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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein
Urteil verkündet am 14.11.2007
Aktenzeichen: 6 Sa 117/07
Rechtsgebiete: TVG, BetrVG, ArbGG, ZPO, BGB


Vorschriften:

TVG § 3 Abs. 1
TVG § 3 Abs. 3
TVG § 4
TVG § 4 Abs. 1
TVG § 4 Abs. 5
BetrVG § 77 Abs. 5
ArbGG § 64 Abs. 2 b
ArbGG § 66 Abs. 1
ZPO § 519
BGB § 140
BGB § 314
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein Im Namen des Volkes Urteil

Aktenzeichen: 6 Sa 117/07

Verkündet am 14.11.2007

In dem Rechtsstreit

hat die 6. Kammer des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein auf die mündliche Verhandlung vom 14.11.2007 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ... als Vorsitzenden und die ehrenamtlichen Richter ... und ... als Beisitzer

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 17.01.2007 (4 Ca 1061 b/06) wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Tarifbindung der Beklagten.

Die Beklagte stellt optische und optisch-feinmechanische Geräte für die Medizintechnik her. Sie beschäftigt am Standort W... 165 Mitarbeiter. Bei der Beklagten ist ein Betriebsrat gebildet. Die Beschäftigten der Beklagten sind zu mehr als 75 % in der IG Metall organisiert.

In der Vergangenheit galten bei der Beklagten kraft Verbandszugehörigkeit die mit der Klägerin abgeschlossenen Tarifverträge für die Metallindustrie H... und S...-H.... Durch Ergänzungstarifvertrag/Betriebsvereinbarung vom 17.09.2003 (Anlage A 1 = Blatt 11 d. A.) führte die Beklagte das Entgeltrahmenabkommen (ERA) ab dem 01.09.2003 ein und vereinbarte eine individuelle "M...-Entgelttabelle".

Zum 31.12.2004 trat die Beklagte aus dem Arbeitgeberverband Nordmetall aus.

Ende des Jahres 2004 plante die Beklagte eine Betriebsänderung in Form eines Personalabbaus in der Größenordnung von mehr als 20 Mitarbeitern und eine Verlängerung der betrieblichen Arbeitszeit auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich. Bereits vor Verhandlungsbeginn zog der Betriebsrat der Beklagten die IG Metall Verwaltungsstelle U... hinzu. Diese überreichte Forderungen nach einem Haustarifvertrag in Form eines Anerkennungstarifvertrags, bezogen auf die Tarifverträge der Metallindustrie im Tarifgebiet H... und Umgebung. Im Dezember 2004 und Januar 2005 kam es zu Sondierungsgesprächen. Nach einem Wahnstreik am 19. Januar 2005 schlossen die Klägerin, die Beklagte und ihr Betriebsrat am 27.01.2005 eine dreiseitige Verfahrensvereinbarung (Anlage A 2 = Blatt 12 ff d. A.). Unter dem gleichen Datum schloss die Klägerin mit der Beklagten einen Anerkennungstarifvertrag (Anlage A 3 = 15 ff d. A.). In diesem Tarifvertrag heißt es u. a.:

"§ 3 Rechtsstatus der Tarifverträge

(1) Die in Bezug genommenen Tarifverträge gelten mit dem jeweils gültigen Rechtsstatus. ...

(6) Die Tarifvertragsparteien stimmen überein, dass der Ergänzungstarifvertrag zwischen der Firma M... W... GmbH und der IG Metall vom 17.09.2003 unverändert bleibt.

§ 4 Inkrafttreten und Kündigung

Dieser Tarifvertrag ist an die Verfahrensvereinbarung vom 27.01.2005 geknüpft. Er tritt in Kraft am 01.01.2005 und endet mit dem Außerkrafttreten dieser Verfahrensvereinbarung ohne Nachwirkung. Wenn die Verfahrensanweisung ihre Gültigkeit behält, kann dieser Anerkennungstarifvertrag mit einer Frist von einem Monat zum Jahresende gekündigt werden, erstmals zum 28.02.2006."

