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Gericht: Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 12.12.2003
Aktenzeichen: 10 Sa 247/03
Rechtsgebiete: KSchG, BetrVG, ArbGG


Vorschriften:

KSchG § 1 Abs. 3
BetrVG § 102
ArbGG § 66
ArbGG § 67
1. Die Nichtbeachtung von im Ausland zu erfüllenden Unterhaltspflichten in einer Auswahlrichtlinie gemäß § 95 Abs. 1 BetrVG widerspricht der Wertentscheidung des Art. 6 GG, die bei der Konkretisierung des in § 75 Abs. 1 BetrVG normierten Gebots zur Wahrung der Grundsätze von Recht und Billigkeit von den Arbeitsgerichten zu beachten ist. Dabei ist der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG nicht auf rein inlandsbezogene Ehen und Familien beschränkt. Er umfasst vielmehr eheliche und familiäre Lebensgemeinschaften unabhängig davon, wo und nach Maßgabe welcher Rechtsordnung sie begründet worden und ob die Rechtswirkung des ehelichen oder familiären Bandes nach deutschem oder ausländischem Recht zu beurteilen sind, solange es sich um Lebensgemeinschaften handelt, die der Vorstellung des Grundgesetzes von Ehe und Familie nicht grundlegend fremd sind wie die Mehrehe. Missbrauchsmöglichkeiten lässt sich durch die Pflicht zum Nachweis des Bestehens und der Erfüllung ausländischer Unterhaltsverpflichtungen begegnen. Dabei können je nach der Eilbedürftigkeit des Kündigungsausspruches auch kurze Fristen gesetzt werden.

2. Zu den Voraussetzungen der Zurückverweisung verspäteten Vorbringens nach § 67 Abs. 4 Satz 2 ArbGG.


Landesarbeitsgericht Niedersachsen IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

10 Sa 247/03

Verkündet am: 12. Dezember 2003

In dem Rechtsstreit

hat die 10. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 12. Dezember 2003 durch die Vorsitzende Spelge und die ehrenamtlichen Richter Hudemann und Voigt

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 02.12.2002 - 5 Ca 206/02 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die vom Arbeitsgerichtsausgesprochene Feststellung zur Klarstellung wie folgt gefasst wird:

Es wird festgestellt, dass das von der Beklagten auf die W... GmbH & Co. KG übergegangene Arbeitsverhältnis des Klägers durch die Kündigung der Beklagten vom 22.03.2002 nicht zum 31.10.2002 aufgelöst worden ist.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Beklagten auferlegt.

3. Der Gegenstandswert wird auf 7.598,22 € festgesetzt.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.

Der 1948 geborene Kläger war seit dem 21.03.1973 bei der S... AG, deren Rechtsnachfolgerin die Beklagte ist, beschäftigt. Er ist verheiratet. Ausweislich der Bescheinigung des örtlichen Bürgermeisters auf einem Formular der UNMIK (United Nations Interim Administration Mission in Kosovo) vom 04.03.2002 gewährt er seiner im Kosovo lebenden Frau und seiner volljährigen, Tochter Unterhalt (B1. 35-38 d.A.). Die Tochter des Klägers ist behindert. Weder seine Ehefrau noch die Tochter haben anderweitige Einkünfte. Mit Empfangsbestätigungen vom 20.08.2002 bescheinigten die Angehörigen des Klägers, dass dieser ihnen im Jahr 2002 bis einschließlich Juli jeweils 4.250,-- € Unterhalt gewährt habe (B1. 43 f. d.A.). Der Kläger verdiente zuletzt durchschnittlich 2.532,74 € brutto monatlich. Er ist behindert mit einem GdB von 30.

Die Beklagte war im Jahr 2002 der weltgrößte Hersteller von Metallvakuumverschlüssen. Daneben produzierte sie Getränkedosen und PETFlaschen. Sie unterhielt neben dem Werk in H..., in dem Anfang 2002 neben dem Kläger 470 Arbeitnehmer beschäftigt waren, unter anderem Werke in Italien und den Niederlanden. In H... produzierte sie Weißblechverschlüsse. Die Produktion dieser Glasverschlüsse unterfiel in die Vor- und die Endfertigung. In der Vorfertigung wurden Feinstblechbänder (coils) auf Tafelformate zugeschnitten und anschließend an den Druck- und Lackierlinien lackiert und bedruckt.

