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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Nürnberg
Urteil verkündet am 26.07.2007
Aktenzeichen: 7 Sa 891/06
Rechtsgebiete: TVöD


Vorschriften:

TVöD § 8 Abs. 3 S. 4
Bei mehreren Arbeitseinsätzen während der Rufbereitschaft findet nicht für jeden Arbeitseinsatz eine Aufrundung auf eine volle Stunde statt. Vielmehr werden die einzelnen während einer Rufbereitschaft-Schicht geleisteten Arbeitszeiten addiert und einmalig am Schichtende aufgerundet.
LANDESARBEITSGERICHT NÜRNBERG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

7 Sa 891/06

Verkündet am 26. Juli 2007

in dem Rechtsstreit

Die 7. Kammer des Landesarbeitsgerichts Nürnberg hat durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Nürnberg Prof. Dr. Dr. Holzer-Thieser und die ehrenamtlichen Richterinnen Schmitt und Roth aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 26. Juli 2007

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Endurteil des Arbeitsgerichts Würzburg vom 26.09.2006 - Az. 2 Ca 1372/06 - abgeändert.

2. Die Klage wird abgewiesen.

3. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits (erster und zweiter Instanz) zu tragen.

4. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Berechnung der Vergütung für Arbeitsleistungen innerhalb von Rufbereitschaft.

Die Klägerin ist seit 1989 als medizinisch-technische Assistentin bei dem Beklagten beschäftigt. Ausweislich des Arbeitsvertrages der Parteien richtete sich das Beschäftigungsverhältnis zunächst nach dem Bundesangestelltentarifvertrag und nunmehr nach dem seit 01.10.2005 geltenden Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) vom 13.09.2005. Streitig ist zwischen den Parteien die Auslegung von § 8 Abs. 3 S. 4 TVöD, der wie folgt lautet:

"Für die Arbeitsleistung innerhalb der Rufbereitschaft einschließlich der hierfür erforderlichen Wegezeiten wird jede angefangene Stunde auf eine volle Stunde gerundet und mit dem Entgelt für Überstunden sowie etwaiger Zeitzuschläge nach Abs. 1 bezahlt."

Seit Oktober 2005 addierte der Beklagte zunächst die einzelnen Arbeitseinsätze innerhalb einer Rufbereitschaftsschicht und nahm danach die Aufrundung auf eine volle Stunde vor.

Die Klägerin hat vorgetragen:

Es sei jede angefangene Stunde der Rufbereitschaft aufzurunden. Der Wortlaut des § 8 Abs. 3 S. 4 TVöD sei völlig eindeutig. Die Arbeitsleistung könne nicht die Summe aller Einsätze während der Rufbereitschaftsschicht sein. Für den Zeitraum Oktober 2005 bis Juni 2006 seien noch 120 Stunden Rufbereitschaft (Aufrundungszeiten) zu zahlen. Bei einem Stundenlohn von EUR 16,31 brutto zuzüglich Überstundenzuschlag in Höhe von EUR 4,32 brutto ergebe sich ein Gesamtbetrag in Höhe von EUR 2.475,60 brutto.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin für die (noch offenstehenden) 120 Stunden Rufbereitschaft in den Monaten Oktober, November und Dezember 2005 sowie Januar bis einschließlich Juni 2006 einen Betrag in Höhe von EUR 2.475,60 brutto zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat vorgetragen:

Aus dem Wortlaut des § 8 Abs. 3 S. 4 TVöD folge, dass die innerhalb einer zusammenhängenden Rufbereitschaftsschicht angefallenen Arbeitseinsätze einschließlich Wegezeiten zuerst zusammengerechnet und dann einmalig auf eine volle Stunde zu runden seien. Der Begriff "Arbeitsleistung" umfasse soweit vorhanden auch mehrere einzelne Arbeitseinsätze aus der Rufbereitschaft. Die Auslegung der Klägerin würde gegen das Gebot der Kostenneutralität der Tarifreform verstoßen. Bei Auslegung der Tarifvorschrift im Sinne der Klägerseite wären Fälle denkbar, bei denen die Aufrundung jedes einzelnen Arbeitseinsatzes aus der Rufbereitschaft dazu führen könnte, dass im Ergebnis eine Anzahl von Arbeitsstunden zu zahlen wäre, die die Gesamtdauer einer angeordneten Rufbereitschaft überschreiten würde. Spätestens bei dieser Überlegung werde klar, dass die Auslegung von § 8 Abs. 3 TVöD im Sinne der Klägerin nicht zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führe. Der Wortlaut des § 8 Abs. 3 TVöD sei der entsprechenden Vorschrift im Tarifvertrag Versorgungsbetriebe vom 05.10.2000 (im Folgenden: TV-V) entnommen worden. Der TV-V werde seit einigen Jahren in der Praxis dahingehend angewandt, dass die einzelnen Arbeitseinsätze innerhalb einer Rufbereitschaft zunächst zu addieren und dann aufzurunden seien. Die Tarifvertragsparteien hätten im Zeitpunkt des Abschlusses des TVöD die gängige Praxis bei den Versorgungsbetrieben gekannt.

