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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 21.12.2005
Aktenzeichen: 2 Sa 544/05
Rechtsgebiete: MTV für die Wohnungswirtschaft mit Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 3.07.1997


Vorschriften:

MTV für die Wohnungswirtschaft mit Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 3.07.1997
Auch das Verletzungsgeld nach § 45 SGB VII ist "Krankengeld" i.S.d. Regelung des § 8 Ziffer 6 des Manteltarifvertrages für die Wohnungswirtschaft mit Gebiet der Bundesrepublik Deutschland v. 3.07.1997.
LANDESARBEITSGERICHT NIEDERSACHSEN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

2 Sa 544/05

In dem Rechtsstreit

hat die 2. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 21. Dezember 2005 durch

den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Voigt, den ehrenamtlichen Richter Herrn Götze, den ehrenamtlichen Richter Herrn Sander für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 16.02.2005 - 3 Ca 7/05 - abgeändert:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, die tariflichen Ansprüche des Klägers auf Sonderzahlung für das Jahr 2004 um 2/12 zu kürzen, da er nach einem Wegeunfall am 07.10.2004 bis zum 01.01.2005 arbeitsunfähig erkrankt war. Der Kläger erhielt zunächst Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und nach Ablauf von 6 Wochen Verletztengeld.

Der Kläger ist seit dem 01.04.2000 bei der Beklagten als Elektriker zu einem Bruttogehalt von 2.255,00 € tätig. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die Tarifverträge für die Wohnungswirtschaft im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 03.07.1997 (im Folgenden MTV) Kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit Anwendung.

Dieser regelt die Zahlung von Sonderzuwendungen in § 8 wie folgt:

1.

Alle Beschäftigten erhalten am 01. Dezember eines jeden Jahres zusätzlich 100 % der zu diesem Zeitpunkt vereinbarten Monatsvergütung (13. Monatsgehalt). Überstunden-, Leistungs- (§ 3 Abs. 3) und Erschwerniszulagen (§ 7 VTV) werden vorbehaltlich einer anderweitigen Regelung in einer Betriebsvereinbarung nicht eingerechnet.

2.

Alle Beschäftigten in dem Gebiet, in dem schon vor dem 03.10.1990 das Grundgesetz galt, erhalten ein zusätzliches Urlaubsgeld i. H. v. 100 % der nach dem Vergütungstarifvertrag vom 20.03.1996 zu zahlenden Monatsvergütung gem. § 4 (14. Monatsgehalt). Hinsichtlich der Zulagen gilt das in Abs. 1 geregelte.

3.

...

4.

Bei Neueinstellungen ab 01.01.1997 wird den Beschäftigten abweichend von Abs. 1 bis 3, jeweils eine zusätzliche Vergütung gezahlt, die im ersten Beschäftigungsjahr 50 % des zu leistenden Monatsgehalts gem. Abs. 1 bis 3 entspricht. Die 13. und 14. Monatsvergütung steigt in jedem weiteren Beschäftigungsjahr jeweils um 10 Prozentpunkte bis zu einer Höhe von 100 % gem. Abs. 1 bis 3.

5.

...

6.

Ausscheidende oder neu eingestellte Beschäftigte sowie Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis ruht (Erziehungsurlaub, Wehrdienst), sowie bei unbezahltem Sonderurlaub und Krankengeldbezug, haben im Kalenderjahr für jeden vollen Monat, in dem sie gearbeitet haben, Anspruch auf 1/12 dieser Sonderzahlung.

§ 10 des MTV lautet wie folgt:

1.

Im Fall einer Arbeitsunfähigkeit in Folge Krankheit oder bei Kuren erhalten die Beschäftigten die Vergütung für die Dauer von 6 Wochen fortgezahlt...

2.

Beruht die Arbeitsunfähigkeit auf einem Betriebsunfall, so wird ein Zuschuss zum Krankengeld in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen der Nettovergütung und den Bruttobarleistungen der Krankenkasse, soweit diese auf Pflichtversicherungen beruhen, bis zu 26 Wochen gezahlt. Bei nicht krankenversicherungspflichtigen Beschäftigten wird der Zuschuss nach dem höchsten Krankengeldsatz für Pflichtversicherte der zuständigen Ortskrankenkasse berechnet.

Die Beklagte kürzte den Anspruch des Klägers auf die tarifliche Jahressonderzahlung (Urlaubs- und Verletztengeld) um 2/12, dies entspricht einem Gesamtbetrag von 632,35 €.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, Zeiten des Bezugs von Verletztengeld unterfielen nicht der Kürzungsregelung des § 8 Ziff. 6 MTV. Danach führten nur die Monate zu einer Kürzung, in denen der Arbeitnehmer keine Arbeitsleistung erbracht habe und auch keine Lohnersatzleistungen bezogen habe. Während des Bezugs von Verletztengeld bestehe indes grundsätzlich ein Anspruch auf ein Zuschuss zum "Krankengeld", § 10 Ziff. 2 MTV. Es komme nicht darauf an, dass er einen Zuschuss tatsächlich nicht erhalten habe, da er die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt habe.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 632,25 € brutto nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB seit Klagzustellung zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, der Begriff des Krankengeldes in § 8 Ziff. 6 MTV erfasse auch das Verletztengeld. Die Kürzungsregelung des § 8 Ziff. 6 MTV greife grundsätzlich für Zeiträume in denen die Arbeitsleistung nicht erbracht werde und auch vom Arbeitgeber keine Lohnersatzleistungen gewährt würden.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im Einzelnen wird auf das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 16.02.2005 verwiesen.