Dabei wurde jede Lack- und Druckmaschine von jeweils einem angelernten Lackierer beziehungsweise gelernten Blechdrucker bedient. Für je zwei Fertigungslinien war ferner ein Ofenauditor eingesetzt, dessen Aufgabe es war, die bedruckten/lackierten Bleche im Rahmen der Qualitätssicherung zu überprüfen, abzustapeln und für den Staplerfahrer bereitzustellen. Schließlich wurden je Schicht zwei Staplerfahrer beschäftigt, die das Material bereitstellten und die fertig zugeschnittenen Tafeln wegfuhren. Insgesamt beschäftigte die Beklagte in schichtbezogenen Funktionen in der Vorfertigung Ende 2001 51 Lackierer und 49 Drucker, 12 Gabelstaplerfahrer und 25 Ofenauditoren (Anlage BK 1, Bl. 156 d.A.).

In der Endfertigung wurden sodann die vom Kunden gewünschten Durchmesser aus den Tafeln ausgestanzt, angerollt und in die gewünschte Verschlussgeometrie gebracht. Zuletzt wurde in das Innere eines jeden Verschlusses ein Dichtungsring (Compound) eingespritzt. Vor- und Endfertigung produzierten mit unterschiedliche Maschinen, die unterschiedliche Qualifikationen der Arbeitnehmer erfordern.

Der Kläger war als Staplerfahrer in der Endfertigung eingesetzt.

Die Beklagte produzierte im Werk H... im Jahr 2001 3,1 Mrd. Caps, im Jahr 2002 3,8 Mrd. Caps. Im Oktober 2001 wurde ihr Werk in den Niederlanden geschlossen. Das Werk H... hatte für die in diesem Werk produzierten 1,5 Mrd. Verschlüsse sämtliche Blechtafeln geschnitten, lackiert und bedruckt sowie das Compound hergestellt. Die dadurch eingetretene geringere Auslastung in der Vorfertigung wurde zunächst durch eine Auftragsproduktion für das Werk in Italien, das bis April 2002 noch keine ausreichenden Kapazitäten in der Vorfertigung hatte, teilweise aufgefangen. Welcher Auftragsrückgang im Werk H... in der Vorfertigung nach Aufnahme der vollen Vorfertigung des Werkes in Italien eintrat, ist zwischen den Parteien streitig. Zwischen den Parteien ist ebenfalls streitig, ob die Beklagte im Zusammenhang mit dem Auftragsrückgang ihre Arbeitsabläufe durch Einführung eines rollierenden Systems änderte, in dem die Facharbeiter im wöchentlichen Wechsel auch als Staplerfahrer und Ofenauditoren in der Vorfertigung eingesetzt werden.

Die Beklagte setzte in der Endproduktion im Laut des Jahres 2002 neue, von ihr selbst gebaute und auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Hochgeschwindigkeitslinien ein, mit denen die selbe Produktionsmenge mit weniger Mitarbeitern gefertigt werden kann. Aufgrund von Problemen in der Anlaufphase dieser neuen Maschinen beschäftigte die Beklagte bis Ende 2002 bis zu 16 Leiharbeitnehmer.

Die Beklagte entschloss sich, im Jahr 2002 insgesamt 85 Arbeitsplätze im Werk H... abzubauen. sie schloss deshalb am 05.03.2002 einen Interessenausgleich mit dem im Werk H... gebildeten Betriebsrat (B1. 15 f. d.A.). Gemäß Ziffer 1 des Interessenausgleichs war der Personalabbau "mit Rücksicht auf die Umsatz- und Kostensituation" notwendig. Gemäß Ziffer 4 a des Interessenausgleichs galt für die von Beendigungskündigungen betroffenen Arbeitnehmer der zwischen der Beklagten und dem Gesamt-/Konzernbetriebsrat am 10.12.2001 geschlossene Sozialplan (B1. 17-24 d.A.).

