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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 27.01.2005
Aktenzeichen: 11 KN 38/04
Rechtsgebiete: NDS. SOG, NGefAG


Vorschriften:

NDS. SOG § 55 Abs. 1 Nr. 1
NGefAG § 55 Abs. 1 Nr. 1
Allein ein subjektives Unsicherheitsgefühl der Bürger, dass der tatsächlichen Gefährdung nicht entspricht, rechtfertigt es nicht, in einer auf § 55 Abs. 1 Nr.1 Nds. SOG gestützten Hundeverordnung einen generellen Leinenzwang für die gesamte geschlossene Ortslage festzulegen.

Sollen Risiken bekämpft werden, die jenseits des Bereichs feststellbarer Gefahren liegen, erfordert dieses eine Risikobewertung, die den Polizei- und Ordnungsbehörden auf der Grundlage des § 55 Nds. SOG nicht zusteht (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 3.7.2002 - 6 CN.01 - DVBl. 2002, 1562).


Gründe:

Die Antragsteller begehren im Wege des Normenkontrollverfahrens, § 4 der Verordnung über das Halten von Hunden in der Stadt {C.} für unwirksam zu erklären.

Die Stadt {C.} besteht nicht aus einem konzentrierten Stadtkern, sondern aus sieben nebeneinander liegenden Ortsteilen ({D.}, {E.}, {F.}, {G.}, {H.} und {I.} sowie {J.}).

Am 18. Dezember 2003 trat die "Verordnung über das Halten von Hunden in der Stadt {C.}" (HundeVO) vom 30. Dezember 2003 in Kraft.

§ 4 HundeVO bestimmt unter der Überschrift "Leinenzwang":

"Hunde müssen auf allen öffentlichen Wegen, Straße, Plätzen, Grün- und Parkanlagen innerhalb der geschlossenen Ortslage, in Sportanlagen sowie bei Umzügen und ähnlichen Veranstaltungen mit Menschenansammlungen an der reiß- und beißfesten Leine geführt werden."

Die Antragsteller wohnen in dem Ortsteil {D.} und sind seit 1999 Halter der Schäferhund-Mischlingshündin "Gina". Am 10. Februar 2004 haben die Antragsteller das Normenkontrollverfahren eingeleitet. Sie wenden sich gegen die Gültigkeit von § 4 HundeVO. Hierzu tragen sie im Wesentlichen vor:

§ 55 Abs. 1 Nr. 1 des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes (NGefAG idF v. 20. 2. 1998 einschließlich der Änderungen vom 20. 11. 2001 - Nds. GVBl. 1998 S. 101; 2001 S. 701; seit dem 19. 12. 2003 Nds. Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung - Nds. SOG - Nds. GVBl. 2003, 414) stelle jedoch keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der HundeVO dar. Diese Vorschrift ermächtige die Gemeinden lediglich dazu, bei abstrakten Gefahren Verordnungen zu erlassen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 3. 7. 2002 - 6 CN 8.01 -, DVBl. 2002, 1562) sei für die Feststellung einer abstrakten Gefahr zwingend erforderlich, dass die Prognose des Schadenseintritts in tatsächlicher Hinsicht genügend abgesichert ist. Könne nicht hinreichend sicher festgestellt werden, ob Tatsachen vorliegen, aus denen sich bei ungestörtem weiteren Ablauf demnächst ein Schaden ergeben könne, so liege lediglich ein Gefahrenverdacht vor. Die von der Gemeinde für den Erlass der HundeVO gegebenen Begründungen belegten nicht eine abstrakte Gefahr, sondern allenfalls einen Gefahrenverdacht.

So habe der bei der Stadt {C.} eingerichtete Präventionsrat eine repräsentative Befragung der Bürger durchgeführt. Danach fühlten sich die Bürger vor allem belästigt/bedroht durch Hundekot auf Gehwegen, Schmierereien sowie Müll auf der Straße. Erst an vierter Stelle sei eine Belästigung/Bedrohung durch freilaufende Hunde benannt (Bericht v. April 2003).

Auch die eingeholte polizeiliche Stellungnahme vom 28. Januar 2003 enthalte keine zureichenden Hinweise auf eine abstrakte Gefahr.