Im Laufe der in der Folgezeit geführten Gespräche traten der Betriebsrat und die Klägerin der Forderung der Beklagten nach einer 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich und einem Personalabbau entgegen. Nachdem die Beklagte an ihren Plänen eines Personalabbaus festhielt, übergab die Klägerin am 17.03.2005 zusätzliche Tarifforderungen für einen Ergänzungstarifvertrag zur Gestaltung von sozialen Folgen von Betriebsänderungen. Unter anderem verlangte sie Qualifizierungsmaßnahmen und die Einführung einer Transfergesellschaft (Transfertarifvertrag). Mit Schreiben vom 31.03.2005 (Anlage A 4 = Blatt 19 d. A.) ließ die Beklagte durch ihren Bevollmächtigten gegenüber der Klägerin erklären:

"Im Hinblick auf die Verfahrensvereinbarung vom 18.01.2005 sieht unser Mitgliedsbetrieb kein Ergebnis.

Dies nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund Ihres Schreiben vom 17.03.2005, beinhaltend die Übergabe der Forderungen zum Abschluss eines Ergänzungstarifvertrages. Die dort aufgestellten Forderungen sind für unseren Mitgliedsbetrieb außerhalb jeglicher Finanzierbarkeit, so dass noch nicht einmal ansatzweise ein Konsens erkennbar ist. Unser Mitgliedsbetrieb ist sich bewusst, dass damit die Verhandlungen im Sinne der Ziffer 6.1 der Verfahrensvereinbarung enden."

In der Folgezeit verhandelten die Beklagte und ihr Betriebsrat, ohne Beteiligung der Klägerin, über den geplanten Personalabbau. Mit Datum 30.05.2005 schlossen sie einen Interessenausgleich und Sozialplan, der betriebsbedingte Kündigungen im Zeitraum 01.06.2005 bis 31.12.2005 vorsah.

Im Jahr 2005 setzte die Beklagte die vereinbarte zweite Stufe der Tariferhöhung nach dem Tarifvertrag über ERA fristgemäß um.

Anlässlich einer Mitarbeiterversammlung am 09.05.2006 erfuhren der Betriebsrat und die Klägerin von der Ansicht der Beklagten, dass man sich in der tariflichen Nachwirkungsphase befände und eine Neugestaltung der Arbeitsverträge mit den beschäftigten Mitarbeitern beabsichtige. Demgegenüber vertrat der Betriebsrat gegenüber der Geschäftsführung die Auffassung, die Verfahrensvereinbarung vom 27.01.2005 sei nicht außer Kraft getreten, denn der Personalabbau sei gemeinsam gestaltet worden, mit dem Ziel, die Handlungsfähigkeit der Beklagten zu erhalten.

Mit ihrer am 12.06.2006 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage begehrt die Klägerin die Klärung der Tarifsituation bei der Beklagten.

In der Kammerverhandlung vor dem Arbeitsgericht am 04.10.2006 überreichte der Vertreter der Beklagten der Klägerin sowohl eine außerordentliche Kündigung der Gesamtvereinbarung (Ergänzungstarifvertrag/Betriebsvereinbarung) ERA vom 17.09.2003 sowie vorsorglich eine ordentliche Kündigung des Anerkennungstarifvertrags vom 27.01.2005.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, der Anerkennungstarifvertrag vom 27.01.2005 sei nicht durch das Außerkrafttreten der Verfahrensvereinbarung ohne Nachwirkung beendet worden, sondern habe bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zum 31.12.2006 gegolten und wirke ab diesem Zeitpunkt gemäß § 4 Abs. 5 TVG nach. Im Übrigen würden die zwischen der IG Metall Bezirksleitung K... einerseits und dem Arbeitgeberverband Nordmetall, Verband der Metall- und Elektroindustrie eV H... andererseits geschlossenen Tarifverträge sowie die zwischen der IG Metall Vorstand, F... einerseits und dem Gesamtverband Metall industrieller Arbeitgeber e.V. (Gesamtmetall) andererseits für das Tarifgebiet S...-H... geltenden Tarifverträge, die in der Zwischenzeit nicht abgeändert worden sind, ab dem 01.01.2007 oder - für den Fall des vorzeitigen Außerkrafttretens der Verfahrensvereinbarung - ab diesem Zeitpunkt gemäß § 3 Abs. 3 TVG fortgelten. Die Klägerin hat weiter vorgetragen, der unabhängig von den Vereinbarungen vom 27.01.2005 geschlossene Ergänzungstarifvertrag vom 17.09.2003 (ERA) gelte weiterhin. Dieser Tarifvertrag sei auch nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten beendet worden, weil ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung des Tarifvertrags von der Beklagten nicht dargelegt worden sei. Diese Kündigung könne auch nicht in eine ordentliche Kündigung umgedeutet werden. Der in Bezug genommene ERA-TV sehe unter § 16 eine erstmalige Kündbarkeit zum 31.12.2009 vor.