Die Beklagte beschäftigte Anfang 2002 37 ungelernte Staplerfahrer und Kommissionierer in den Abteilungen End- und Vorfertigung sowie Versand. Diese übten Tätigkeiten aus, für die weniger als drei Monate Anlernzeit erforderlich waren und die von der Qualifikation her gleichwertig waren. Die Beklagte war der Auffassung, diese Arbeitnehmer könnten nicht innerhalb einer zumutbaren Zeit von sechs Monaten die Qualifikation erwerben, um eine Facharbeiter- oder Lackiertätigkeit auszuüben. Die Facharbeiter und die als Lackierer angelernten Arbeitnehmer bezog sie deshalb nicht in die Sozialauswahl ein, sondern lediglich - soweit es um die Kündigung des Klägers geht - die Kommissionierer und Staplerfahrer. Auf die Aufstellung dieser Arbeitnehmer, aus der sich auch deren von der Beklagten bei der Sozialauswahl zugrundegelegten Sozialdaten ergeben (B1. 12), wird Bezug genommen. Für die von ihr als Produktionsmitarbeiter bezeichneten, ungelernten Arbeitnehmer bildete die Beklagte eine eigene Vergleichsgruppe. Die soziale Auswahl unter den von ihr als vergleichbar angesehenen Arbeitnehmern traf die Beklagte nach Maßgabe der "Betriebsvereinbarung über eine soziale Auswahl" vom 05.03.2002, die für die Durchführung der Betriebsänderung gemäß Interessenausgleich vom selben Tag geschlossen wurde (Bl. 13 d.A.) . Im Vorfeld der aufgrund dieser Betriebsvereinbarung erstellten sozialen Auswahl ermittelte die Beklagte per Fragebogen die aktuellen Unterhaltsverpflichtungen der Arbeitnehmer und besonderen sozialen Härten wie Pflegebedürftigkeit naher Angehöriger. Auf diesem von ihm am 19.02.2003 ausgefüllten Fragebogen gab der Kläger an, dass er verheiratet sei und eine 26jährige, unterhaltsberechtigte Tochter habe (El. 25 d.A.). Auf der der Beklagten vorliegenden Lohnsteuerkarte waren keine Freibeträge eingetragen, der Kläger hatte vielmehr die Steuerklasse I (B1. 73 d.A.). Die Beklagte sah den Kläger als ledig und niemandem gegenüber zum Unterhalt verpflichtet an und gab ihm deshalb 83 Sozialpunkte (B1. 12 d.A.).

Die Beklagte kündigte von den Kommissionierern/Staplerfahrern den aus der Aufstellung B1. 76 d.A. (S. 2 der Betriebsratsanhörung) ersichtlichen 24 Arbeitnehmern. Den 10 auf der Anlage 1 zur Klagerwiderung (Bl. 12 d.A.) genannten Arbeitnehmern, die zwischen 116 und 93 Sozialpunkte aufweisen, sprach sie keine Kündigung aus.

Die Beklagte hörte den Betriebsrat mit Schreiben vom 15.03.2002, auf das Bezug genommen wird (Bl. 75-78 d.A.), zur beabsichtigten Kündigung an. Am 21.03.2002 wurde es unkommentiert an die Beklagte zurückgegeben. Mit Schreiben vom 22.03.2002 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31.10.2002. Gegen diese Kündigung wendet sich der Kläger mit seiner am 05.04.2002 bei Gericht eingegangenen Kündigungsschutzklage. Ferner hat er die Verurteilung der Beklagten zur Weiterbeschäftigung begehrt.

Nach Ausspruch der Kündigung spaltete die Beklagte ihre Produktionsbereiche auf und verkaufte sie an zwei verschiedene Investoren. Der Bereich der Weißblechverschlüsse wurde mit Wirkung zum 01.07.2002 im Wege des Betriebsübergangs an die W... GmbH & Co. KG übertragen. Hierüber unterrichtete die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 23.05.2002 und wies ihn auf sein Recht zum Widerspruch gegen den Betriebsübergang hin. Der Kläger widersprach nicht.

Durch das der Beklagten am 15.01.2003 zugestellte Urteil vom 02.12.2002 hat das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Den Weiterbeschäftigungsantrag hat es zurückgewiesen, weil es keine gesetzliche Grundlage für den geltend gemachten allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch gebe. Gegen dieses Urteil wendet sich nur die Beklagte mit ihrer am 14.02.2003 eingelegten und nach Fristverlängerung bis zum 15.04.2003 am 15.04.2003 begründeten Berufung.