Das Erstgericht hat der Klage mit Endurteil vom 26.09.2006 mit der Begründung stattgegeben, die von der Klägerin vorgenommene Auslegung des § 8 Abs. 3 S. 2 TVöD sei angesichts des Tarifwortlauts, dass jede angefangene Stunde aufzurunden sei, richtig.

Gegen das dem Beklagten am 26.10.2006 zugestellte Urteil hat er mit Schriftsatz vom 16.11.2006, beim Landesarbeitsgericht Nürnberg am 24.11.2006 eingegangen, Berufung eingelegt und diese - nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 28.02.2007 - mit Schriftsatz vom 27.02.2007, beim Landesarbeitsgericht Nürnberg am selben Tag eingegangen, begründet.

In der Berufungsinstanz wiederholt der Beklagte im Wesentlichen sein erstinstanzliches Vorbringen. Des Weiteren führt er aus:

Eine Auslegung, wie sie das Erstgericht vorgenommen habe, wäre nur dann zutreffend, wenn der Wortlaut des § 8 TVöD der entsprechenden Regelung, wie sie zwischenzeitlich für Ärzte vereinbart worden sei, entsprochen hätte (Rundung für "jede einzelne Inanspruchnahme"). Die Formulierung der Rundung "jeder angefangenen Stunde" impliziere die Möglichkeit der Rundung mehrerer Stunden, was zutreffend sei, weil Rufbereitschaften sich regelmäßig über mehrere Tage hinzögen, jeweils unterbrochen durch die dienstplanmäßige oder betriebsübliche tägliche Vollarbeitszeit.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Würzburg vom 26.09.2006, Az.: 2 Ca 1372/06 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

1. Die Berufung des Beklagten und Berufungsklägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Würzburg vom 26.09.2006, AZ: 2 Ca 1372/06 wird zurückgewiesen.

2. Der Beklagte und Berufungskläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Klägerin verteidigt das Ersturteil. Es sei nicht zu beanstanden, wenn das Erstgericht die Auslegung lediglich auf den Wortlaut des Tarifvertrags gestützt habe.

Wegen des Berufungsvorbringens der Parteien im Einzelnen wird auf den Schriftsatz des Beklagten vom 27.02.2007 mit Anlagen (Bl. 88-122 d.A.) und den Schriftsatz der Klägerin vom 30.03.2007 (Bl. 128-130 d.A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet.

I. Die Klägerin stützt ihre Ansprüche (Vergütung für Aufrundungszeiten) auf § 8 Abs. 3 S. 4 TVöD. Sie meint, dass sich aus dieser Vorschrift ergebe, dass für jeden einzelnen Arbeitseinsatz während einer Rufbereitschaft eine Aufrundung auf eine volle Stunde vorzunehmen sei.

II. Der Wortlaut des § 8 Abs. 3 S. 4 TVöD ist nicht eindeutig, diese Norm ist deshalb auszulegen.

1. Der normative Teil eines Tarifvertrags ist nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln auszulegen. Zunächst ist vom Tarifwortlaut auszugehen. Zu ermitteln ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne an den Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnormen zu berücksichtigen, sofern und soweit dieser in den Tarifnormen seinen Niederschlag gefunden hat. Hierzu ist auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, weil häufig nur aus ihm und nicht aus der einzelnen Tarifnorm auf den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien geschlossen und nur bei Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Sinn und Zweck zutreffend ermittelt werden kann. Noch verbleibende Zweifel können ohne Bindung an eine Reihenfolge mittels weiterer Kriterien wie der Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch der praktischen Tarifübung geklärt werden (ständige Rechtsprechung des BAG, z.B. 09.02.2006 - 6 AZR 275/05). Haben die Tarifvertragsparteien in Kenntnis der Handhabung eines früheren Tarifvertrags den Wortlaut des früheren Tarifvertrags übernommen, so bringen sie damit zum Ausdruck, dass sie diesen Inhalt fortschreiben wollen (BAG 31.01.1991 - 8 AZR 52/90 - AP Nr. 96 zu § 1 TVG Tarifverträge:

Metallindustrie; 19.01.2000 - 4 AZR 814/98 - AP Nr. 73 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; Löwisch/Rieble, TVG, 2. Aufl., Rdnr. 573 zu § 1; Kempen/Zachert, TVG, 4. Aufl., Grundlagen Rdnr. 385). Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (ständige Rechtsprechung des BAG, z.B. 09.02.2006 - 6 AZR 275/05).