Die Klägerin hat beantragt,

1. festzustellen, dass zwischen den Parteien der Anerkennungstarifvertrag M...-W... vom 27.01.2005 nicht durch Außerkrafttreten der Verfahrensvereinbarung, abgeschlossen zwischen der Klägerin, der Beklagten sowie dem bei der Beklagten bestehenden Betriebsrat vom 27.01.2005 ohne Nachwirkung spätestens am 02.04.2005 beendet worden ist, sondern ab dem 01.01.2007 gemäß § 4 Abs. 5 TVG nachwirkt;

2. festzustellen, dass zwischen den Parteien die zwischen der IG Metall Bezirksleitung K... einerseits und dem Arbeitgeberverband Nordmetall, Verband der Metall- und Elektroindustrie e.V. H... andererseits abgeschlossenen Tarifverträge

1. Manteltarifvertrag (MTV) vom 18. Mai 1990 für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte der Metallindustrie in S...-H... und H... und Umgebung in der Fassung vom 9. April 2002 inkl. Anlage (Tarifvereinbarung 2004) vom 5. März 2004

2. Anhang zum Manteltarifvertrag (MTV) vom 18. Mai 1990 für Auszubildende in der Fassung vom 20. April 2000

3. Tarifvertrag über Monatslohn vom 11. Dezember 1987 in der Fassung vom 1. November 1992

4. Tarifvertrag über betriebliche Sonderzahlungen vom 30. Oktober 1976 in der Fassung vom 3. Februar 1997

5. Tarifvertrag über Tarifschiedsgericht, Einigungsstelle und Schnellschlichtung vom 20. Dezember 1977 in der Fassung vom 24. Mai 1996

6. Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung vom 11. Dezember 1996/3. Februar 1997/10. Juli 1998/14. Januar 2000/31. Mai 2002

7. Tarifvertrag über Altersteilzeit vom 23.02.2001

8. Tarifvertrag zur Beschäftigungsbrücke vom 20. April 2000

9. Gemeinsames Entgeltrahmenabkommen ERA vom 23. Mai 2003

10. Einführungstarifvertrag ERA vom 18. Dezember 2003, einschließlich gemeinsame Auslegung von § 4 vom September 2004

11. Tarifvertrag "Methoden zur Datenermittlung" - Anhang zum Entgeltrahmenabkommen vom 11. September 2003 sowie die zwischen der IG Metall Vorstand, F... einerseits und dem Gesamtverband metallindustrieller Arbeitgeber e.V. (Gesamtmetall) andererseits für das Tarifgebiet S...-H... geltenden Tarifverträge

1. Abkommen zum Schutz der Arbeitnehmer vor Folgen der Rationalisierung vom 25. Mai/25. Juni 1968

2. Tarifvertrag über den Schutz der gewerkschaftlichen Vertrauensleute vom 2./16. August 1969

3. Bundestarifvertrag für die besonderen Arbeitsbedingungen der Montagearbeiter in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie vom 17. Dezember 1997 in der Fassung vom 20. Juni 2001

4. Tarifvertrag über Auslösungssätze und Fahrtkosten zum Bundesmontagetarifvertrag (BMTV) vom 20. Juni 2001

5. Tarifvertrag EURO vom 30. Juni 1998

6. Tarifvertrag zur Entgeltumwandlung vom 04.09.2001 ab 01.01.2007,

hilfsweise ab Außerkrafttreten der Verfahrensvereinbarung vom 27.01.2005,

gemäß § 3 Abs. 3 TVG jeweils in der am 31.12.2004 gültigen Fassung fortgelten;