Die Beklagte behauptet, sie habe sich im Zusammenhang mit dem Rückgang des Auftragsvolumens in der Vorfertigung um 35% und der Einführung der neuen Technik in der Endfertigung entschieden, Arbeitsabläufe neu zu organisieren, da sie auf Schlüsselqualifikationen, namentlich Facharbeiter, nicht habe verzichten können. Sie sei deshalb von der qualifikationsbedingten festen Arbeitsplatzzuordnung zu einem rollierenden System auf der höchsten Qualifikationsstufe gewechselt. Im Rahmen dieses Systems würden die Facharbeiter im wöchentlichen Wechsel auch als Staplerfahrer und Ofenauditoren eingesetzt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht am 12.12.2003 hat sie behauptet, hierbei würden die Drucker keine Lackiertätigkeit und umgekehrt verrichten. Insgesamt seien 24 Staplerfahrer entlassen worden, weil neben den 12 durch die Einführung des roulierenden Systems in der Vorfertigung eingesparten Stellen vier Stellen in der Endfertigung durch die Einführung neuer Technik und weitere acht Stellen im Versand durch den Wegfall der Produktion für das Werk in Holland entfallen seien.

Sie hält die von ihr getroffene Sozialauswahl für ordnungsgemäß. Sie habe bei der Sozialauswahl die von ihr bestrittenen Unterhaltsverpflichtungen und -zahlungen des Klägers jedenfalls nicht berücksichtigen müssen, da diese nicht auf dessen Lohnsteuerkarte eingetragen gewesen seien. Sie sei nicht gehalten gewesen, Nachforschungen anzustellen. Zudem habe sie sich mit dem Betriebsrat verständigt, nicht nachgewiesene Unterhaltsverpflichtungen im Ausland bei der Sozialauswahl nicht zu berücksichtigen, um Missbräuchen vorzubeugen. Dem Betriebsrat hätten die mit den Fragebögen abgefragten Daten zur Verfügung gestanden. Die Beklagte meint, dass sie damit auch den Betriebsrat vollständig informiert habe.

Im Termin vom 12.12.2003 hat die Beklagte auf rechtlichen Hinweis der Kammer vorgetragen, der Kläger habe dem Fragebogen die Bescheinigungen vom 04.03.2002 (Bl. 35-38 d.A.) beigefügt. Auf Hinweis, dass der Fragebogen bereits am 19.02.2002 unterschrieben worden sei, hat sie erklärt, es könne sich auch um eine vergleichbare Bescheinigung aus dem Vorjahr gehandelt haben. Sie hat ferner vorgetragen, die Fragebogenaktion habe nur der Stützung der auf den Lohnsteuerkarten der Arbeitnehmer vermerkten Daten dienen sollen. Der Fragebogen des Klägers vom 19.02.2002 sei mit dem Betriebsrat besprochen worden. Dieser habe erklärt, es solle dabei bleiben, dass Unterhaltspflichten im Ausland nicht anerkannt würden und damit bei der Gewichtung der Sozialdaten gemäß der dem Betriebsrat vorgelegten Aufstellung (B1.12 )

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 02.12.2002 - 5 Ca 206/02 - teilweise abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen

Der Kläger behauptet, die Beklagte habe den Wegfall des Beschäftigungsbedürfnisses nicht ausreichend dargelegt.

Der Kläger ist der Auffassung, die von der Beklagten getroffene Sozialauswahl sei fehlerhaft. Die Beklagte habe seine Unterhaltspflicht gegenüber zwei Personen nicht berücksichtigt. Tatsächlich sei er mit 103 Sozialpunkten in die Sozialauswahl einzubeziehen. Damit gehöre er zu dem nicht gekündigten Personenkreis. Statt seiner hätte dem Arbeitnehmer A... gekündigt werden müssen. Aus der Auswahlrichtlinie vom 05.03.2002 ergebe sich nicht, dass nur nachgewiesene Unterhaltsverpflichtungen im Ausland berücksichtigt werden könnten. Auf eine derartige Nachweispflicht sei er nicht hingewiesen worden.

Der Kläger hält die Betriebsratsanhörung für fehlerhaft, weil dem Betriebsrat nicht die vollständigen Sozialdaten des Klägers mitgeteilt worden seien.

Im Termin vom 12.12.2003 hat er erklärt, er habe der Beklagten im Vorfeld der Kündigung nur den Fragebogen vom 19.02.2002 (Bl. 25 d.A.) ohne Anlagen überreicht. Die Erklärungen zu den von der Beklagten vorgetragenen Vereinbarungen mit dem Betriebsrat bestreite er mit Nichtwissen. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 12.12.2003 (B1. 189-192 d.A.) wird Bezugsgenommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist statthaft, sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig (§5 64, 66 ArbGG, § 519, § 520 Abs. 3 ZPO). Sie ist jedoch unbegründet. Die Kündigung der Beklagten vom 22.03.2002 ist unwirksam.

