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Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Beschluss verkündet am 03.05.2005
Aktenzeichen: 9 TaBV 76/04
Rechtsgebiete: BetrVG, SGB IX


Vorschriften:

BetrVG § 95 Abs. 2
SGB IX § 83
Der Betriebsrat kann die Aufstellung von personellen Auswahlrichtlinien insbesondere zur Förderung von schwerbehinderten Menschen nach § 95 Abs. 2 BetrVG verlangen, auch wenn für den Betrieb eine Integrationsvereinbarung nach § 83 SGB IX getroffen werden könnte.
Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Siegburg vom 12. Oktober 2004 - 1 BV 30/04 - wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Einrichtung einer Einigungsstelle.

Der Arbeitgeber (Antragsgegner) ist ein eingetragener Verein zur Förderung der angewandten Forschung. Er betreibt bundesweit über 50 Forschungsinstitute mit über 10.000 Beschäftigten.

Der Antragsteller ist der am Standort S , Schloss B , gebildete Betriebsrat. An diesem Standort sind in mehreren Instituten über 500 Arbeitnehmer beschäftigt. Er wurde bis etwa Mitte 2001 von der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD) betrieben und sodann von dem verfahrensbeteiligten Arbeitgeber übernommen. Bei der letzten Betriebsratswahl im Jahr 2002 wurde - wie schon in der Vergangenheit - für die Beschäftigten aller Institute an diesem Standort ein Betriebsrat gewählt.

Dieser Betriebsrat begehrt von dem Arbeitgeber unter Berufung auf ein Mitbestimmungsrecht nach § 95 Abs. 2 BetrVG, Auswahlrichtlinien zur Förderung der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen zu vereinbaren. Der Arbeitgeber bestreitet das Mitbestimmungsrecht mit der Begründung, die einzelnen Institute bildeten selbständige Betriebe, so dass die für das Initiativrecht des Betriebsrats nach § 95 Abs. 2 S. 1 BetrVG erforderliche Mindestzahl von mehr als 500 Arbeitnehmern nicht erfüllt sei. Zudem ist er der Ansicht, die vom Betriebsrat begehrte Regelung sei als Integrationsvereinbarung nach § 83 SGB IX unter Beteiligung der dort genannten Vertretungen zu treffen. § 83 SGB IX schließe einen Anspruch des Betriebsrats auf Abschluss einer Vereinbarung nach § 95 Abs. 2 über die Förderung der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen aus.

Der Betriebsrat hat beantragt,

1. zum Vorsitzenden der Einigungsstelle zur Regelung von Auswahlrichtlinien unter besonderer Berücksichtigung der Förderung der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen Herrn Direktor am Arbeitsgericht B Dr. F -J J zu bestellen,

2. die Zahl der Beisitzer für jede Seite auf 3 festzusetzen.

Der Arbeitgeber hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Durch Beschluss vom 12. Oktober 2004 hat das Arbeitsgericht Siegburg dem Antrag stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach § 98 ArbGG sei die Einigungsstelle einzusetzen, wenn sie nicht offensichtlich unzuständig sei. Dies sei der Fall, wenn das vom Betriebsrat in Anspruch genommene Mitbestimmungsrecht offensichtlich nicht gegeben sei. Davon könne hier nicht die Rede sein. Bei fachkundiger Beurteilung spreche alles dafür, dass am Standort S A ein Betrieb mit mehr als 500 Beschäftigten bestehe. Die Wahl des Betriebsrats im Jahr 2002 sei nicht angefochten worden. Bei der vom Betriebsrat begehrten Betriebsvereinbarung zur Förderung der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen handle es sich um eine Auswahlrichtlinie im Sinne des § 95 Abs. 1 BetrVG. § 83 SGB IX betreffe nicht die Rechte und Pflichten des Arbeitgebers nach dem Betriebsverfassungsgesetz.

Der Beschluss ist dem Arbeitgeber am 9. November 2004 zugegangen. Er hat hiergegen am 23. November 2004 Beschwerde eingelegt und diese auch begründet.