Die für den Zeitraum von Januar 2001 bis Juni 2003 vorgelegte Beiß-Statistik belege über einen Zeitraum von ca. 2 1/2 Jahren "lediglich" 27 Vorfälle, also bezogen auf den Zeitraum von 30 Monaten im Durchschnitt weniger als einen Vorfall pro Monat. Zudem sei nur in einem Fall ein Mensch verletzt worden. Soweit in der Statistik Beißvorfälle unter Hunden festgehalten worden sind, müsse hinterfragt werden, wie es zu diesen Beißvorfällen jeweils gekommen sei. Aggressionsverhalten gehöre nämlich zum normalen Verhaltensrepertoire von Hunden und sei nicht ohne weiteres mit Gefährlichkeit gleichzusetzen.

Die Antragsgegnerin sei schließlich in ihrer Beschlussvorlage zu der Hundeverordnung selbst davon ausgegangen, dass das subjektive Unsicherheitsgefühl der Bevölkerung nicht der tatsächlichen Gefährdung entspreche.

Die Verordnung verstoße darüber hinaus gegen §§ 1 und 2 TierSchG. Der generelle Leinenzwang auf allen öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen, Grün- und Parkanlagen und die damit verbundene dauernde Einschränkung für den Hund, seinem Bewegungsbedürfnis nachzukommen, oder die arttypische Kommunikation mit anderen Hunden aufzunehmen, habe Verhaltensfehlentwicklungen zur Folge, die als Schäden im Sinne des § 1 Satz 1 i. V. m. § 2 Nr. 2 TierSchG anzusehen seien. Durch die fehlende Befriedigung des Bewegungsbedürfnisses komme es zum Sinken der Reizschwelle. Hunde, die sich ausschließlich an der Leine bewegen dürften, würden somit in jedem Fall gefährlicher als Hunde, die sich ausreichend bewegten.

Die Hundeverordnung entspreche auch nicht Sinn und Zweck des Niedersächsischen Gesetzes über das Halten von Hunden (NHundG v. 12. 12. 2002, geändert am 30. 10. 2003 - Nds. GVBl. 2003, 2 und 367). Durch die im Oktober 2003 erfolgte Änderung dieses Gesetzes sei nämlich deutlich gemacht, dass Niedersachsen bei der Reglementierung von Lebenssachverhalten im Bereich der Hundehaltung ausschließlich auf das einzelne Hundeindividuum und seinen Halter abstelle.

Die Verordnung verstoße darüber hinaus gegen das Übermaßverbot. Die bebaute Ortslage reiche jeweils vom Ortseingang bis zum Ortsausgang der einzelnen Stadtteile und sei somit flächendeckend. Selbst die ballungsintensive Stadt {K.} habe einen im gesamten Stadtgebiet geltenden Leinenzwang nur für besonders gefährliche Hunde angeordnet und ansonsten den Leinenzwang für alle Hunde lediglich auf den eigentlichen Innenstadtbereich beschränkt. Zudem habe die Stadt {K.} Auslaufflächen für Hunde vorgesehen, die teilweise über das gesamte Jahr zur Verfügung stünden. Vergleichbares gebe es in der Stadt {C.} nicht. Die Hundehalter der Stadt {C.} müssten daher stets auf die außerhalb gelegenen Wald- und Wiesenbereiche ausweichen. Dieses sei deswegen problematisch, weil die das Stadtgebiet umgebende "freie Landschaft" größtenteils aus Wildschongebieten bestehe, in denen das ganze Jahr über Hunde angeleint werden müssten. Die übrigen an die einzelnen Stadtteile angrenzenden freien Landschaften könnten ebenfalls nicht uneingeschränkt als Auslauf für die Hunde genutzt werden. Bei diesen freien Landschaften handele es sich nämlich fast ausnahmslos um landwirtschaftlich genutzte Flächen, deren Zutritt für Hund und Mensch nicht zulässig sei. Im übrigen gelte in Niedersachsen für die Zeit vom 1. April bis zum 15. Juli (Brut- und Setzzeit) ein absolutes Leinengebot im Wald und in der freien Landschaft. In dieser Zeitspanne könnten auf dem Gebiet der Antragsgegnerin Hunde nirgendwo ohne Leine geführt werden.