I. Die Beklagte ist ungeachtet des nach Ausspruch der Kündigung und nach Rechtshängigkeit erfolgten Betriebsübergangs auf die W... GmbH & Co. KG nach wie vor passivlegitimiert, soweit es um die Frage der Wirksamkeit der von ihr ausgesprochenen Kündigung geht (vgl. BAG, 20.3.1997, 8 AZR 769/95, AP Nr. 30 zu § 9 KSchG 1969 <B Il 3 d.Gr.>).

II. Die Kündigung der Beklagten vom 22.03.2002 ist sozialwidrig, weil sie soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt hat, § 1 Abs. 3 KSchG. Es kann daher dahinstehen, ob das Bedürfnis zur Beschäftigung des Klägers aufgrund dringender betrieblicher Erfordernisse entfallen ist.

1. Zum einen ist der Kläger sozial schutzwürdiger als der von ihm benannte Arbeitnehmer A.... Dieser weist lediglich 93 Sozialpunkte auf. Unter Anwendung der von den Betriebspartnern vereinbarten Auswahlrichtlinie stehen dem Kläger angesichts seiner Unterhaltspflicht für zwei Personen nicht, wie von der Beklagten ihrer Sozialauswahl zugrundegelegt, 83, sondern 103 Sozialpunkte zu.

a) Der Kläger hat bewiesen, dass er seiner im Kosovo lebenden Ehefrau und volljährigen, behinderten Tochter Unterhalt gewährt.

Allerdings begründen die vom Kläger vorgelegten Bescheinigungen des Ortsbürgermeisters (Bl. 35-38 d.A.) keinen Beweis der Richtigkeit der darin bekundeten Unterhaltsgewährung. Dabei kann dahinstehen, ob diesen ausländischen öffentlichen, nicht legalisierten Urkunden derselbe Beweiswert wie einer deutschen öffentlichen Urkunde zukommt, § 438 Abs. 1 ZPO i.V.m. §5 415, 418 ZPO. Das Bestehen und die Erfüllung der Unterhaltspflicht ist nämlich nicht Gegenstand der eigenen Wahrnehmung des Bürgermeisters, so dass die Bescheinigungen vom 04.03.2002 nicht den vollen Beweis der von ihnen bezeugten Tatsachen begründen, § 418 Abc. 3 ZPO.

Der Kläger hat jedoch von seiner Ehefrau und Tochter unterschriebene Empfangsbestätigungen über den Erhalt von Geldunterstützung vorgelegt (B1. 43 f. d.A.). Ob der Inhalt dieser Privaturkunden materiell richtig ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung (Zöller-Geimer, ZPO, 24. Aufl., 2004, § 416, Rz. 9). Die Kammer hat angesichts der Gesamtumstände des Falls keine Zweifel, dass die in den Empfangsbestätigungen, deren Echtheit (5 439 ZPO) und Fehlerfreiheit (§ 419 ZPO) unstreitig sind, bescheinigte Behauptung, der Kläger gewähre seiner Frau und Tochter Unterhalt, zutrifft.

b) Es kann dahinstehen, ob die Betriebspartner die von der Beklagten erstmals im Termin vom 12.12.2003 behauptete, vom Kläger zulässig mit Nichtwissen (§ 138 Abs. 4 ZPO) bestrittene, Vereinbarung getroffen haben, Unterhaltspflichten im Ausland generell nicht zu berücksichtigen und nicht nur - wie zunächst vorgetragen - einen Nachweis für die Erfüllung solcher Verpflichtungen zu verlangen. Es kann auch dahinstehen, ob eine solche allenfalls mündliche Vereinbarung überhaupt Rechtswirkung entfalten könnte, obwohl sie in der Auswahlrichtlinie vom 05.03.2002 keinen Niederschlag gefunden hat, das von der Beklagten behauptete Normverständnis also mit dem Wortlaut der Betriebsvereinbarung nicht in Einklang zu bringen ist (vgl. BVerfG, 15.10.1996, 1 BvL 44/92, 48/92, BVerfGE 95, 64 <93>; BAG, 5.3.1996, 1 AZR 590/92 (A), AP Nr. 226 zu Art. 3 GG <B II 2 b bb (1) d.Gr.>; BAG, 18.2.2003, 1 ABR 2/02, AP Nr. 12 zu § 611 BGB - Arbeitsbereitschaft <B IV 3 b dd (1) d.Gr.>). Eine derartige Vereinbarung verstieße nämlich gegen § 75 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, so dass die Auswahlrichtlinie insoweit nichtig wäre, § 134 BGB. Die Nichtbeachtung von im Ausland zu erfüllenden Unterhaltspflichten widerspricht der Wertentscheidung des Art. 6 GG, die bei der Konkretisierung des in § 75 Abs. 1 BetrVG normierten Gebots zur Wahrung der Grundsätze von Recht und Billigkeit zu beachten ist.

