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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht München
Urteil verkündet am 29.04.2008
Aktenzeichen: 7 Sa 873/07
Rechtsgebiete: MTV Groß- und Außenhandel, BGB


Vorschriften:

MTV Groß- und Außenhandel § 6 Nr. 3 S. 1
BGB § 613 a
Die 12-monatige Kündigungsfrist des § 6 Nr. 3 S. 1 MTV Groß- und Außenhandel beinhaltet eine durch Betriebstreue und schlechtere Arbeitsmarktchancen des Arbeitnehmers sachlich gerechtfertigte Besserstellung und verstößt nicht gegen das AGG. Auch wenn ein Großhandelsunternehmen den Großhandel aufgibt, alle Großhandelsbetriebe und den dazugehörigen Overhead an ein Tochterunternehmen gemäß § 613 a BGB überträgt und nur noch als Holding fortbesteht, erfolgt die Kündigung gegenüber einem dem Betriebsübergang widersprechenden Arbeitnehmer nicht wegen einer Betriebsstilllegung.
LANDESARBEITSGERICHT MÜNCHEN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

7 Sa 873/07

Verkündet am: 29.04.2008

In dem Rechtsstreit

hat die 7. Kammer des Landesarbeitsgerichts München auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 29. 04.2008 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Gericke sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. Schwarz und Fischer für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 14. August 2007 - Az.: 20 Ca 410707 - aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 20.12.2006 erst mit Ablauf des 31.12.2007 beendet worden ist.

Die Beklagte trägt die Kosten beider Rechtszüge.

Für die Beklagte wird die Revision zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten in der Berufung über die Länge der Kündigungsfrist, die die Beklagte bei ihrer Kündigung seines Arbeitsverhältnisses vom 20.12.2006 einzuhalten hatte.

Der am ..geborene Kläger, Mitglied der Gewerkschaft ver.di, hat am 13.11.1979 einen Arbeitsvertrag mit der Beklagten, Mitglied des Landesverbandes Groß- und Außenhandel, Vertrieb und Dienstleistungen Bayern, Unternehmer- und Arbeitgeberverband der intermediären Wirtschaft e.V. (LGAD) abgeschlossen (Bl. 125/128 d.A.)

Nach Ziff. 1.1 des Arbeitsvertrags hat sein Arbeitsverhältnis als kaufmännischer Angestellter bei der Beklagten, die damals ein Großhandelsunternehmen mit Verkaufsstellen u.a. auch in A. betrieben hat, am 13.08.1979 begonnen. Die monatliche Vergütung des Klägers hat zuletzt 2.265,00 € betragen. Der Kläger war in der Verkaufsstelle der Beklagten in A. beschäftigt und dort zeitweise auch Betriebsratsmitglied.

Zuletzt existierte bei der Beklagten nicht mehr jeweils ein Betriebsrat in den einzelnen Verkaufsstellen, sondern ein Betriebsrat in P., dem Sitz der Beklagten, der für alle Verkaufshäuser zuständig war.

Ziff. 2.1 des Arbeitsvertrags lautet:

Das Arbeitsverhältnis unterliegt den Bestimmungen des Manteltarifvertrags für Angestellte in den Bayerischen Betrieben des Gross- und Außenhandels.

Ziff. 7.1 des Arbeitsvertrags lautet:

Die für beide Teile geltenden Kündigungsfristen richten sich nach den tariflichen bzw. gesetzlichen Bestimmungen.

Der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer in den Bayerischen Betrieben des Groß-und Außenhandels vom 01.07.1997 (MTV) lautet in § 6 Kündigungsfristen

1. ...

Für die Kündigung durch den Arbeitgeber beträgt die Kündigungsfrist, wenn das Arbeitsverhältnis in dem Betrieb oder Unternehmen

...

20 Jahre bestanden hat, 7 Monate

jeweils zum Ende eines Kalendermonat

2. ...

3. Bei Beschäftigten, die das 50. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb mindestens 15 Jahre angehören, beträgt die Kündigungsfrist durch den Arbeitgeber 12 Monate zum Monatsende. Bei Betriebsstilllegungen gilt die Kündigungsfrist wie in Ziff. 1 vereinbart.