Der Arbeitgeber trägt vor, zwar sei im Jahr 2002 von sämtlichen am Standort B tätigen Arbeitnehmern und damit von mehr als 500 Beschäftigten der Betriebsrat gewählt worden. Dennoch sei im vorliegenden Verfahren zu prüfen, ob tatsächlich ein Betrieb bestehe oder ob nicht vielmehr jedes der 6 Institute einen eigenständigen Betrieb bilde. Die Institute verfolgten eigenständige betriebliche Zwecke. Sie verfügten über dem einzelnen Institut zugeordnete sächliche Betriebsmittel und über eigenes Personal, das ausschließlich für den Zweck des jeweiligen Instituts eingesetzt werde. Zudem gebe es keine auf den gemeinsamen Einsatz der sächlichen und personellen Ressourcen ausgerichtete einheitliche personelle Leitung.

Da der Betriebsrat nach dem von ihm vorgelegten Entwurf tatsächlich eine Betriebsvereinbarung ausschließlich zur bevorzugten Einstellung von schwerbehinderten Menschen und zur Verhinderung der Entlassung dieser Personen anstrebe, könne die Regelung nur als Integrationsvereinbarung im Sinne des § 83 SGB IX getroffen werden. Dies schließe ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 95 Abs. 2 BetrVG aus. Während nach § 83 Abs. 1 SGB IX neben dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat auch die Schwerbehindertenvertretung und der Beauftragte des Arbeitgebers bei Verhandlung und Abschluss der Integrationsvereinbarung mitwirkten, seien bei Vereinbarung einer Auswahlrichtlinie nach § 95 Abs. 1 BetrVG nur der Arbeitgeber und der Betriebsrat beteiligt.

Der Arbeitgeber beantragt,

den Beschluss des Arbeitsgerichts Siegburg vom 12. Oktober 2004 - 1 BV 30/04 - abzuändern und die Anträge des Betriebsrats zurückzuweisen.

Der Betriebsrat beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er ist der Ansicht, da die Wahl des Betriebsrats nicht angefochten worden sei, sei der Einwand des Arbeitgebers, es liege kein einheitlicher Betrieb vor, unzulässig. Im Übrigen verfolgten alle Institute einen einheitlichen Zweck, und zwar die Förderung der angewandten Forschung und die Durchführung von Forschungsvorhaben.

Die Leiter der Institute am Standort B bildeten einen Institutsleiterrat. Dieser Institutsleiterrat beschließe ausweislich seiner Geschäftsordnung über die gemeinsame Verwaltung und Infrastruktur der Institute. Dazu gehörten u.a. die Nutzung, Unterhaltung, Koordination und Kostentragung der gemeinsam genutzten Einrichtungen, die Zuteilung räumlicher Ressourcen, die Personalangelegenheiten für Mitarbeiter der Institutszentren und die Zuverfügungstellung von Institutsmitarbeitern für gemeinsam genutzte Einrichtungen und Dienste sowie auch betriebsverfassungsrechtliche Angelegenheiten. Der Vorsitzende des Institutsleiterrats sei Dienst- und Disziplinarvorgesetzter der Leiter der Institutszentren und der diesen unterstehenden Mitarbeiter. Es bestehe eine einheitliche Personalleitung, die von dem Personalleiter Herrn C geleitet werde. Er sei allein zuständig für Einstellung und Entlassung von Mitarbeitern. Zudem sei er zusammen mit dem Vorsitzenden des Institutsleiterrats der Ansprechpartner des Betriebsrats. Mit Schreiben vom 18. Oktober 2001 habe der Arbeitgeber dem Betriebsrat ausdrücklich Herrn C als Ansprechpartner in allen betriebsverfassungsrechtlichen Fragen der Institute sowie den jeweiligen Vorsitzenden des Institutsleiterrats zusammen mit Herrn C als Ansprechpartner in übergeordneten betriebsverfassungsrechtlichen Fragen benannt.

Er - der Betriebsrat - verlange den Abschluss einer Auswahlrichtlinie im Sinne des § 95 Abs. 1 BetrVG unter besonderer Berücksichtigung der Belange schwerbehinderter Menschen. Durch § 83 SGB IX werde dieses Mitbestimmungsrecht nicht verdrängt.

Wegen des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Gegenstand der Anhörung am 3. Mai 2005 waren, verwiesen.

II.

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Sie ist binnen der Frist nach § 98 Abs. 2 S. 2 ArbGG einlegt und begründet worden.

2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet.