aa) Die Fachgerichte, die an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden sind (Art. 1 Abs. 3 GG), haben bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des einfachen Rechts die Grundrechte zu beachten, denn das Grundgesetz enthält in seinem Grundrechtsabschnitt verfassungsrechtliche Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechts, die die Fachgerichte zu wahren haben. Sie haben daher insbesondere unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln im Lichte der Grundrechte auszufüllen beziehungsweise zu konkretisieren (BVerfG, 15.1.1958, 1 BvR 400/51, BVerfGE 7, 198 <205 f.>). Art. 6 GG enthält nicht nur subjektive Rechte, sondern ist darüber hinaus eine wertentscheidende Grundsatznorm. Der Staat ist deshalb verpflichtet, Ehe und Familie zu schützen und zu fördern. Dem entspricht der Anspruch des Klägers als Grundrechtsträger auf Beachtung der Bedeutung des Art. 6 GG bei der Anwendung einfachrechtlicher Normen durch die Fachgerichte (BVerfG, 12.05.1987, 2 BvR 1226/83 u.a., BVerfGE 76, 1 <49 f.>). Die Arbeitsgerichte haben also bei der Überprüfung einer Betriebsvereinbarung anhand der in § 75 Abs. 1 BetrVG geregelten Grundsätze von Recht und Billigkeit als unbestimmten Rechtsbegriffen auch Art. 6 GG zu beachten (vgl. EAG, 12.11.2002, 1 AZR 58/02, AP Nr. 159 zu § 112 BetrVG 1972 <III 3 b aa d.Gr.>). Dabei ist der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG nicht auf rein inlandsbezogene Ehen und Familien beschränkt. Er umfasst vielmehr eheliche und familiäre Lebensgemeinschaften unabhängig davon, wo und nach Maßgabe welcher Rechtsordnung sie begründet worden und ob die Rechtswirkungen des ehelichen oder familiären Bandes nach deutschem oder ausländischem Recht zu beurteilen sind, solange es sich um Lebensgemeinschaften handelt, die der Vorstellung des Grundgesetzes von Ehe und Familie nicht grundlegend fremd sind wie die Mehrehe (BVerfG, BVerfGE 76, 1 <41 f.>).

bb) Bei Anwendung dieses Prüfungsmaßstabes erweist sich die von der Beklagten behauptete Vereinbarung der Betriebspartner, nur inländische Unterhaltspflichten zu berücksichtigen, als nichtig. Der Beklagten kommt daher die Einschränkung des Prüfungsmaßstabes hinsichtlich der Festlegung der Kriterien der Sozialauswahl und ihrer Gewichtung untereinander auf grobe Fehlerhaftigkeit durch die Vereinbarung einer Auswahlrichtlinie gemäß § 1 Abs. 4 KSchG insoweit nicht zugute.

Die Unterhaltspflichten des Klägers gegenüber seinen im Kosovo lebenden Angehörigen entsprechen der in Art. 6 zum Ausdruck gekommenen Wertentscheidung. Auch gegenüber der volljährigen Tochter besteht angesichts ihrer Behinderung nach wie vor eine Unterhaltspflicht. Dabei ist unerheblich, dass der Kläger nicht in tatsächlicher Lebensgemeinschaft mit seinen Angehörigen lebt, weil er angesichts der Ausnahmesituation im Kosovo darauf angewiesen ist, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie im Ausland zu verdienen.

Der Berücksichtigung der ausländischen Unterhaltspflichten stehen auch nicht die von der Beklagten angesprochenen Missbrauchsmöglichkeiten gegenüber. Diesen lässt sich durch die Pflicht zum Nachweis des Bestehens und der Erfüllung dieser Unterhaltsverpflichtungen begegnen. Dabei können je nach der Eilbedürftigkeit des Kündigungsausspruches auch kurze Fristen gesetzt werden.

cc) Der Kläger hat im Fragebogen vom 19.02.2002 (B1. 25 d.A.) auch auf das Bestehen von Unterhaltspflichten hingewiesen. Die Beklagte hätte den Kläger zur Konkretisierung beziehungsweise zum Nachweis der von ihm aufgeführten Unterhaltspflichten auffordern müssen, wenn ihr diese Angaben im Hinblick auf die davon abweichenden Eintragungen in der aktuellen Lohnsteuerkarte nicht ausreichten. Es kann daher dahinstehen, ob erst im Kündigungsschutzprozess vorgetragene, dem Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigungsentscheidung unbekannte Unterhaltspflichten bei der Sozialauswahl noch Berücksichtigung finden können.