Die Verordnung sei darüber hinaus auch unbestimmt. Es sei für den Bürger nicht erkennbar, wann eine "geschlossene Ortslage" vorliege und wann nicht.

Soweit einzelne Hundehalter nicht verantwortungsbewusst mit ihren Hunden umgingen, könne die Gemeinde individuelle Maßnahmen ergreifen. Es sei unverhältnismäßig, nur um diese "schwarzen Schafe" zu erfassen, auch allen verantwortungsbewussten Hundehaltern einen generellen Leinenzwang für ihre Hunde aufzuerlegen.

Die Antragsteller beantragen,

§ 4 der Verordnung über das Halten von Hunden in der Stadt {C.} für unwirksam zu erklären.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzuweisen.

Sie führt im Wesentlichen aus: Die Voraussetzungen für die Annahme einer abstrakten Gefahr lägen vor. Von frei umherlaufenden Hunden, gleich welcher Rasse und Größe, gehe generell in dicht besiedelten Gebieten eine abstrakte Gefahr aus. So habe es, wenn auch nicht im Bereich der Antragsgegnerin, z. B. etliche Fälle gegeben, in denen Radfahrer von einem unangeleinten Hund zu Fall gebracht worden seien und sich schwer verletzt hätten.

Ein Verstoß gegen das TierSchG liege nicht vor. Zwar schreibe dieses eine artgerechte Haltung der Tiere vor. Jedoch habe nicht die Gemeinde dem Bürger das artgerechte Halten von Tieren zu ermöglichen, sondern der Bürger dürfe nur Tiere halten, deren artgerechte Haltung er seinerseits gewährleisten könne, d. h. der jeweilige Hundehalter müsse prüfen, ob er den Hund gemessen an Wohnungsbeschaffenheit und Wohnanlage überhaupt artgerecht halten könne.

Ein Verstoß gegen das NHundG liege nicht vor. Dieses Gesetz ermächtige die Gemeinden in seinem § 13 Abs. 2 vielmehr gerade dazu, Verordnungen zur Abwehr abstrakter Gefahren zu erlassen.

Die angegriffene Hundeverordnung sei verhältnismäßig. Zwar reiche die geschlossene Ortslage in den jeweiligen Stadtteilen fast überall vom Ortseingang bis zum Ortsausgang. Zwischen den jeweiligen Stadtteilen befinde sich jedoch eine offene Landschaft. Diese bestehe zum Teil aus Wald, aber überwiegend aus Feldmark. Von dieser freien Landschaft seien nur 5 % Wildschongebiete. Auf allen übrigen Flächen dürften die Hunde unangeleint geführt werden. Da genügend Freilaufflächen vorhanden seien, habe die Stadt {C.} nicht extra Freilaufflächen für Hunde ausweisen müssen. Lediglich während der Schonzeit (1. April - 15. Juli) gebe es auf dem Gebiet der Stadt {C.} keine Fläche, auf der Hunde unangeleint geführt werden dürften.

Abzuwägen seien die Interessen der Hundehalter und die Anforderungen des Tierschutzes einerseits gegen den Anspruch der übrigen Bevölkerung, sich sicher und frei von Belästigungen bewegen zu können. In geschlossenen Ortslagen gehe das Recht der Bürger auf körperliche Unversehrtheit vor, so dass der Leinenzwang hinzunehmen sei.

Schließlich sei § 4 HundeVO auch bestimmt genug. Unter dem Begriff der "geschlossenen Ortslage" sei ein Stadtgebiet zu verstehen, das in geschlossener oder offener Bauweise zusammenhängend bebaut sei, wobei einzelne unbebaute Grundstücke, zur Bebauung ungeeignetes oder ihr entzogenes Gelände oder eine einseitige Bebauung den Zusammenhang nicht unterbrechen würden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

Der Normenkontrollantrag ist zulässig und begründet.

1) Gegen die Zulässigkeit des Antrags bestehen keine Bedenken.