Zu Recht hat das Arbeitsgericht dem Antrag des Betriebsrats stattgegeben und die begehrte Einigungsstelle eingerichtet.

a. Der Antrag des Betriebsrats ist zulässig.

Insbesondere ist der Betriebsrat antragsbefugt, da er nach § 95 Abs. 2 BetrVG die Einigungsstelle anrufen kann, sofern das von ihm geltend gemachte Mitbestimmungsrecht besteht.

Es besteht auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse. Der Betriebsrat hat vergebens den Arbeitgeber aufgefordert, mit ihm eine Betriebsvereinbarung über Auswahlrichtlinien unter besonderer Berücksichtigung der Förderung der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen abzuschließen.

b. Der Antrag des Betriebsrats ist auch begründet.

Gemäß § 98 Abs. 1 S. 2 ArbGG kann ein Antrag auf Bestellung eines Einigungsstellenvorsitzenden und auf Festsetzung der Zahl der Beisitzer wegen fehlender Zuständigkeit der Einigungsstelle nur dann zurückgewiesen werden, wenn die Einigungsstelle offensichtlich unzuständig ist. Offensichtlich unzuständig ist die Einigungsstelle, wenn bei fachkundiger Beurteilung durch das Gericht sofort erkennbar ist, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in der fraglichen Angelegenheit unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt in Frage kommt und sich die beizulegende Streitigkeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat erkennbar nicht unter einen mitbestimmungspflichtigen Tatbestand des Betriebsverfassungsgesetzes subsumieren lässt (vgl. LAG Hamm, Beschluss vom 7. Juli 2003 - 10 Ta BV 85/03 - m. w. N.; LAG Köln, Beschluss vom 14. Januar 2004 - 8 Ta BV 72/03 -; Schwab/Weth/Walker, ArbGG, § 98 Rdn. 36 ff.).

Gemessen an diesem Maßstab kann die Bildung der begehrten Einigungsstelle nicht wegen offensichtlicher Unzuständigkeit ausgeschlossen werden.

aa. Nach § 95 Abs. 2 BetrVG kann der Betriebsrat in Betrieben mit mehr als 500 Arbeitnehmern die Aufstellung von Richtlinien über die bei Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen und Kündigungen zu beachtenden fachlichen und persönlichen Voraussetzungen und sozialen Gesichtspunkte verlangen. Kommt eine Einigung über die Richtlinie oder ihren Inhalt nicht zustande, so entscheidet die Einigungsstelle (§ 95 Abs. 2 S. 2 BetrVG).

bb. Es ist unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs nicht offensichtlich, dass es sich nicht um einen Betrieb mit mehr als 500 Arbeitnehmern handelt.

Im Gegenteil sprechen gewichtige Gründe dafür, dass alle Institute am Standort B zu einem einheitlichen Betrieb des Arbeitgebers gehören.

Entscheidend kommt es bei der Bestimmung, ob ein einheitlicher Betrieb vorliegt, darauf an, dass eine sachgerechte Wahrnehmung der Beteiligungsrechte für die Arbeitnehmer gewährleistet ist. Die Verfolgung eines einheitlichen arbeitstechnischen Zwecks spricht für einen Betrieb. Doch können auch in einem einheitlichen Betrieb mehrere arbeitstechnische Zwecke verfolgt werden. Entscheidendes Kriterium ist die Entscheidungsbefugnis in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten. Danach liegt ein einheitlicher Betrieb vor, wenn die in einer Arbeitsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel gezielt eingesetzt werden und der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert wird (vgl. Fitting, BetrVG, 21. Aufl., § 1 Rdn. 67 ff.).

Aus der gemeinsamen Geschäftsordnung der Institutsleiter ergibt sich, dass eine einheitliche Leitung die wesentlichen Arbeitgeberfunktionen in sozialen und personellen Angelegenheiten aller am Standort beschäftigten Arbeitnehmer wahrnimmt. Es sind dies der Vorsitzende der Institutsleiterrats, der Dienst- und Disziplinarvorgesetzter der Leiter der Institutszentren und der diesen unterstehenden Mitarbeiter ist, und der Personalleiter, der ebenfalls für die Mitarbeiter aller Institute mit Einstellungs- und Entlassungsbefugnis zuständig ist. Insbesondere ist hervorzuheben, dass beide auch als die zuständigen Ansprechpartner gegenüber dem Betriebsrat für die betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheiten benannt worden sind.