III. Die Kündigung vom 22.03.2002 ist auch wegen unzureichender Information des Betriebsrats unwirksam, § 102 Abs. 1 BetrVG.

1. Eine Kündigung nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG ist nicht nur dann unwirksam, wenn der Arbeitgeber gekündigt hat, ohne den Betriebsrat zuvor überhaupt beteiligt zu haben, sondern auch dann, wenn der Arbeitgeber seiner Unterrichtungspflicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG nicht richtig, insbesondere nicht ausführlich genug nachkommt. Die Einschaltung des Betriebsrats im Rahmen des Anhörungsverfahrens vor einer Kündigung hat über die reine Unterrichtung hinaus den Sinn, ihm Gelegenheit zu geben, seine Überlegungen zu der Kündigungsabsicht aus der Sicht der Arbeitnehmervertretung zur Kenntnis zu bringen. Die Anhörung soll in geeigneten Fällen dazu beitragen, dass es gar nicht zum Ausspruch einer Kündigung kommt. Dabei sind jedoch an die Mitteilungspflicht des Arbeitgebers bei der Betriebsratsanhörung nicht dieselben Anforderungen zu stellen sind wie an die Darlegungslast im Kündigungsschutzprozess. Vielmehr muss der Arbeitgeber dem Betriebsrat nach dem Grundsatz der sogenannten subjektiven Determinierung nur diejenigen Gründe mitteilen, die aus seiner subjektiven Sicht die Kündigung rechtfertigen und für seinen Kündigungsentschluss maßgebend sind (BAG, 17.2.2000, 2 AZR 913/98 , AP Nr. 113 zu § 102 BetrVG 1972 <2 a d.Gr.>. Der Arbeitgeber kommt dagegen seiner Unterrichtungspflicht nicht nach, wenn er aus seiner Sicht dem Betriebsrat bewusst unrichtige oder unvollständige Sachdarstellungen unterbreitet (BAG, 12.8.1999, 2 AZR 748/98, AP Nr. 7 zu § 21 SchwbG 1986 <B 1 1 a d.Gr.>

2. Die Betriebsratsanhörung der Beklagten genügt diesen Anforderungen nicht.

a) Die Beklagte hat den Betriebsrat nicht ausreichend über die Unterhaltspflichten des Klägers informiert. In diesem Zusammenhang kommt es auf die von der Beklagten behauptete Vereinbarung, ausländische Unterhaltspflichten nicht zu berücksichtigen, nicht an. Aus dem vom Kläger ausgefüllten Fragebogen (B1. 25 d.A.) ergibt sich nämlich nicht, dass die dort angeführten Angehörigen im Ausland leben. Nach ihrem eigenen Vortrag hat die Beklagte den Betriebsrat deshalb widersprüchlich und damit unzureichend informiert, indem sie ihm zum einen eine Aufstellung vorgelegt hat, aus der sich ergibt, dass keine Unterhaltsverpflichtungen bestehen (B1. 12 d.A.), und ihm zum anderen den vom Kläger am 19.02.2002 ausgefüllten Fragebogen zugänglich gemacht hat, auf dem der Kläger Unterhaltspflichten gegenüber zwei Personen angibt. Sie hat dem Betriebsrat nicht mitgeteilt, warum sie trotz der vom Kläger im Fragebogen vom 19.02.2002 gemachten Angaben ihrer Sozialauswahl das Fehlen von Unterhaltspflichten zugrunde gelegt hat.

b) Soweit die Beklagte erstmals im Termin vom 12.12.2003 vorgetragen hat, der Kläger habe bereits mit dem Fragebogen Bescheinigungen vorgelegt, aus denen sich ergebe, dass seine Angehörigen im Ausland lebten, und die Frage der Berücksichtigung dieser ausländischen Unterhaltspflichten sei mit dem Betriebsrat ausdrücklich erörtert worden, kann sie mit diesem Vorbringen nicht mehr gehört werden. Es ist verspätet und daher nicht mehr zuzulassen (§ 67 Abs. 4 Satz 2 ArbGG).