2. Eine an diesen Grundsätzen orientierte Auslegung führt zur nur einmaligen Aufrundung innerhalb einer Rufbereitschaftsschicht.

a) Die Ermittlung des Regelungsinhalts des § 8 Abs. 3 S. 4 TVöD wird nicht schon durch eine sprachliche Korrektur des Textes erreicht. § 8 Abs. 3 S. 4 TVöD spricht davon, dass "für die Arbeitsleistung... jede angefangene Stunde auf eine volle Stunde gerundet (wird)". Dies ist schief formuliert, da eine Rundung einer angefangenen Stunde nicht "für die Arbeitsleistung" erfolgen kann. Gemeint ist offensichtlich folgende Formulierung:

"Jede angefangene Stunde der Arbeitsleistung innerhalb der Rufbereitschaft einschließlich der hierfür erforderlichen Wegezeiten wird auf eine volle Stunde gerundet...".

Mit dieser Umformulierung bleibt die Frage des Bedeutungsinhalts im Hinblick auf das streitgegenständliche Problem gleichwohl ungelöst. Es bleibt die Notwendigkeit, den Inhalt im Wege der Auslegung zu ermitteln.

b) Eine am Wortlaut orientierte Auslegung bringt nicht die erforderliche Klarheit.

Das Erstgericht hat den Schwerpunkt seiner Auslegung darauf gelegt, dass von jeder angefangenen Stunde gesprochen wird.

Das Erstgericht bezieht "jede" angefangene Stunde auf den einzelnen Arbeitseinsatz.

Diese Wortinterpretation ist nicht zwingend. Sicherlich ist zutreffend, dass von "jeder" Stunde nur gesprochen werden kann, wenn eine Häufung von Stunden möglich ist. Eine solche Häufung kann aber nicht nur - wie das Erstgericht meint - innerhalb einer Rufbereitschaftsschicht auftreten, sondern auch innerhalb der Gesamt-Rufbereitschaftsdauer bei mehrtägiger Dauer. Da die gesamte Rufbereitschaftsdauer jeweils durch die dienstplanmäßige normale Arbeitszeit unterbrochen wird, wie der Beklagte unbestritten vorgetragen hat, wird die Gesamtdauer der Rufbereitschaft in einzelne Rufbereitschaftsschichten aufgeteilt. Bei jeder einzelnen Rufbereitschaftsschicht kann sich eine angefangene Stunde ergeben, die dann jeweils, d.h. für jede Rufbereitschaftsschicht, aufzurunden ist.

c) Die von dem Beklagten vorgenommene Auslegung wird durch die Tarifgeschichte und Tarifübung gestützt.

Der Beklagte hat im Berufungsverfahren durch Verweisung auf sein erstinstanzliches Vorbringen dargetan (Bl. 23 d.A.), dass - § 10 TV-V eine identische Formulierung wie § 8 Abs. 3 S. 4 TVöD enthält,

- diese Norm allgemein so verstanden und angewandt wurde, dass die Arbeitszeiten innerhalb einer Rufbereitschaftsschicht zunächst zu addieren und dann aufzurunden sind,

- die Parteien des TVöD in Kenntnis dieser gängigen Praxis den Text voll übernommen haben.

Die Klägerin hat diesen Vortrag nicht bestritten, er ist also der Entscheidung zugrunde zu legen (§§ 138 Abs. 3, 288, 286 Abs. 1 ZPO). Bei dieser Sachlage ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien § 8 Abs. 3 S. 4 TVöD den Inhalt geben wollten, den die Praxis bei der Anwendung des § 10 TV-V angenommen hatte.

d) Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen und sachgerechten Lösung führt. Die von der Klägerin vertretene Auslegung führt zu ungerechten Zufallsergebnissen.

Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck führen hierzu als Beispiel auf, dass ein Arbeitnehmer - bei Zugrundelegung der Auslegung der Klägerin - bei vier fernmündlichen Inanspruchnahmen von je etwa 10 Minuten vier Arbeitsstunden bezahlt erhielte und damit einem Arbeitnehmer gleichgestellt würde, der vier Einsätze vor Ort von je knapp einer Stunde leistet (Kommentar zum TVöD, Rdnr. 40 zu § 8 TVöD).

Es ist nicht anzunehmen, dass die Tarifvertragsparteien eine solche Gleichstellung von offensichtlich unterschiedlichen Leistungen eines Arbeitnehmers gewollt haben.

e) Aufgrund dieser Überlegungen hält die Kammer die Regelung des § 8 Abs. 3 S. 4 TVöD für eindeutig. Auf die vom Beklagten zusätzlich vorgetragenen Argumente (gewollte Kostenneutralitätsregelung, weitere Einzelheiten der Tarifgeschichte, Vergleich mit der späteren für Ärzte getroffenen Vereinbarung) kommt es damit nicht mehr an.

§ 8 Abs. 3 S. 4 TVöD ist dahin auszulegen, dass eine Aufrundung nur einmalig am Schichtende stattfindet.

III. Damit hat die Klägerin keinen Anspruch auf Bezahlung der von ihr geltend gemachten Aufrundungszeiten.

Das Ersturteil ist abzuändern und die Klage abzuweisen.

IV. Als Unterliegende hat die Klägerin die Kosten des gesamten Rechtsstreits zu tragen (§§ 91, 97 Abs. 1 ZPO).

V. Die Revision ist gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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