Die Beklagte hat im Jahr 2006 beschlossen, den Großhandel aufzugeben und ab 01.01.2007 lediglich noch als Holding weiterzubestehen. Sie hat diesen Beschluss umgesetzt, indem sie mit Wirkung zum 01.01.2007 sämtliche (60 oder 62) Verkaufshäuser sowie die zentralen Abteilungen, die diese Verkaufshäuser betreut haben (Personal, Handel, Marketing, Vertrieb, Logistik) auf die Fa. St. G im Wege des Betriebsübergangs (vgl. Informationsschreiben der Beklagten zum Betriebsübergang vom 06.11.2006 = Bl. 30 d.A.) übertragen hat.

Der Kläger hat dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die Fa. St. G widersprochen. Daraufhin hat die Beklagte ihm mit Schreiben vom 20.12.2006 sein Arbeitsverhältnis zum 31.07.2007 gekündigt.

Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 09.01.2007, beim Arbeitsgericht München am selben Tag eingegangen und der Beklagten am 18.01.2007 zugestellt, hat der Kläger zunächst Klage gegen die Kündigung der Beklagten vom 20.12.2006 wegen deren behaupteter Unwirksamkeit erhoben. Mit Schriftsatz vom 07.03.2007 (Bl. 14/16 d.A.) hat er sein Klageziel darauf beschränkt, die Einhaltung der Kündigungsfrist gemäß § 6 Nr. 3 MTV durch die Beklagte zu erreichen.

Der Kläger hat vor dem Arbeitsgericht ausgeführt, die Beklagte habe die Kündigung vom 20.12.2006 nicht wegen Betriebsstilllegung ausgesprochen, so dass nicht § 6 Nr.3 S. 2 MTV zur Anwendung komme, der zu der siebenmonatigen Kündigungsfrist gemäß § 6 Nr. 1 MTV führe, sondern § 6 Nr. 3 S.1 MTV, der eine Kündigungsfrist von 12 Monaten zum Monatsende regele. Die Beklagte habe den Bereich Handel nicht stillgelegt, sondern im Wege des Betriebsübergangs gemäß § 613 a BGB auf die Fa. St. G übertragen.

Der Kläger hat beim Arbeitsgericht beantragt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 20.12.2006 erst mit Ablauf des 31.12.2007 beendet sein wird.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat sie beim Arbeitsgericht vorgetragen, es handele sich bei der Maßnahme der Beklagten, die letztlich zur Kündigung des Klägers geführt habe, um eine Betriebsstilllegung, nämlich um die Auflösung der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern bestehenden Betriebs- und Produktionsgemeinschaft, die ihre Veranlassung und zugleich ihren unmittelbaren Ausdruck darin finde, dass der Arbeitgeber die wirtschaftliche Betätigung in der ernstlichen Absicht einstelle, um den bisherigen Betriebszweck dauernd oder für eine ihrer Dauer nach unbestimmte, wirtschaftlich nicht unerhebliche Zeitspanne nicht weiter zu betreiben. Dadurch, dass die Beklagte ihren Betriebszweck gewechselt habe, nämlich nunmehr nicht mehr Großhandel, sondern nur noch eine Holding betreibe, sei die Betriebsgemeinschaft mit den Arbeitnehmern in den Verkaufshäusern aufgelöst worden.