3. festzustellen, dass zwischen den Parteien der Ergänzungstarifvertrag vom 17. September 2003 rechtswirksam besteht

hilfsweise,

festzustellen, dass der zwischen den Parteien abgeschlossene Ergänzungstarifvertrag vom 17.09.2003 bis zum 31.12.2009 rechtswirksam besteht.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, mit ihrer Erklärung vom 31.03.2005 habe sowohl die Verfahrensvereinbarung als auch der Anerkennungstarifvertrag geendet. Die Beklagte habe zum Ausdruck gebracht, dass sie über die Forderung der Klägerin nicht ernsthaft verhandeln könne und somit ein messbares Ergebnis der Verhandlung nicht festzustellen gewesen sei. Eine nachwirkende Tarifbindung nach Austritt aus dem Arbeitgeberverband Nordmetall sei durch Abschluss des Anerkennungstarifvertrags vom 27.01.2005 rückwirkend zum 01.01.2005 beendet worden. Dieser Tarifvertrag habe die gemäß § 3 Abs. 3 TVG nachwirkende Tarifbindung abgelöst.

Die Gesamtvereinbarung zur vorzeitigen Einführung von ERA vom 17.09.2003 sehe keine Kündigungsmöglichkeit vor. Die Beklagte müsse aber diese Vereinbarung gegenüber der Klägerin kündigen können. Das gebiete die negative Koalitionsfreiheit. Der wichtige Grund für diese Kündigung liege darin, dass eine Lösung aus dem Tarifsystem möglich sein müsse. Ein weiteres Abwarten, nämlich bis zum Inkrafttreten des Tarifvertrags am 01.01.2008, sei unzumutbar. Die parallel dazu abgeschlossene Betriebsvereinbarung müsse hinsichtlich der Kündigungsfrist gleich behandelt werden. Auch insoweit sei die außerordentliche Kündigung gerechtfertigt. Hilfsweise sei die außerordentliche Kündigung in jedem Fall in eine ordentliche Kündigung mit der gesetzlichen Kündigungsfrist des § 77 Abs. 5 BetrVG umzudeuten.

Die Klägerin hat hierauf erwidert, dass der Anerkennungstarif vom 27.01.2005 die Tarifgebundenheit nach § 3 Abs. 3 TVG nicht beendet, sondern nur nach dem Grundsatz der Spezialität verdrängt habe, so dass die Tarifbindung nach einem Außerkrafttreten des Anerkennungstarifvertrages wieder auflebe.

Ein wichtiger Grund für die Kündigung des Ergänzungstarifvertrages ERA sei nicht vorgetragen. Eine Umdeutung in eine ordentliche Kündigung komme ebenfalls nicht in Betracht. Insoweit sei dem Kündigungsschreiben ein entsprechender Hinweis auf eine ggf. gewollte ordentliche Kündigung nicht zu entnehmen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Es hat festgestellt, dass die Verfahrensvereinbarung und der gleichzeitig abgeschlossene Anerkennungstarifvertrag mit Ablauf des 02.04.2005 geendet hat. Damit sei die zuvor bestehende Tarifbindung der Beklagten nach § 3 Abs. 3 TVG wieder in den Vordergrund getreten. Durch den Anerkennungstarifvertrag sei die Tarifbindung nicht "abgelöst" worden. Eine bestehende Tarifkonkurrenz sei nach den Grundsätzen der Tarifeinheit und -spezialität aufzulösen. Es gehe um die Tarifkonkurrenz zwischen dem mit Wirkung ab dem 01.01.2005 abgeschlossenen Anerkennungs(haus)tarifvertrag und der Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG an die zuvor aufgrund Mitgliedschaft unmittelbar Anwendung findenden Tarifverträge. Dieses Konkurrenzverhältnis sei durch den Tarifvorrang zu lösen, der aber im Ergebnis nicht zu einer Verdrängung der über § 3 Abs. 3 TVG Geltung beanspruchenden Tarifverträge führe, sondern lediglich zu einem Anwendungsvorrang. Eine Ablösung scheitere auch daran, dass es sich nicht um dieselben Tarifvertragsparteien handele. Ein wichtiger Grund für die außerordentliche Kündigung der Gesamtvereinbarung ERA fehle. Der pauschale Hinweis auf die Koalitionsfreiheit genüge nicht. Eine Umdeutung in eine ordentliche Kündigung scheide aus.

Gegen dieses ihr am 27.02.2007 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 20.03.2007 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 27.05.2007 am 27.05.2007 begründet.

