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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht München
Urteil verkündet am 24.04.2007
Aktenzeichen: 6 Sa 115/07
Rechtsgebiete: BetrVG


Vorschriften:

BetrVG § 102 Abs. 5 Satz 2
Der betriebsverfassungsrechtliche Entbindungsantrag gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG kann nur auf die in diesem Satz 2 abschließend geregelten Gründe gestützt werden (in Anschluss an LAG München 5.10.1994 - LAGE BetrVG 1972 § 102 Beschäftigungspflicht Nr. 19).
LANDESARBEITSGERICHT MÜNCHEN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

6 Sa 115/07

Verkündet am: 24. April 2007

In dem Rechtsstreit

hat die Sechste Kammer des Landesarbeitsgerichts München auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 24. April 2007 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Staudacher sowie die ehrenamtlichen Richter Ewinger und Steiner für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten vom 5. Februar 2007 wird das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 19. Dezember 2006 abgeändert und der Entbindungsantrag vom 11. Dezember 2006 kostenpflichtig abgewiesen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten im Verfügungsverfahren über die Entbindung der Arbeitgeberin von der Pflicht zur Weiterbeschäftigung des Beklagten auf seinem bisherigen Arbeitsplatz.

Der 1962 geborene, verheiratete und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Beklagte ist seit April 1992 bei der Klägerin, bzw. zunächst bei deren Rechtsvorgängerin, beschäftigt.

Als ihm die Klägerin zum 30. November 2006 eine ordentliche Kündigung aussprach, ließ der Beklagte dagegen Kündigungsschutzklage erheben, über die noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist.

Der Betriebsrat war am 8. Juni 2006 zur beabsichtigten Kündigung des Beklagten angehört worden und hatte der Kündigung mit Schreiben vom 13. Juni 2006 (Blatt 7 der Akte) nach § 102 Abs. 3 BetrVG widersprochen.

Mit einem Hinweis auf diesen Widerspruch verlangte der Beklagte mit anwaltschaftlichem Schreiben vom 27. November 2006 (Blatt 8/9 der Akte) seine Weiterbeschäftigung über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus gemäß § 102 Abs. 5 BetrVG.

Die Klägerin ist der Ansicht, ein ordnungsgemäßer Widerspruch des Betriebsrats liege nicht vor, die Weiterbeschäftigungspflicht werde damit nicht ausgelöst.

Mit Schriftsatz vom 11. Dezember 2006 hat die Klägerin beim Arbeitsgericht München das anhängige Verfügungsverfahren einleiten lassen mit den Anträgen:

Es wird festgestellt, dass ein Anspruch des Antragsgegners auf Weiterbeschäftigung nach § 102 Abs. 5 BetrVG nicht besteht.

Hilfsweise: die Antragstellerin wird von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des Antragsgegners bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens - Arbeitsgericht München, 28 Ca 11965/06 - entbunden.

Auf Anregung des Erstgerichts war zuletzt nur mehr der Entbindungsantrag gestellt worden und dieser hatte dann auch Erfolg. Auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des Endurteils vom 19. Dezember 2006 wird Bezug genommen.

Mit der am 5. Februar 2007 beim Landesarbeitsgericht München eingegangenen und zugleich begründeten Berufung gegen diese seinen Prozessbevollmächtigten am 4. Januar 2007 zugestellte Entscheidung verfolgt der Beklagte seinen Abweisungsantrag weiter. Dem Erstgericht wird Verkennung der Entbindungsgründe vorgehalten. § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG sehe ein besonderes Verfahren in Form der Entbindung von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung vor, wenn einer der abschließend in Satz 2 Nrn. 1 bis 3 genannten Entbindungsgründe vorliege. Soweit das Erstgericht dem Antrag stattgegeben habe, weil der Betriebsrat der Kündigung nicht ordnungsgemäß im Sinne von § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG widersprochen habe, sei dieser Umstand im vorliegenden Entbindungsverfahren gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG unerheblich.

Die Voraussetzungen einer analogen Rechtsanwendung lägen nicht vor. Analogie setze eine planwidrige Regelungslücke und vergleichbare Interessenlagen voraus. Beides sei hier nicht gegeben. Ein Widerspruch, der als nicht ordnungsgemäß im Sinne von § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG einzustufen sei, müsse nicht schon allein aus diesem Grunde auch offensichtlich unbegründet im Sinne des §§ 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG sein. Dass der Prüfungsumfang nicht identisch ist, ergebe sich schon aus der unterschiedlichen Terminologie und daraus, dass nur in Letzterer Vorschrift das Merkmal der Offensichtlichkeit gefordert werde.

Einer der Entbindungsgründe im Sinne von § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG liege nicht vor und so lautet der Berufungsantrag:

Das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 19. Dezember 2006 (Az.: 8 Ga 291/06) wird aufgehoben und der Antrag auf Entbindung der Verfügungsklägerin von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung abgewiesen.