Mit Endurteil vom 14.08.2007, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht München die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, durch den Beschluss, keinen Großhandel mehr zu betreiben und den gesamten Bereich Handel auf die Fa. St. G zu übertragen, habe die Beklagte dieselbe Situation geschaffen wie bei einer typischen Betriebsstilllegung, nämlich die Produktionsgemeinschaft zwischen ihr und ihren Arbeitnehmern des Bereichs Handel aufgelöst. Sie habe wie ein Unternehmen, das seinen Betrieb endgültig schließe, keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr für den Kläger. Durch seinen Widerspruch habe der Kläger das Schicksal seines Arbeitsverhältnisses von dem des Betriebes getrennt, der nunmehr bei einem anderen Arbeitgeber fortbestehe. Daher könne er sich nicht darauf berufen, sein Arbeitsplatz, auf dem er nicht mehr verbleiben wolle, bestehe noch bei einem anderen Arbeitgeber. Nach Sinn und Zweck des § 3 Abs.3 S.2 MTV (gemeint wohl: § 6 Abs.3 S.2 MTV) handele es sich bei der Maßnahme der Beklagten um eine Betriebsstilllegung im Tarifvertragssinne. Der Grundsatz "Betriebsstilllegung und Betriebsübergang schließen sich aus" beantworte lediglich die Frage, ob ein Betriebsübergang vorliege.

Gegen dieses ihm am 22.08.2007 zugestellte Endurteil wendet sich der Kläger mit seiner am 20.09.2007 eingereichten und am 19.11.2007 begründeten Berufung. Zur Begründung seines Rechtsmittels führt er aus, er habe einen Anspruch auf die Einhaltung der Kündigungsfrist von 12 Monaten gemäß § 6 Ziff. 3 MTV, denn er sei über fünfzig Jahre alt und seit mehr als 15 Jahren bei der Beklagten beschäftigt. Die Kaufhäuser der Beklagten seien im Wege des Betriebsübergangs auf die Fa. St. übergegangen und nicht von der Beklagten stillgelegt worden. Der MTV verwende den Begriff "Betriebsstilllegung" mit derselben Bedeutung wie auch sonst in der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur, nämlich als "Aufhebung der Betriebs- und Produktionsgemeinschaft zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer auf Dauer". Die Beklagte betreibe in P. nach wie vor einen Betrieb. Der Bereich Großhandel sei nur ein Teilzweck dieses Betriebs gewesen. Die Aufgabe des Großhandels stelle keine Betriebsstilllegung dar. Betriebsübergang und Betriebsstilllegung schlössen sich aus.

Ergänzend zum Vortrag des Klägers in der Berufung wird auf dessen Schriftsatz vom 19.11.2007 (Bl. 66/70 d.A.) Bezug genommen.

Der Kläger beantragt in der Berufung,

1. das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 14.August 2007 - Az.: 20 Ca 410/07 - abzuändern;

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 20.12.2006 erst mit Ablauf des 31.12.2007 beendet wird.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung trägt die Beklagte vor, § 6 Ziff. 3 MTV habe den Zweck, Mitarbeiter, die das fünfzigste Lebensjahr vollendet hätten und 15 Jahre einem Betrieb angehört hätten, wegen ihrer wesentlich geringeren Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu schützen. Der Arbeitgeber sei bei Fortbestehen seines Betriebs im Regelfall in der Lage, die Belastungen einer derart langen Kündigungsfrist zu tragen. Dies sei aber nicht der Fall, wenn ein Unternehmen sich gar nicht mehr im Großhandel betätige, sondern nur noch Holding-Funktionen ausübe. Mit Einstellung der Großhandelstätigkeit falle die Beklagte nicht mehr unter den betrieblichen Anwendungsbereich des MTV gemäß dessen § 1 Ziff. 2. Somit müsse die systematische Auslegung des MTV zu dem Ergebnis führen, dass eine Einstellung der Großhandelstätigkeit einer Betriebsstilllegung gleichzusetzen sei. Auch habe die Beklagte die Betriebs- und Produktionsgemeinschaft zwischen sich und den im Bereich Handel tätigen Arbeitnehmern aufgegeben, indem sie ihre Großhandelstätigkeit eingestellt habe. Sie vertrete weiterhin die Auffassung, dass die einzelnen Kaufhäuser wie auch das in A., in dem der Kläger beschäftigt gewesen sei, jeweils eigenständige Betriebe seien. Der Kläger wolle einfach trotz nicht erbrachter Arbeitsleistung weiterhin Entgelt von der Beklagten beziehen. Sein Widerspruch gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses entbehre jeder durch zu erwartende Nachteile gerechtfertigten Begründung. Bei Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die Fa. St. G hätte sich für ihn nichts geändert. In P. gebe es weder freie vergleichbare Arbeitsplätze für den Kläger, noch hätte sie eine Sozialauswahl unter Einbeziehung von Mitarbeitern aus P. vornehmen müssen, da der Kläger in A. beschäftigt gewesen sei und sein Arbeitsvertrag keine Versetzungsklausel enthalte.