Mit diesem Urteil hat das Arbeitsgericht der Klage entsprochen und die Beklagte antragsgemäß verurteilt.

Zur Begründung hat das Arbeitsgericht u.a. ausgeführt der MTV differenziere nicht zwischen den Begriffen Krankengeld und Verletztengeld. Der Begriff Krankengeld weiche aber deutlich von dem Begriff Verletztengeld ab. Beide Leistungen seien in unterschiedlichen Gesetzen geregelt. § 8 Ziff. 6 MTV sehe im Übrigen eine Kürzung lediglich in dem Fall vor, in dem keine Lohnersatzleistungen von Seiten des Arbeitgebers erbracht würden. Nach § 10 Ziff. 2 MTV bestehe indes grundsätzlich ein Anspruch auf ein Zuschuss zum Verletztengeld gegen den Arbeitgeber.

Die Beklagte hat gegen das am 07.03.2005 zugestellte Urteil am 22.03.2005 Berufung eingelegt, die sie am 04.05.2005 begründet hat.

Die Beklagte trägt vor, unter dem Begriff Krankengeld würden regelmäßig Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit verstanden. Deshalb erfasse der Begriff Krankengeld in § 8 Ziff. 6 MTV auch das Verletztengeld. Dies folge zudem aus § 10 Ziff. 2 MTV, denn dort werde vom Krankengeld gesprochen, obwohl es sich im Fall eines Betriebsunfalls um Verletztengeld handele.

Unabhängig davon, dass im vorliegenden Fall die tariflichen Voraussetzungen für die Gewährung eines Zuschusses des Arbeitgebers zum Verletztengeld nicht vorgelegen haben, so habe die Zuschussregelung zum Krankengeld lediglich historische Bedeutung. Tatsächlich betrage der Zuschuss in der Praxis regelmäßig 0 €, da die Bruttobarleistungen des Versicherungsträgers regelmäßig zumindest genau so hoch seien wie das Nettoentgelt des Arbeitnehmers.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 16.02.2005 - Aktenzeichen 3 Ca 7/05 - zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Der Wortlaut des Tarifvertrages sei eindeutig. Der Begriff des Krankengeldes sei in § 44 SGB V festgelegt. Der Begriff des Verletztengeldes hingegen in § 45 SGB VII.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im Einzelnen wird auf den mündlich vorgetragenen Inhalt ihrer gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 519, 520 ZPO, 64, 66 ArbGG.

Auf die Berufung war die Klage abzuweisen.

Dem Kläger steht der geltend gemachte Klaganspruch nicht zu.

Die Beklagte war berechtigt, den Anspruch des Klägers auf Sonderzuwendung für das Kalenderjahr 2004 um 2/12 zu kürzen.

§ 8 Ziff. 6 MTV sieht die Kürzung der Sonderzuwendung bei Bezug von Krankengeld vor.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Krankengeld besessen.

Er hat am 07.10.2004 einen Wegeunfall erlitten. Dieser Wegeunfall ist ein Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung, § 8 Abs. 2 SGB VII. Dieser Arbeitsunfall löst von seinem Eintritt an einen Anspruch auf Verletztengeld nach § 45 SGB VII aus. Auf diesen Anspruch auf Verletztengeld werden die Ansprüche auf Arbeitsentgelt - Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - nach § 52 SGB VII angerechnet.

Die Auslegung der Tarifnorm des § 8 Ziff. 6 MTV ergibt, dass auch der Bezug von Verletztengeld sich anspruchskürzend auswirkt.

Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Wortlaut zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm sind mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (vgl. BAG, Urteil vom 31.07.2002, Az.: 10 AZR 578/01 mit weiteren Nachweisen zitiert nach jurisweb, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Wohnungswirtschaft).

Aus dem Wortlaut der Tarifnorm ergibt sich nicht eindeutig, dass die Tarifvertragsparteien den Fall des Bezugs von Verletztengeld als Fall des Krankengeldbezuges verstanden wissen wollen. Krankengeld nach § 44 SGB V erhält der Arbeitnehmer während der Arbeitsunfähigkeit bis zu 78 Wochen wegen der selben Erkrankung. Der Anspruch ruht nach § 49 SGB V solange der Arbeitnehmer Arbeitsentgelt, hier in Form der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall erhält.

