muss gegebenenfalls im Kündigungsschutzprozess geprüft werden. Die abschließende Begründetheit des Widerspruchs ist keine Anspruchsvoraussetzung für den Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG (vgl. nur Stahlhacke/Preis/Vossen, Rz. 2084).

Schließlich liegt wegen des drohenden Zeitablaufs auch ein Verfügungsgrund für die begehrte einstweilige Verfügung vor. Weitergehende Umstände im Sinne einer besonderen Dringlichkeit braucht der Verfügungskläger nicht vorzutragen (vgl. LAG Köln vom 02.08.1984, NZA 1984, 300; Stahlhacke/Preis/Vossen, Rz. 2097 m. w. N.).

Da der Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG allerdings nicht weitergeht als in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis, war im Tenor des Berufungsurteils klarzustellen, dass die Beklagte lediglich verpflichtet ist, den Kläger als Mitarbeiter der Buchhaltung nach näherer Maßgabe des Arbeitsvertrags weiterzubeschäftigen. Dies schließt die Befugnis ein, die Arbeitsbedingungen des Klägers im Rahmen der dort vorbehaltenen Möglichkeiten zu verändern.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

IV. Diese Entscheidung ist nach § 72 Abs. 4 ArbGG unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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