Ergänzend zum Vortrag der Beklagten in der Berufung wird auf ihren Schriftsatz vom 21.01.2008 (Bl.76/86 d.A.) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

1. Die gemäß § 64 Abs.2 lit. b) statthafte und auch in der richtigen Form und rechtzeitig (§ 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, §§ 519 Abs. 2, 520 Abs. 3 ZPO, § 66 Abs. 1 S. 1, 2 und 5 ArbGG) eingelegte und begründete Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 14.August.2007 - Az.: 20 Ca 410/07 führt zur Aufhebung der im Übrigen sorgfältig begründeten Entscheidung und zur Verurteilung der Beklagten nach dem Klageantrag.

2. Die Beklagte hatte bei Ausspruch der Kündigung vom 20.12.2006 die Kündigungsfrist von 12 Monaten zum Monatsende gemäß § 6 Ziff. 3 MTV gegenüber dem Kläger einzuhalten. Denn der Kläger erfüllt mit einem Lebensalter von im Zeitpunkt der Kündigung 62 Jahren (geboren am 26.08.1944; vgl. Kündigungsanhörung der Beklagten vom 15.12.2006 = Bl. 32 d.A.) und einer Betriebszugehörigkeit von im selben Zeitpunkt 27 Jahren (Eintritt bei der Beklagten am 13.08.1979; vgl. Bl. 32 d.A.) die persönlichen Voraussetzungen dieser Tarifnorm.

3. Die Ausnahmevorschrift des § 6 Ziff. 3 S.2 MTV kommt nicht zur Anwendung, weil die Beklagte die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers nicht wegen einer Betriebsstilllegung ausgesprochen hat, sondern vielmehr deshalb, weil sie nach der Übertragung des Bereichs Handel auf die Fa. St. im Wege des Betriebsübergangs nach § 613 a BGB und dem rechtzeitigen Widerspruch des Klägers gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die Fa. St. G keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr für den Kläger hatte.

4. Auch ist der Begriff der Betriebsstilllegung weder der Aufgabe der Großhandelstätigkeit durch ein Unternehmen als solcher noch der Notwendigkeit der Kündigung eines Arbeitnehmers gleichzusetzen, für den es wegen wirksamer Ausübung seines Zustimmungsrechts bei einem Betriebsübergang gemäß § 613 a BGB keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr im verbleibenden Unternehmen ohne Betrieb gibt.

5. Zunächst ist festzuhalten, dass der MTV den Begriff Betriebsstilllegung nicht synonym mit dem Begriff Betriebsübergang gemäß § 613 a BGB gebraucht, dies insbesondere auch nicht in dem Fall, dass ein Unternehmen beschließt, künftig keinen Großhandel mehr zu betreiben und ihre sämtlichen Großhandelsaktivitäten auf ein anderes Unternehmen zu übertragen:

6. Eine Auslegung des MTV führt nach Auffassung der Kammer nicht zu dem Ergebnis, dass der Begriff "Betriebsstilllegung" in § 6 Ziff. 3 S.2 MTV auch den Fall umfasst, in dem ein Unternehmen beschließt, die Großhandelstätigkeit aufzugeben und sämtliche Großhandelsaktivitäten, also alle Kaufhäuser und die zentralen Verwaltungen auf ein Tochterunternehmen im Wege des Betriebsinhaberwechsels zu übertragen.

7. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG (vgl. etwa BAG 16.06.2004 - 4 AZR 408/03 AP Nr. 24 zu § 4 TVG Effektivklausel), der sich die Kammer anschließt, gelten für die Auslegung von Tarifverträgen die nachfolgenden Grundsätze:

"Die Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags folgt nach ständiger Rechtsprechung den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Dabei ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei einem nicht eindeutigen Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt."