Sie ist unverändert der Ansicht, die im Antrag aufgeführten Tarifverträge seien durch den Anerkennungstarifvertrag vom 27.01.2005 abgelöst worden. Weil es sich um zwei zeitlich aufeinander folgende Normen des gleichen Normengebers handele, gelte das Ablöseprinzip. Schließe ein "alter" und später ein "neuer" Verband mit derselben Gewerkschaft Tarifverträge, so werde nach dem Spezialitätsgrundsatz eine unmittelbare Tarifbindung an die neuen Tarifverträge bewirkt. Hier liege eine vergleichbare Situation vor, weil zwei unterschiedliche Tarifpartner mit derselben Gewerkschaft Tarifverträge abgeschlossen hätten.

Die Beklagte meint, wegen der verfassungsrechtlich geschützten negativen Koalitionsfreiheit müsse es ihr möglich sein, die Gesamtvereinbarung ERA zu kündigen. Es gehe auch um die Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 17.01.2007 - Aktenzeichen 4 Ca 1061 b/06 - zugestellt am 27.02.2007, teilweise abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie meint, die Voraussetzung für eine Ablösung der Verbandstarifverträge durch den Anerkennungstarifvertrag lägen nicht vor. Es seien nicht Normen desselben Normgebers. Die Situation sei nicht mit dem von der Beklagten gebildeten Fall des Wechsels in einen neuen Arbeitgeberverband vergleichbar. Die Beklagte habe nach ihrem Austritt aus dem Verband Nordmetall beim Unternehmensverband U.../W... e.V. eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung begründet. Das Arbeitsgericht habe auch zutreffend verneint, dass die Beklagte die Gesamtvereinbarung ERA wirksam außerordentlich gekündigt habe. Ein Kündigungsgrund habe nicht vorgelegen. Die Bindung an den Ergänzungstarifvertrag sei durch § 3 Abs. 3 TVG gerechtfertigt.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird auf den mündlich vorgetragenen Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den Inhalt des Sitzungsprotokolls vom 14.11.2007 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 64 Abs. 2 b; 66 Abs. 1 ArbGG; § 519 ZPO.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet.

I. Die im Tenor des arbeitsgerichtlichen Urteils unter I. aufgeführten Tarifverträge gelten ab Außerkrafttreten der Verfahrensvereinbarung vom 27.01.2005 in der am 31.12.2004 gültigen Fassung fort.

1. Das Arbeitsgericht hat entschieden, dass die Verfahrensvereinbarung und der Anerkennungstarifvertrag vom 27.01.2005 am 02.04.2005 außer Kraft getreten sind und nicht nachwirken. Insoweit ist das Urteil des Arbeitsgerichts rechtskräftig, denn die Klägerin hat keine Berufung eingelegt.

Die Beklagte greift das Urteil an, soweit das Arbeitsgericht festgestellt hat, dass die im Tenor unter I. aufgeführten Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG in der bei Austritt der Beklagten aus dem Arbeitgeberverband gültigen Fassung fortgelten, und zwar ab Außerkrafttreten der Verfahrensvereinbarung vom 27.01.2005.

2. Die Tarifsituation bei der Beklagten stellte und stellt sich wie folgt dar:

a) Bis zum 31.12.2004 galten die im Tenor des angegriffenen Urteils unter I. aufgeführten Tarifverträge gemäß § 4 Abs. 1 TVG, denn die Beklagte war als Mitglied des Arbeitgeberverbands Nordmetall tarifgebunden, § 3 Abs. 1 TVG.

b) Nach dem Austritt der Beklagten aus dem Arbeitgeberverband Nordmetall zum 31.12.2004 galten diese Tarifverträge weiter. Die Tarifgebundenheit der Beklagten blieb gemäß § 3 Abs. 3 TVG bestehen.