Bei der Hundeverordnung der Antragsgegnerin handelt es sich um eine im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift, für die der niedersächsische Landesgesetzgeber die Möglichkeit der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO gemäß § 7 Nds. VwGG zugelassen hat. Die Anträge der Antragsteller richten sich zudem nur gegen solche Vorschriften der Verordnung, deren Kontrolle der Gerichtsbarkeit des Oberverwaltungsgerichts unterliegt (vgl. zu dieser Voraussetzung Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 47 Rdnr. 17 m. w. N.).

Auch die Antragsbefugnis (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO) der Antragsteller ist gegeben. Denn sie können als Eigentümer und Halter des Hundes geltend machen, durch die zur Überprüfung gestellten Vorschriften in der Hundeverordnung in ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 14 GG verletzt zu werden.

2) Der Antrag ist auch begründet. § 4 HundeVO kann nicht auf die Ermächtigungsgrundlage des § 55 Abs. 1 Nr. 1 NGefAG (nunmehr Nds. SOG) gestützt werden.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 3. 7. 2002 (6 CN 8.01 - DVBl. 2002, 1562 zu OVG Lüneburg, Urt. v. 30. 5. 2001 - 11 K 4233/00 - Gefahrtierverordnung) ausgeführt:

"§ 55 ermächtigt (die Gemeinden) zum Erlass von Verordnungen zur Abwehr abstrakter Gefahren. Die abstrakte Gefahr ist nach § 2 Nr. 2 NGefAG eine nach allgemeiner Lebenserfahrung oder den Erkenntnissen fachkundiger Stellen mögliche Sachlage, die im Fall ihres Eintrittes eine Gefahr iSd § 2 Nr. 1 NGefAG darstellt, d. h. eine Sachlage, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit eintreten wird.