Neuer Sachvortrag im Berufungsrechtszug muss gemäß § 67 Abs. 4 Satz 1 ArbGG vom Berufungskläger in der Berufungsbegründungsschrift vorgebracht werden. Die Fristen des § 66 ArbGG sind gesetzliche Ausschlussfristen. Werden sie nicht eingehalten, muss das Gericht den neuen Sachvortrag zurückweisen, es sei denn, das verspätete Vorbringen ist nach § 67 Abs. 4 Satz 2 ArbGG ausnahmsweise zuzulassen (BAG, 05.04.2001, 2 AZR 159/00, AP Nr. 171 zu § 626 BGB <B 11 1 b cc d.Gr.> zu § 67 Abs. 2 ArbGG a.F.).

Das verspätete Vorbringen der Beklagten war nicht zuzulassen. Die Beklagte hat die Verspätung ihres Vortrags nicht entschuldigt. Das deshalb schuldhaft verspätete Vorbringen der Beklagten hätte auch zu einer Verzögerung des Rechtsstreits geführt. Der Kläger hat die Behauptung, bereits aus den dem Fragebogen vom 19.02.2003 beigefügten Belegen habe sich ergeben, dass die darin genannten Unterhaltspflichten im Ausland erfüllt seien, noch im Termin substantiiert bestritten. Die zwischen der Beklagten und dem Betriebsrat getroffenen Vereinbarungen und den Inhalt ihrer Erörterungen hat er mit Nichtwissen bestritten. Dies war zulässig, § 138 Abs. 4 ZPO. Der im Termin vom 12.12.2003 erfolgte Vortrag der Beklagten ist damit noch in diesem Termin streitig gestellt worden. Zur Einräumung der Vom Kläger nur vorsorglich beantragten Erklärungsfrist gemäß § 283 ZPO bestand deshalb kein Anlass. Die Verzögerung konnte bereits im Termin vom 12.12.2003 abschließend beurteilt werden (vgl. BAG, 02.03.1989, 2 AZR 275/88, AP Nr. 17 zu § 130 BGB <IV 2 a d.Gr.>). Die Verzögerung scheitert auch nicht daran, dass die Kammer den im Termin anwesenden Personalleiter der Beklagten als Zeugen hätte vernehmen können. Die Beklagte hatte für den Inhalt der zwischen ihr und dem Betriebsrat getroffenen Vereinbarungen über die Berücksichtigung ausländischer Unterhaltspflichten und den Umfang der dem Betriebsrat zur Verfügung stehenden Daten jeweils auch den Betriebsratsvorsitzenden als Zeugen benannt (S. 14 der Berufungsbegründung <B1. 154 d.A.) beziehungsweise 5. 2 des Schriftsatzes vom 27.11.2003 <Bl. 184 d.A.>). Auf diesen Zeugen hat sie im Termin vom 12.12.2003 auch nicht verzichtet. Zur Beurteilung, ob die im Termin vom 12.12.2003 aufgestellten Behauptungen der Beklagten der Wahrheit entsprechen, wäre damit auch die Vernehmung des nicht präsenten Betriebsratsvorsitzenden und damit die Anberaumung eines Fortsetzungstermins zur Durchführung einer Beweisaufnahme über die streitig gewordene Behauptung der Beklagten erforderlich gewesen. Darin liegt eine Verzögerung des Rechtsstreits (vgl. HAG, 19.05.1998, 9 AZR 362/97, EzA § Nr. 2 zu 56 ArbGG 1979 <II 2 e d.Gr.>; HAG, AP Nr. 171 zu § 626 BGB <a.a.O.>).

IV. Das unwirksam gekündigte Arbeitsverhältnis ist aufgrund des am 01.07.2202 vollzogenen Betriebsübergangs mangels Widerspruchs des Klägers auf die Firma W... GmbH & Co. KG übergegangen, zu der es über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus besteht. Dies war durch die Fassung des Tenors klarzustellen (vgl. BAG, 18.3.1999, 8 AZR 306/98, AP Nr. 44 zu 4 4 KSchG 1969 <IV d.Gr.>).

V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Vl. Der Gegenstandswert war mit drei Gehältern zu bemessen.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 72 Abs. 2 ArbGG), bestanden nicht.

Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 72 a ArbGG) wird hingewiesen.

Ende der Entscheidung

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