Bei der Auslegung einer Tarifnorm sind über den reinen Wortlaut hinaus der Tarifnorm von den Tarifvertragsparteien zugedachte Zweck zu berücksichtigen (vgl. BAG aaO, Rdn. 36).

§ 8 Ziff. 6 MTV beschränkt den Anspruch auf Sonderzahlungen nach § 8 Ziff. 1 (13. Monatsgehalt) und Ziff. 2 MTV (14. Monatsgehalt). Ein Anspruch auf Sonderzahlung soll danach bei ausscheidenden und neu eingestellten Beschäftigten, Beschäftigten, deren Arbeitsverhältnis ruht, sowie bei unbezahltem Sonderurlaub und Krankengeldbezug grundsätzlich nur für jeden vollen Monat in dem sie gearbeitet haben i. H. v. 1/12 der Sonderzahlung entstehen. Der Sache nach handelt es sich, obwohl die Norm anspruchsbegründend formuliert ist, um eine Kürzungsvorschrift, die den nach § 8 Ziff. 1 und 2 MTV bestehenden Anspruch auf Sonderzahlungen beschränkt. Eine solche Regelung ist grundsätzlich zulässig; Tarifvertragsparteien können im Einzelnen bestimmen, welche Zeiten ohne tatsächliche Arbeitsleistung sich anspruchsmindernd oder anspruchskürzend auf die Sonderzahlung auswirken sollen. Ein Anspruch auf Sonderzahlungen soll nach der tariflichen Regelung grundsätzlich für Zeiten der Beschäftigung oder des Bezugs von Lohnersatzleistungen entstehen (so BAG aaO, Rdn. 37).

Nach § 8 Ziff. 6 MTV soll im Fall der Erkrankung des Arbeitnehmers keine Kürzung seines Anspruchs auf Sonderleistung erfolgen, solange der Arbeitgeber die gesetzliche Lohnersatzleistung, die Entgeltfortzahlung erbringt. Fälle, in denen der Arbeitgeber keine gesetzliche Zahlungspflicht besitzt - Erziehungsurlaub, Wehrdienst, Sonderurlaub - führen zu einer Anspruchskürzung. Bereits diese am Zweck der Tarifnorm erfolgte Auslegung spricht dafür, dass der Bezug von Verletztengeld ebenfalls sich anspruchsmindernd auswirkt.

Diese Auslegung wird durch den tariflichen Gesamtzusammenhang bestätigt. § 10 MTV trifft hinsichtlich der Fortzahlung der Vergütung im Krankheitsfall Regelungen. Ziff. 2 des § 10 MTV normiert im Fall des "Betriebsunfalls" einen Anspruch auf einen Zuschuss zum Krankengeld. Aus dieser Norm wird deutlich, dass die Tarifvertragsparteien den Begriff des Krankengeldes als Oberbegriff verstanden haben. Er umfasst sowohl den Begriff des Krankengeldes nach § 44 SGB V wie den des Verletztengeldes nach § 45 SGB VII. § 10 Ziff. 2 MTV regelt im Fall des "Betriebsunfalls" einen Anspruch auf "Krankengeld". Die Tarifvertragsparteien verwenden damit erkennbar die Begriffe nicht im Sinne der Terminologie des Sozialgesetzbuches VII. Den Begriff des Betriebsunfalls kennt das SGB VII nicht. § 8 SGB VII spricht von einem "Arbeitsunfall". Beim Arbeitsunfall entsteht - siehe oben - bereits mit dem Eintritt des Unfalls der Anspruch auf "Verletztengeld", § 45 SGB VII. Einen Anspruch auf Krankengeld nach § 44 SGB V entsteht nicht. Bei dieser Sachlage ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien mit dem Begriff "Krankengeld" in § 10 Ziff. 2 MTV auch das Verletztengeld bezeichnet haben.

Wird in einem Normgefüge ein Rechtsbegriff an mehreren Stellen verwandt, so ist im Zweifel davon auszugehen, dass die Normgeber den Begriff mit einem einheitlichen Bedeutungsinhalt verwenden wollten.

Damit spricht sowohl die am Tarifzweck wie an der Tarifsystematik erfolgte Auslegung dafür, dass der Begriff des Krankengeldes in § 8 Ziff. 6 MTV das Verletztengeld des § 45 SGB VII mit umfasst.

Die Erwähnung der "Leistungen der Krankenkasse"in § 10 Ziff. 2 MTV spricht nicht gegen das ermittelte Auslegungsergebnis, da die Auszahlung des Verletztengeldes auf der Grundlage eines Auftrages der Träger Sozialversicherung durch den Träger der Krankenversicherung erfolgt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, § 47 Rdn. 49). Die Berechnung des Verletztengeldes wird im Übrigen in Anlehnung an die Berechnung des Krankengeldes durchgeführt (Brackmann aaO, Rdn. 6).

Die Berufung war nach alldem mit der Kostenfolge des § 91 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.

Die Zulassung der Revision folgt aus § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.

Ende der Entscheidung

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