Die Vorschrift ist nur insoweit als Grundlage für den Erlass einer sicherheitsbehördlichen Verordnung geeignet, als mit ihr Gefahren bekämpft werden sollen, die dem genannten Gefahrenbegriff entsprechen. Der klassische Gefahrenbegriff, der auch dem NGefAG zugrunde liegt, ist dadurch gekennzeichnet, dass aus gewissen gegenwärtigen Zuständen nach dem Gesetz der Kausalität gewisse andere Schaden bringende Zustände und Ereignisse erwachsen werden .... Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können, begründen keine Gefahr, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht oder ein "Besorgnispotential". ... Das allgemeine Gefahrenabwehrrecht bietet keine Handhabe, derartige Schadensmöglichkeiten im Wege der Vorsorge (hier durch eine Verordnung) zu begegnen.... Maßgebliches Kriterium zur Feststellung einer Gefahr ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. ... Das trifft nicht nur für die "konkrete" Gefahr zu ...., sondern auch für die den sicherheitsrechtlichen Verordnungen zugrunde liegende "abstrakten Gefahr". Die abstrakte Gefahr unterscheidet sich von der konkreten Gefahr nicht durch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, sondern durch den Bezugspunkt der Gefahrenprognose ... durch die Betrachtungsweise. Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann; eine abstrakte Gefahr ist gegeben, wenn eine generell-abstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall einzutreten pflegt und daher Anlass besteht, diese Gefahr mit generell-abstrakten Mitteln, also einem Rechtssatz zu bekämpfen; das hat zur Folge, dass auf den Nachweis der Gefahr eines Schadenseintritts im Einzelfall verzichtet werden kann. ... Auch die Feststellung einer abstrakten Gefahr verlangt mithin eine in tatsächlicher Hinsicht genügend abgesicherte Prognose: Es müssen - bei abstrakt-genereller Betrachtung - hinreichende Anhaltspunkte vorhanden sein, die den Schluss auf den drohenden Eintritt von Schaden rechtfertigen. Dabei liegt es im Wesen von Prognosen, dass die vorhergesagten Ereignisse wegen anderer als der erwarteten Geschehensabläufe ausbleiben können. Von dieser mit jeder Prognose verbundenen Unsicherheit ist die Ungewissheit zu unterscheiden, die bereits die tatsächlichen Grundlagen der Gefahrenprognose betrifft. Ist die Behörde mangels genügender Erkenntnisse über die Einzelheiten der zu regelnden Sachverhalte und/oder über die maßgeblichen Kausalverläufe zu der erforderlichen Gefahrenprognose nicht imstande, so liegt keine Gefahr, sondern - allenfalls - eine mögliche Gefahr oder ein Gefahrenverdacht vor. Zwar kann auch in derartigen Situationen ein Bedürfnis bestehen, zum Schutz der etwa gefährdeten Rechtsgüter, namentlich höchstrangiger Rechtsgüter wie Leben und körperliche Unversehrtheit von Menschen, Freiheitsbeschränkungen anzuordnen. Doch beruht ein solches Einschreiten nicht auf der Feststellung einer Gefahr; vielmehr werden dann Risiken bekämpft, die jenseits des Bereichs feststellbarer Gefahren verbleiben. Das setzt eine Risikobewertung voraus, die ... über einen Rechtsanwendungsvorgang weit hinausgeht und mehr oder weniger zwangsläufig neben der Beurteilung der Intensität der bestehenden Verdachtsmomente eine Abschätzung der Hinnehmbarkeit der Risiken sowie der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz der in Betracht kommenden Freiheitsbeschränkungen in der Öffentlichkeit einschließt, mithin ... "politisch" geprägt oder mitgeprägt ist ... Eine derartig weitreichende Bewertungs- und Entscheidungskompetenz steht den Polizei- und Ordnungsbehörden aufgrund der Verordnungsermächtigung nach Art. 55 NGefAG nicht zu. ... Vielmehr ist es Sache des zuständigen Gesetzgebers, sachgebietsbezogen darüber zu entscheiden, ob, mit welchem Schutzniveau ... und auf welche Weise Schadensmöglichkeiten vorsorgend entgegengewirkt werden soll, die nicht durch ausreichende Kenntnis belegt, aber auch nicht auszuschließen sind. ... Allein der Gesetzgeber ist befugt, unter Abwägung der widerstreitenden Interessen die Rechtsgrundlagen für Grundrechtseingriff zu schaffen, mit denen Risiken vermindert werden sollen, für die - sei es aufgrund neuer Verdachtsmomente, sei es aufgrund eines gesellschaftlichen Wandels oder einer veränderten Wahrnehmung in der Bevölkerung - Regelungen gefordert werden. Das geschieht üblicherweise durch eine Absenkung der Gefahrenschwelle in dem ermächtigenden Gesetz von der "Gefahrenabwehr" zur "Vorsorge" gegen drohende Schäden.... Demgegenüber ist in § 55 NGefAG ausschließlich von "Gefahrenabwehr", nicht hingegen von "Vorsorge" oder "Vorbeugung" die Rede. Auch darin zeigt sich positiv-rechtlich, dass dem Gefahrenbegriff nicht aus sich heraus eine Erstreckung auf die Aufgabe der Risiko- oder Gefahrenvorsorge innewohnt."

Nach diesen Kriterien erfüllt § 4 HundeVO nicht die Anforderungen des § 55 Abs. 1 Nr. 1 NGefAG (jetzt Nds. SOG) an das Vorliegen einer "abstrakten" Gefahr.

§ 4 HundeVO geht davon aus, dass unangeleinte Hunde generell im Stadtgebiet der Antragsgegnerin eine Gefahr für andere Hunde oder Menschen darstellen. Diese Annahme wird jedoch durch die von der Antragsgegnerin überreichten Unterlagen nicht belegt.

So hat die vom Kommunalen Präventionsrat der Antragsgegnerin im April 2003 ausgewertete Befragung ergeben, dass sich die Bürger vor allem durch Hundekot auf Gehwegen, Schmierereien und Müll auf der Straße belästigt/bedroht fühlen und erst an vierter Stelle durch freilaufende Hunde.

Die von der Antragsgegnerin übersandte Statistik mit 27 Beißunfällen in 2 1/2 Jahren ist nur bedingt aussagekräftig. Die im einzelnen bezeichneten Vorfälle (Hund "soll" über Zaun gesprungen sein und Anwohner bedroht haben; unangeleinter Hund verbellte Passanten im Sportplatzbereich; Hund "soll" Nachbarn ständig verbellen; Anwohner beschweren sich, dass Hundehalter ihre Hunde öfters unbeaufsichtigt laufen lassen; Hundehalter konnte seine zwei Hunde nicht bändigen, so dass sie einem Radfahrer nebst Hund hinterher jagten) belegen nicht, dass es dabei zu Übergriffen auf andere Hunde/Menschen gekommen ist bzw. dass eine ernste Gefahr drohte. Soweit in der Statistik fünf Fälle aufgeführt sind, an denen angeleinte Hunde beteiligt waren, belegt dieses nicht unbedingt die Notwendigkeit eines Leinenzwangs, sondern kann ebenso gut belegen, dass angeleinte Hunde häufig angriffsbereiter sind (vgl. hierzu Dr. Feddersen-Petersen, Ein schwerer Verstoß gegen das Tierschutzgesetz, GA Bl. 71).