8. Bereits die Auslegung des MTV nach dem möglichen Wortsinn, die nach diesen Grundsätzen zu allererst zu erfolgen hat, führt zu dem Ergebnis, dass die Tarifvertragsparteien für den Begriff "Betriebsstilllegung" keine vom sonstigen Gebrauch in Rechtsprechung und Schrifttum abweichende Bedeutung wählen wollten. Im MTV fehlt es vollständig an irgendwelchen Hinweisen auf einen derartigen Willen, dies, obwohl die Tarifvertragsparteien im MTV durchaus das Mittel der Protokollnotiz zum besseren Verständnis der Tarifvorschriften verwenden. Die Beklagte räumt auch in ihrer Berufungserwiderung ein (Bl. 79 d.A.), dass derartige Hinweise fehlen. Verwenden die Tarifvertragsparteien jedoch einen Begriff, der in der arbeitsrechtlichen Begriffswelt mit einem bestimmten Begriffsinhalt verbunden wird, ohne auch nur im Geringsten darauf hinzuweisen, dass sie eine andersartige Bedeutung des Begriffs verwenden wollen, ist davon auszugehen, dass sie den Begriff ebenso verwenden wollen, wie Rechtsprechung und Literatur zum Arbeitsrecht es auch sonst tun (so etwa das BAG 25.09.1996 4 AZR 200/95 = DB 1997, 432 / 433 zur Verwendung der Begriffe "Arzt" und ärztlich" im Bundesangestelltentarifvertrag BAT). Der mutmaßliche Wille der Tarifvertragsparteien darf bei der Auslegung des Tarifvertrags nur insoweit Berücksichtigung finden, wie er im Tarifvertragstext seinen Niederschlag gefunden hat (BAG a.a.O.).

9. Die Stilllegung des Betriebs erfordert nach dem BAG den ernstlichen und endgültigen Entschluss des Arbeitgebers, die Betriebs- und Produktionsgemeinschaft zwischen ihm und den Arbeitnehmern auf Dauer oder zumindest für einen unbestimmten, aber wirtschaftlich nicht unerheblichen Zeitraum aufzuheben. Betriebsübergang nach § 613 a BGB und Betriebsstilllegung schließen sich gegenseitig aus (BAG 28.04.1988 - 2 AZR 623/87 = AP Nr. 74 zu § 613 a BGB).

10. Eine Betriebsstilllegung liegt bei einem Betriebsinhaberwechsel gemäß § 613 a BGB entgegen der Ansicht der Beklagten nicht etwa bereits deshalb vor, weil auch beim Betriebsinhaberwechsel die Produktionsgemeinschaft zwischen dem Veräußerer und seinen Arbeitnehmern aufgelöst wird. Es kommt allein darauf an, dass der Betrieb als "organisatorische Einheit, in der ein Arbeitgeber allein oder zusammen mit seinen Arbeitnehmern unter Zuhilfenahme sächlicher und immaterieller Mittel fortgesetzt arbeitstechnische Zwecke verfolgt, die sich nicht in der Befriedigung von Eigenbedarf erschöpfen" (vgl. dazu Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 8. Auflage München 2008, 210 BetrVG § 1 Rn. 7 - 12 (Eisemann) erhalten bleibt.

11. Dazu führt Preis in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 8. Auflage München 2008, 230 BGB § 613 a Rn. 57 unter Verweis auf die dort zitierte Entscheidung des BAG aus:

"Entscheidend ist jedoch nicht die Auflösung der Produktionsgemeinschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern, denn diese Auflösung erfolgt auch im Fall eines Betriebsübergangs. Die Produktionsgemeinschaft besteht dann zwischen dem Erwerber als neuem Arbeitgeber und den Arbeitnehmern. Vielmehr kommt es maßgeblich auf das Schicksal der betriebsorganisatorischen Einheit des Betriebes oder Betriebsteils an. Wird sie weitgehend in ihrer bisherigen Form fortgeführt, liegt ein Betriebsübergang vor; wird sie dagegen aufgelöst, eine Betriebsstilllegung (BAG 12.02.1987 - 2 AZR 247/86 = AP Nr. 67 zu § 613 a BGB)." Dieser Ansicht schließt sich die Kammer an.