Für das Vorliegen eines einheitlichen Betriebes spricht zudem, dass noch im Jahr 2002 ein Betriebsrat gemeinsam von allen Mitarbeitern der am Standort ansässigen Institute gewählt worden ist. Damals ist auch von dem Arbeitgeber die Wahl nicht angefochten worden, obwohl die Organisation nicht anders war als heute.

cc. Das Mitbestimmungsrecht nach § 95 Abs. 2 BetrVG ist auch nicht ausgeschlossen, weil eine Integrationsvereinbarung nach § 83 SGB IX über die Förderung von schwerbehinderten Menschen abgeschlossen werden könnte.

Der Gesetzgeber hat keine Aussage zum Verhältnis einer Integrationsvereinbarung nach § 83 SGB IX zu dem betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsrecht nach § 95 Abs. 2 BetrVG getroffen. Daraus ist zu folgern, dass der Betriebsrat auch dann über Auswahlrichtlinien im Sinne des § 95 Abs. 2 BetrVG die Besetzung von Arbeitsplätzen mit schwerbehinderten Menschen fördern kann, wenn eine Integrationsvereinbarung abgeschlossen werden könnte. Weder zwingen der Umstand, dass auch über eine Integrationsvereinbarung dieses Ziel erreicht werden könnte, zu einem anderen Schluss, noch dass bei Abschluss der Integrationsvereinbarung auch die Schwerbehindertenvertretung und der Beauftragte des Arbeitgebers mitzuwirken haben.

Zum einen hat der Betriebsrat einen eigenen betriebsverfassungsrechtlichen Auftrag, die Eingliederung der Schwerbehinderten und sonstiger besonders schutzbedürftiger Personen zu fördern (§ 80 Abs. 1 Ziff. 4 BetrVG). Zum anderen hat er dabei mit der Schwerbehindertenvertretung zusammenzuarbeiten. So hat die Schwerbehindertenvertretung nach § 95 Abs. 4 SGB IX ein Recht zur beratenden Teilnahme an Sitzungen des Betriebsrats. Zu Besprechungen des Arbeitgebers mit dem Betriebsrat nach § 74 Abs. 1 BetrVG ist sie hinzuziehen. Der Betriebsrat hat sogar darauf hinzuwirken, dass eine Schwerbehindertenvertretung gewählt wird (§ 93 SGB IX).

Angesichts dieses auch im vorliegenden Fall beachteten Zusammenwirkens zwischen Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung (ein Mitglied der Einigungsstelle soll die Schwerbehindertenobfrau sein) erscheint der von dem Arbeitgeber vorgebrachte Interessengegensatz konstruiert.

Vielmehr stehen beide Rechte nebeneinander, wobei nur die Vereinbarung von Auswahlrichtlinien über die Einigungsstelle erzwingbar ist, nicht aber der Abschluss einer Integrationsvereinbarung.

dd. Die vom Betriebsrat angestrebte Betriebsvereinbarung ist schließlich als Auswahlrichtlinie zu qualifizieren.

Auswahlrichtlinien sind abstrakt-generelle Grundsätze, die allgemein oder für bestimmte Arten von Tätigkeiten oder Arbeitsplätze festlegen, welche Voraussetzungen bei der Durchführung von personellen Einzelmaßnahmen vorliegen müssen oder nicht vorliegen dürfen und welche sonstigen Gesichtspunkte bei ihnen im Hinblick auf die Arbeitnehmer weiter zu berücksichtigen sind oder außer Betracht zu bleiben haben (vgl. Fitting, a.a.O., § 95 Rdn. 6).

Dabei kann sich die Auswahlrichtlinie - wie hier - auf die Festlegung einiger, den Betriebspartner besonders wichtiger Grundsätze (hier die Förderung der schwerbehinderten Menschen) beschränken (vgl. Fitting, a.a.O., § 95 Rdn. 6).

Nach alledem war die Beschwerde zurückzuweisen.

Gegen diesen Beschluss ist ein Rechtsmittel nicht zulässig (§ 98 Abs. 2 S. 4 ArbGG).

Ende der Entscheidung

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