Auch die Stellungnahme der Polizeistation {L.} enthält keine hinreichenden Anhaltspunkte, die den Schluss auf einen drohenden Eintritt von Schäden rechtfertigen. In der Stellungnahme vom 28. Januar 2003 heißt es lediglich, dass "in der Vergangenheit vereinzelt Strafverfahren gegen Hundehalter bzw. Hundeführer anhängig gewesen seien, da deren Hunde Menschen verletzt hatten". Vereinzelte Strafverfahren reichen aber nicht aus, um bereits eine abstrakt-generelle Gefahr zu bejahen. In jenen Einzelfällen kann vielmehr durch entsprechende Verfügungen gegenüber den jeweiligen konkreten Hundehaltern reagiert werden. Darüber hinaus wird in der polizeilichen Stellungnahme vor allem auf die mit der Hundehaltung einhergehenden "Verschmutzungen und andere Unzulänglichkeiten" hingewiesen. Die Verschmutzungen waren aber auch in der Befragung durch den Kommunalen Präventionsrat das Hauptärgernis der befragten Bürger.

Es gibt schließlich keine Erkenntnisse fachkundiger Stellen, die die Notwendigkeit belegen, Hunde im gesamten Stadtgebiet an der Leine zu führen. Schon im Zusammenhang mit der Gefahrtierverordnung hat das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 3. 7. 2002, a. a. O.) darauf hingewiesen, dass sich aus der Zugehörigkeit zu einer Rasse, einem Typ oder einer entsprechenden Kreuzung allein nach dem Erkenntnisstand der Fachwissenschaft nicht ableiten lasse, dass von den Hundeindividuen Gefahren ausgingen. Zwar bestehe der Verdacht, dass Hunde bestimmter Rassen bzw. eines bestimmten Typs ein genetisch bedingtes übersteigertes Aggressionsverhalten aufwiesen; es sei jedoch in der Wissenschaft umstritten, welche Bedeutung diesem Faktor neben zahlreichen anderen Ursachen wie z. B. Erziehung und Ausbildung des Hundes, Sachkunde und Eignung des Halters sowie situativen Einflüssen für die Auslösung aggressiven Verhaltens zukomme; insbesondere lägen weder aussagekräftige Statistiken noch sonstiges Erfahrungswissen noch genetische Untersuchungen vor.

Die gleichen Überlegungen gelten erst recht, soweit es um alle Hunde ohne jegliche Differenzierungen geht. Dass von allen Hunderassen generell eine abstrakte Gefahr für Menschen/andere Hunde ausgeht, ist wissenschaftlich nicht belegt.

Soweit die Antragsgegnerin den Erlass ihrer Verordnung in der entsprechenden Beschlussvorlage auch damit begründet hat, dem "subjektiven Unsicherheitsgefühl" ihrer Einwohner Rechnung tragen zu wollen, ist es zwar nachvollziehbar, dass sich gerade angesichts der in den letzten Jahren in den Medien verstärkt hervorgehobenen Kampfhunde-Übergriffe jedenfalls ein Teil der Bevölkerung durch freilaufende Hunde eher bedroht fühlten als das in früheren Zeiten der Fall gewesen war. Allein dieses bloße "Unsicherheitsgefühl" der Bürger - das auch nach Auffassung der Gemeinde in ihrer Beschlussvorlage der tatsächlichen Gefährdung nicht entspricht - rechtfertigt jedoch nicht den Erlass einer Verordnung auf der Grundlage des § 55 NGefAG (Nds. SOG), wie das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 3. 7. 2002 (a. a. O.) dargelegt hat.