12. Auch die Auslegung nach dem Sinnzusammenhang (systematische Auslegung) führt zu keinem anderen Ergebnis. Im MTV findet sich an keiner anderen Stille irgendeine Regelung, die die Beendigung der Großhandelstätigkeit durch ein Unternehmen mit einer Betriebsstilllegung gleichsetzt. Mit dem BAG formuliert: Der Wille der Tarifvertragsparteien zu einer derartigen Gleichsetzung findet weder in § 6 Ziff. 3 S.2 noch an anderer Stelle im MTV seinen Niederschlag. Deshalb kann auch die historisch-teleologische Auslegung mangels Hinweisen auf einen dem Allgemeingebrauch des Begriffs der Betriebsstilllegung im Arbeitsrecht entgegenstehenden Willen der Tarifvertragsparteien zu keinem anderen Ergebnis führen.

13. Die objektiv-teleologische Auslegung bestätigt das gefundene Ergebnis. Ältere und betriebstreue Arbeitnehmer sollen bei Arbeitgeberkündigungen wegen ihrer eingeschränkten Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt durch eine besonders lange Kündigungsfrist geschützt werden. Dieser Schutz entfällt nur bei einer Betriebsstilllegung, weil durch die überlange Kündigungsfrist eine flexible und kurzfristige unternehmerische Planung des Unternehmens behindert werden würde und bei einer Stilllegung des Betriebs jede Beschäftigungsmöglichkeit im Betrieb entfällt.

14. Gerade dieser Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit liegt jedoch bei einem Betriebsinhaberwechsel nicht vor. Die Arbeitsverhältnisse der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer gehen auf den Betriebserwerber unverändert über, § 613 a Abs.1 S.1 BGB.

15. Allerdings räumt § 613 a Abs.6 BGB dem Arbeitnehmer das Recht ein, dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf das erwerbende Unternehmen zu widersprechen und ihn damit zu verhindern. Einer Begründung durch den Arbeitnehmer bedarf der Widerspruch nicht. Deshalb darf sein derartiges Verhalten auch nicht sanktioniert werden, bloß weil der Widerspruch nicht durch drohende Nachteile motiviert ist.

16. Es kommt in der Praxis häufig vor, dass ein Arbeitnehmer bei einem Betriebsübergang gemäß § 613 a BGB von seinem Widerspruchsrecht Gebrauch macht und nach dessen Ausübung sein Arbeitsverhältnis in einem Unternehmen fortbesteht, das keine Beschäftigungsmöglichkeiten mehr für ihn hat. Dies ist nahezu stets der Fall, wenn ein Unternehmen nur einen Betrieb hat und diesen veräußert. Insofern beinhaltet der Entschluss der Beklagten, keinen Großhandel mehr betreiben zu wollen und deshalb sämtliche Großhandelsbetriebe einschließlich der zentralen Verwaltungseinheiten für den Großhandel auf eine Tochterfirma im Wege des § 613 a BGB zu übertragen, keine Besonderheit gegenüber der Veräußerung des einzigen Betriebs durch ein Unternehmen. In beiden Fällen hat der Unternehmer beschlossen, selbst keinen Betrieb mehr zu führen. Mit einer Betriebsstilllegung hat diese Entscheidung unmittelbar noch nichts zu tun. Erst bei der Umsetzung des Beschlusses kommt die Frage der Betriebsstilllegung auf. Es handelt sich schlicht um zwei Alternativen, ob nämlich der Unternehmer seine unternehmerische Entscheidung in der Weise umsetzt, dass er seinen Betrieb stilllegt oder, indem er ihn veräußert. Im ersteren Fall kommt es zu einer Betriebsstilllegung, in letzterem zu einem Betriebübergang gemäß § 613 a BGB.