c) Am 27.01.2005 schloss die Beklagte mit der Klägerin einen Anerkennungstarifvertrag sowie - unter Beteiligung des Betriebsrats - eine Verfahrensvereinbarung. Diesen Regelungswerken wurde Rückwirkung zum 01.01.2005 beigemessen. Mit ihrem Inkrafttreten traten sie in Konkurrenz zu den wegen § 3 Abs. 3 TVG über den 31.12.2004 fortgeltenden Tarifverträgen. Eine Tarifkonkurrenz ist gegeben, wenn mehrere Tarifverträge auf dasselbe Arbeitsverhältnis Anwendung finden und beide Arbeitsvertragsparteien an mehrere Tarifverträge gebunden sind. Bei Konkurrenz mehrerer Tarifverträge geht grundsätzlich der Firmentarifvertrag als der speziellere dem Verbandstarifvertrag vor (BAG 04.04.2001 - 4 AZR 237/00 - AP Nr. 26 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; 20.04.1999 - 1 AZR 631/98 - BAGE 91, 244). Das gilt unabhängig davon, ob der Arbeitgeber an den Verbandstarifvertrag als Mitglied gemäß § 3 Abs. 1 TVG gebunden ist oder ob der Verbandstarifvertrag gemäß § 3 Abs. 3 TVG weiter gilt. Aus diesem Grund verdrängten, wovon auch die Parteien ausgehen, der Anerkennungstarifvertrag sowie die Verfahrensvereinbarung jedenfalls bis zum 02.04.2004 die im Tenor des arbeitsgerichtlichen Urteils unter I. aufgeführten Tarifverträge.

d) Entgegen der Auffassung der Beklagten galten aber nach Außerkrafttreten der speziellen Tarifregelungen zum 02.04.2005 (s. o. I. 1.) wieder die bis zu diesem Zeitpunkt verdrängten Tarifverträge. Die Beklagte ist nämlich weiterhin gemäß § 3 Abs. 3 TVG tarifgebunden. Durch die zwischenzeitliche Geltung anderer (konkurrierender) Tarifverträge wird die Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG nicht beseitigt. Durch die Lösung der Tarifkonkurrenz wird nur geklärt, welcher von mehreren Tarifverträgen, an die die Arbeitsvertragsparteien gebunden sind, den Vorrang genießt. Durch den vorrangigen Tarifvertrag werden der oder die anderen Tarifverträge aber nicht aufgehoben, unwirksam oder abgelöst (vgl. BAG 04.04.2001 - 4 AZR 237/00 - AP Nr. 26 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Däubler/Zwanziger TVG 2. Auflage § 4 Randnr. 937). Vielmehr geht es - wie im Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zu nationalem Recht - um den Anwendungsvorrang. Die Tarifpartner des Firmentarifvertrags können nicht die Tarifverträge anderer Tarifpartner aufheben. Das bedeutet, dass dann, wenn der vorgehende Tarifvertrag nicht mehr besteht, die Wirkung des nunmehr allein geltenden Tarifvertrags einsetzt, wenn dessen Bestimmungen rechtswirksam sind (Wiedemann/Wank TVG 7. Auflage § 4 Randnr. 299 i; Schliemann, Sonderbeilage zu NZA Heft 24./2000, Seite 24).

II. Der Ergänzungstarifvertrag (Gesamtvereinbarung ERA) vom 17.09.2003 besteht fort. Er hat nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 04.10.2006 geendet.

1. Der Beklagten ist darin zuzustimmen, dass die außerordentliche Kündigung eines Tarifvertrags, wie bei allen Dauerschuldverhältnissen, aus wichtigem Grund zulässig ist. Aus § 314 BGB folgt, dass jedes Dauerschuldverhältnis vorzeitig aus wichtigem Grund beendet werden kann.

Ein wichtiger Grund in diesem Sinne liegt vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile sowie mit Rücksicht auf die Interessen der vom Tarifvertrag unmittelbar oder mittelbar betroffenen Personen die Fortsetzung nicht zugemutet werden kann (BAG 18.06.1997 - 4 AZR 710/95 - AP Nr. 2 zu § 1 TVG Kündigung). In Betracht kommen sowohl wirtschaftliche als auch außerwirtschaftliche Gründe. Gründe, die schon bei Vertragsschluss vorhanden waren, berechtigen in aller Regel nicht zur Beendigung des Tarifvertrags durch außerordentliche Kündigung (Wiedemann/Wank a. a. O. § 4 Randnr. 31). Das Festhalten am Vertrag muss für den Kündigenden unzumutbar sein. Die "Unzumutbarkeit" selbst ist kein wichtiger Grund im oben beschriebenen Sinn, sondern die Folge seines Vorliegens. Die kündigende Partei trägt die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der die Kündigung rechtfertigenden Umstände.