Die Klägerin lässt beantragen:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Den Überlegungen des Erstgerichts in der angefochtenen Entscheidung pflichtet sie bei, den Ausführungen in der Berufungsbegründung tritt sie entgegen. Ergänzend dazu wird darauf hingewiesen, dass sich die angegriffene Entscheidung im Einklang mit der am Landesarbeitsgericht München herrschenden Meinung befinde. In einer Vielzahl von Entscheidungen sei vom gesetzlichen Wortlaut abgewichen worden und man habe einen nicht ordnungsgemäßen Widerspruch dem offensichtlich unbegründeten Widerspruch gleichgestellt.

Zur Ergänzung des Parteivorbringens im Berufungsverfahren wird Bezug genommen auf den Berufungsschriftsatz vom 5. Februar 2007 (Blatt 59 bis 66 der Akte), auf die Berufungsbeantwortung vom 4. April 2007 (Blatt 81 bis 83 der Akte) sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 24. April 2007 (Blatt 84 bis 86 der Akte).

Entscheidungsgründe:

Die statthafte (§ 64 Abs. 2 ArbGG) und auch sonst zulässige Berufung (§ 66 Abs. 1 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO, § 11 Abs. 2 ArbGG) mit dem Ziel, den Entbindungsantrag abgewiesen zu bekommen, hat Erfolg. Er muss wegen Fehllens eines tragfähigen Entbindungsgrundes abgewiesen werden. Das Vorbringen, der Betriebsrat habe der beabsichtigten Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Beklagten nicht ordnungsgemäß im Sinne von § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG widersprochen, ist im vorliegenden Entbindungsverfahren gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG rechtlich unerheblich.

1. Streitgegenstand des Entbindungsverfahrens gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG ist nur, ob einer der in dieser Vorschrift abschließend geregelten Gründe für die Entbindung des Arbeitgebers von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG besteht, so dass die Entscheidung über die vom Arbeitgeber beantragte Entbindung jedenfalls in aller Regel nicht voraussetzt, dass der Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG besteht und insbesondere der Betriebsrat der Kündigung ordnungsgemäß i.S.v. § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG widersprochen hat (so schon LAG München Urteil vom 05. Oktober 1994 LAGE BetrVG 1972 § 102 Beschäftigungspflicht Nr. 19 m.w.N.; ebenso LAG München 05. August 2003 - 2 Sa 611/03 ; ebenso etwa Richardi/Thüsing BetrVG 8. Aufl. § 102 Rn. 251).

2. Dementsprechend kann der Arbeitgeber auch nicht gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG mit der Begründung von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers entbunden werden, dass der Betriebsrat der Kündigung gar nicht ordnungsgemäß i.S.v. § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG widersprochen habe.

Gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG wäre das nur möglich, wenn der Widerspruch des Betriebsrats offensichtlich unbegründet war. Streitgegenstand des Entbindungsverfahrens gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG ist aber nur, ob der vom Betriebsrat erhobene Widerspruch unter ausschließlicher Berücksichtigung der vom Betriebsrat geltend gemachten Widerspruchsgründe nach dem in § 102 Abs. 3 BetrVG abschließend geregelten Katalog beachtlicher Widerspruchsgründe offensichtlich unbegründet ist. Ein Widerspruch, der als nicht ordnungsgemäß im Sinne von § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG erscheint, ist nicht schon allein aus diesem Grunde auch offensichtlich unbegründet im Sinne von § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG. Das ergibt sich schon aus der Verschiedenartigkeit dieser Tatbestandsmerkmale und insbesondere aus dem (nur) in § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG vorausgesetzten Merkmal der Offensichtlichkeit. Das folgt darüber hinaus auch aus der Verschiedenartigkeit der systematischen Stellung dieser Merkmale einerseits in § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG , wonach gegebenenfalls ein Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers besteht, der auch in einem Hauptsacheverfahren geprüft werden kann, und andererseits in § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG, wonach der Arbeitgeber von der gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG - möglicherweise - bestehenden Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers (nur) durch eine Gestaltungsverfügung entbunden werden kann, ohne dass diese Entbindung auch noch in einem Hauptsacheverfahren geprüft werden könnte. Wegen dieser Verschiedenartigkeit kann § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG auf den Fall, dass der Widerspruch des Betriebsrats als nicht ordnungsgemäß im Sinne von § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG erscheint, weder unmittelbar noch analog angewendet werden. Der gegenteiligen Ansicht dahin, dass der Arbeitgeber gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auch mit der Begründung entbunden werden könne, der Widerspruch des Betriebsrats sei nicht ordnungsgemäß im Sinne von § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG, folgt die Kammer nicht. Für eine solche Vermischung der Rechtsnormen des § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG und des § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG gibt es mit Rücksicht auf die festgestellte Verschiedenartigkeit der maßgeblichen Tatbestandsmerkmale und der systematischen Stellung dieser Merkmale keine überzeugende Begründung (so schon LAG München Urteil vom 05. Oktober 1994 aaO; vom 17. Dezember 2003 - 5 Sa 1077/03 - LAGE § 102 BetrVG 2001 Beschäftigungspflicht Nr. 4).

In Bezug auf die Entbindungsgründe des § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG ist der Vortrag der Klägerin schon nicht schlüssig.

3. Unter Abänderung der angefochtenen Entscheidung war der Entbindungsantrag damit abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.

Ein weiteres Rechtsmittel ist nicht eröffnet (§ 72 Abs. 4 ArbGG).

Ende der Entscheidung

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