17. Die Kündigung des Klägers beruht somit nicht auf einem Betriebsstilllegungsentschluss der Beklagten, sondern auf der Folge der Ausübung seines Widerspruchsrechts gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses. Der Entschluss der Beklagten, dem Kläger zu kündigen, weil sie nach Übertragung des Bereichs Handel auf die Fa. St. G nur noch als Holding fortbesteht und keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr für den Kläger hat, ist auch nicht etwa einem Betriebsstilllegungsbeschluss gleichzusetzen. Denn ein Betrieb, den man schließen könnte, bestand bei ihr nicht mehr, als sie den Entschluss fasste, den Kläger zu entlassen.

18. Die Tarifvertragsparteien hätten, wenn sie die Kündigungsfrist für den Arbeitnehmer gemäß § 6 Ziff.3 S.1 MTV für den Fall einer Kündigung wegen Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit für einen Arbeitnehmer, der dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf einen Betriebserwerber widersprochen hat, kürzen wollten, dies ausdrücklich in § 6 Ziff. 3 S.2 MTV vermerken müssen.

19. Den zuletzt in der Berufung von der Beklagten vorgetragenen Einwand, die verlängerte Kündigungsfrist gemäß § 6 Ziff. 3 S.1 MTV sei wegen Verstoßes gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897) nichtig, so dass ohnehin nur noch die Kündigungsfrist von sieben Monaten zum Monatsende gemäß § 6 Ziff. 2 MTV einzuhalten gewesen sei, hält die Kammer für unbegründet.

20. In Betracht kommt hier gemäß §§ 1, 7 AGG das Alter. Die unterschiedliche Behandlung von Beschäftigten (§ 6 AGG) wegen des Alters ist keineswegs generell unzulässig.

21. § 10 S.1 bis 3 AGG lauten:

Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlungen wegen des Alters dann auch zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt sind. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen angemessen und erforderlich sein. Derartige unterschiedliche Behandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:

1. Die Festlegung besonderer Bedingungen für... Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Beschäftigten und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen.

22. Auch die Beklagte ist wie die erkennende Kammer der Meinung, dass die gegenüber § 6 Ziff. 1 und 2 MTV nochmals verlängerte Kündigungsfrist in § 6 Ziff. 3 S.1 MTV den ab 50 Jahre alten Arbeitnehmer wegen dessen altersbedingt schwererer Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt als Belohnung für besondere Betriebstreue, nämlich mindestens 15 Jahre Vordienstzeiten bei Ausspruch der Kündigung durch den Arbeitgeber in der Weise schützten soll, dass er ein Jahr Zeit hat, um sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, während die sonst längste gesetzliche und tarifliche Kündigungsfrist 7 Monate beträgt.

23. Die Tarifvertragsparteien verfolgen damit ein legitimes Ziel, nämlich den besonderen Schutz älterer betriebstreuer Arbeitnehmer. Das Mittel zur Erreichung des Ziels ist objektiv, nämlich an allgemeine persönliche Voraussetzungen geknüpft, und angemessen, denn das Mittel besteht allein in einer Verlängerung der Kündigungsfrist und beeinflusst nicht auch noch zusätzlich die Sozialauswahl. Das Mittel ist auch erforderlich. Denn je schwerer ein Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar ist, desto längere Zeit wird seine Vermittlung in Anspruch nehmen. Durch die Verknüpfung von Mindestbetriebszugehörigkeit und Mindestalter wird auch die Stufenregelung gerechtfertigt. Nur wer besonders lange Betriebstreue ausweist, wird im Falle seines fortgeschrittenen Lebensalters als Arbeitnehmer vom Arbeitgeber im Fall der Arbeitgeberkündigung besonders geschützt.

24. Als unterlegene Partei hat die Beklagte die Kosten beider Rechtszüge zu tragen, §§ 91 Abs.1 S.1, 97 Abs.1 ZPO.

25. Das Gericht hat für die Beklagte die Revision zugelassen, weil die entschiedenen Fragen für die Tarifgebundenen von grundsätzlicher Bedeutung sind.

Ende der Entscheidung

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