2. Die Beklagte hat auch im Berufungsverfahren keinen wichtigen Grund vorgetragen, der eine außerordentliche Kündigung der streitgegenständlichen Vereinbarung rechtfertigen kann.

Der wiederholte Hinweis auf die verfassungsrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit kann die Kündigung nicht begründen. Zutreffend weist das Arbeitsgericht darauf hin, dass jeder Tarifvertrag ohne weiteres außerordentlich kündbar wäre, wenn schon die Berufung auf die Koalitionsfreiheit als wichtiger Grund angesehen werden würde. Es handelt sich zudem auch nicht um einen Grund, der sich erst nach Vertragsschluss eingestellt hat.

Soweit sich die Beklagte auf die Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit sowie darauf beruft, schon der "vorgelagerte" Verbandsaustritt aus dem Arbeitgeberverband Nordmetall habe dazu gedient, der veränderten Marktsituation Rechnung zu tragen, reicht auch dies zur Begründung der Kündigung nicht aus. Die Beklagte macht einen Kündigungsgrund geltend, der schon bei Abschluss des Tarifvertrages vorlag. Wie sich aus dem Sozialplan vom 30.05.2005 ergibt, bestanden die geschilderten wirtschaftlichen Probleme bereits im Jahr 2003. In dem Jahr konnte bei einem budgetierten Umsatz in Höhe von 25 Mio. € "angesichts der weltwirtschaftlichen Situation" nur ein Umsatz von 16,4 Mio. € realisiert werden. Es fehlt Vortrag dazu, inwieweit sich die Situation in der Folgezeit verschärft hat.

Zudem konnte die Berufungskammer auf der Grundlage des schlagwortartigen Vortrags der Beklagten nicht nachvollziehen, wie sich der "Ausstieg" aus ERA auf die Wettbewerbsfähigkeit der Beklagten auswirken würde. Hier ist zu berücksichtigen, dass die Beklagte mit anderen Unternehmen der Metallindustrie im Wettbewerb steht, also mit Unternehmen, die - wenn sie tarifgebunden sind - ERA anwenden müssen und es teilweise schon tun.

3. Der Ergänzungstarifvertrag vom 17.09.2003 besteht daher zum Zeitpunkt der Entscheidung in der Berufungsinstanz. Er ist nach wie vor rechtswirksam. Eine ordentliche Kündigung dieses Tarifvertrags wäre erst zum 31.12.2009 möglich, und zwar mit einer Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende. Eine solche Kündigung hat die Beklagte bislang nicht ausgesprochen.

Die außerordentliche Kündigung vom 04.10.2006 kann auch nicht in eine ordentliche Kündigung umgedeutet werden. Ob die Umdeutung der unwirksamen außerordentlichen Kündigung in eine ordentliche Kündigung möglich ist, richtet sich nach § 140 BGB. Entspricht ein nichtiges Rechtsgeschäft den Erfordernissen eines anderen Rechtsgeschäfts, so gilt dieses andere Rechtsgeschäft, wenn anzunehmen ist, dass dieses andere Rechtsgeschäft in Kenntnis der Nichtigkeit gewollt wäre. Für die Umdeutung einer unwirksamen außerordentlichen Kündigung kommt es darauf an, ob die Umdeutung in eine ordentliche Kündigung nach den gegebenen Umständen dem mutmaßlichen Willen des Arbeitgebers entspricht und ob dieser Wille dem Kündigungsempfänger erkennbar geworden ist. Aus dem Verhalten der Beklagten und der Situation, in der die außerordentliche Kündigung ausgesprochen wurde, konnte die Klägerin nicht schließen, die Beklagte wolle zumindest eine ordentliche Kündigung erklären. Denn zeitgleich hat sie eine andere Vereinbarung (vorsorglich) ordentlich gekündigt und damit zum Ausdruck gebracht, dass ihr der Unterschied der Kündigungsarten und ihrer Wirkung wohl bewusst ist. Erkennbar ging es der Beklagten darum, die Bindung an ERA sofort und ohne jede Frist zu beenden.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO i. V. m. § 64 Abs. 6 ArbGG. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Angelegenheit zugelassen worden.

Ende der Entscheidung

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