Risiken, die jenseits des Bereichs feststellbarer Gefahren verbleiben, können lediglich durch den Gesetzgeber geregelt werden. Der niedersächsische Gesetzgeber hat im Anschluss an das o. a. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts das Niedersächsische Gesetz über das Halten von Hunden (NHundG) erlassen. Diesem Gesetz in seiner aktuellen Fassung ist jedoch zu entnehmen, dass der Gesetzgeber nicht von einer generellen Gefährlichkeit aller Hunde ausgegangen ist. So hatte er in dem NHundG in der ursprünglichen Fassung vom 12. 12. 2002 (Nds. GVBl. 2003, 2) zwar zunächst ausgeführt, wer einen "gefährlichen Hund" halte, bedürfe der Erlaubnis und als "gefährlichen Hund" zum einen die Hunde bezeichnet, die individuell eine gesteigerte Aggressivität aufwiesen, aber auch alle die Hunde, die in § 2 Abs. 1 Satz 1 des Hundeverbringungs- und Einfuhrbeschränkungsgesetzes (vom 12. 4. 2001 - BGBl. I 2001 S. 530) genannt seien. Mit dem Änderungsgesetz vom 30. 10. 2003 wurden als "gefährliche Hunde" im Sinne des NHundG dagegen nur noch diejenigen Hunde bezeichnet, die individuell eine gesteigerte Aggressivität aufweisen. Die Einstufung der in § 2 Abs. 1 Satz 1 des Hundeverbringungs- und Einfuhrbeschränkungsgesetzes genannten Hunde als generell gefährlich ist entfallen. Dieses macht - hierauf haben auch die Antragsteller hingewiesen - deutlich, dass der niedersächsische Gesetzgeber nicht von einer generellen Gefährlichkeit bestimmter Hunderassen ausgegangen ist, sondern diese Gefährlichkeit jeweils nur individuell bezogen auf einzelne Hunde annimmt. Auch dieser im NHundG zum Ausdruck gekommene Wille steht der von der Antragsgegnerin vorgenommenen Wertung entgegen. § 13 Abs. 2 NHundG führt zu keinem anderen Ergebnis. Danach bleibt zwar die Befugnis der nach § 55 NGefAG zuständigen Behörden unberührt, Verordnungen zur Abwehr abstrakter von Hunden ausgehender Gefahren zu erlassen. Eine abstrakte Gefahr belegen die von der Antragsgegnerin verwerteten Erkenntnisse aber - wie oben dargelegt - gerade nicht.

Da § 55 Abs. 1 Nr. 1 NGefAG (Nds. SOG) somit keine zureichende Rechtsgrundlage für § 4 HundeVO der Antragsgegnerin darstellt, ist es für die Entscheidung unerheblich, ob die Einwohner der Antragsgegnerin ihre Hunde außerhalb des Stadtgebietes in zureichendem Maße artgerecht auslaufen lassen können. Auf die Frage, ob im Anschluss an die bebauten Gebiete zureichende Freiflächen zur Verfügung stehen oder ob die angrenzenden Gebiete im Wesentlichen für Hundebesitzer nicht zur Verfügung stehen (sei es, weil es sich um ganzjährige Wildschongebiete handelt, sei es, weil es sich um landwirtschaftliche Grundstücke handelt, die von den Bürgern nicht betreten werden dürfen) kommt es daher nicht an. Nicht zu entscheiden ist auch, ob ein Leinengebot von der Antragsgegnerin möglicherweise für bestimmte Bereiche zulässig wäre (z. B. im eigentlichen Stadtkern, in Fußgängerzonen, auf Sportflächen etc.). Hierüber hat die Antragsgegnerin in eigener Kompetenz zu entscheiden.

Lediglich der Vollständigkeit halber sei abschließend darauf hingewiesen, dass der Wortlaut des § 4 der VO wohl auch gegen das Bestimmtheitsgebot verstößt, denn das Kriterium "innerhalb der geschlossenen Ortslage" ist für den mit baurechtlichen Begriffen nicht vertrauten Bürger nicht eindeutig, zumal auch eine Bezugnahme auf einen entsprechend gekennzeichneten Lageplan fehlt.



Ende der Entscheidung

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