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Beginn der Entscheidung

Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 18.07.2006
Aktenzeichen: 11 LB 75/06
Rechtsgebiete: AsylVfG, AufenthG, tStGB


Vorschriften:

AsylVfG § 28 I
AsylVfG § 28 II
AufenthG § 60 I
tStGB nF Art. 220 VIII
tStGB nF Art. 301
tStGB nF Art. 302
tStGB nF Art. 318
Eine langjährige und exponierte journalistische Tätigkeit für die PKK-nahe Tageszeitung "Özgür Politika" kann die Annahme eines beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsrisikos bei Rückkehr in die Türkei rechtfertigen.
Tatbestand:

Der Kläger, der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter), wendet sich gegen die Anerkennung des Beigeladenen als politischer Flüchtling nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG).

Der am 1. Februar 1975 in E. bei F. (Provinz G.) geborene Beigeladene ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und alevitischer Religionszugehörigkeit.

Der Beigeladene beantragte am 6. November 1998 erstmals seine Anerkennung als Asylberechtigter. Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - (Bundesamt) am 11. November 1998 machte er u. a. folgende Angaben: Er habe 1993 in F. das Abitur gemacht und danach in einer Apotheke in H. gearbeitet. Auch habe er in H. einen Buchladen gehabt, der aber nicht auf seinen Namen, sondern auf den Namen seines Bruders angemeldet gewesen sei. In diesem Laden seien neben Schulbüchern auch linksorientierte Bücher verkauft worden. Am 2. Mai 1998 sei er von Angehörigen der Militärstation von H. in der Apotheke, bei der er beschäftigt gewesen sei, abgeholt worden. Er habe zehn Tage auf der Militärstation verbringen müssen. Kurz darauf habe er eine Bestellung von einer Apotheke in G. abholen sollen. Dort habe er von dem Chef der Apotheke in H. telefonisch erfahren, dass acht seiner Freunde in F. festgenommen worden seien. Er sei dann mit dem Bus nach I. gefahren. Von dort habe er den Kontakt in seine Heimat aufrecht erhalten und erfahren, dass nach ihm gesucht worden sei. Seine festgenommenen Freunde hätten seinen Namen an die türkischen Sicherheitskräfte verraten. Am 21. Oktober 1998 sei er dann mit Hilfe eines Schleppers auf dem Luftwege von I. nach J. ausgereist.

Auf Vorhalt räumte der Beigeladene ein, dass er unter dem Namen K. L. C. bereits am 18. Juni 1998 über den Grenzübergang M. versucht hatte, nach Deutschland zu gelangen. Gemeinsam mit anderen sei er aber festgenommen, erkennungsdienstlich behandelt und dann den tschechischen Behörden übergeben worden. Ende September 1998 sei er illegal in die Türkei zurückgekehrt. Das Bundesamt lehnte den Asylantrag des Beigeladenen mit Bescheid vom 23. November 1998 als offensichtlich unbegründet ab und stellte gleichzeitig fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht vorlägen. Die hiergegen erhobene Klage, zu deren Begründung der Beigeladene ergänzend vortrug, dass er unter dem Pseudonym "N. D. aus O." Artikel in der Tageszeitung "Özgür Politika" veröffentlicht habe, wies das Verwaltungsgericht Oldenburg durch Urteil vom 9. Dezember 1999 - 5 A 4519/98 - ab; ein Antrag auf Zulassung der Berufung blieb erfolglos (Beschl. d. Sen. v. 18.1.2000 - 11 L 188/00 -).

Mit anwaltlichem Schreiben vom 13. Oktober 2003 stellte der Beigeladene einen Asylfolgeantrag. Er trug im Wesentlichen vor: In der Türkei werde er wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK (KADEK) verfolgt. Er sei deshalb am 21. September 2003 auf dem Luftweg von I. nach J. ausgereist. Bei der Flucht habe er gefälschte Reisedokumente benutzt, die von einer Schlepperorganisation für ihn besorgt worden seien.

Nach dem für ihn ungünstigen Ausgang seines ersten Asylverfahrens sei er mit der Hilfe von Schleppern auf dem Landweg mit einem Bus illegal in die Türkei eingereist. Er sei am 14. Juni 2000 in I. angekommen. Dort habe er sich bei Bekannten aufgehalten und sei von seiner in I. lebenden Schwester finanziell unterstützt worden. Ende 2001 habe er von seinem Bruder P. die Telefonnummer einer alten politischen Freundin aus H. erhalten. Diese habe ihm im Januar 2002 einen türkischen Personalausweis besorgt, der sein Foto enthalten, aber auf den Namen Q. R. gelautet habe. Am 15. März 2002 habe er eine Arbeitsstelle in einer Teestube gefunden. Über diese Freundin habe er auch K. und S. kennengelernt, die beide direkten Kontakt zur PKK (KADEK) gehabt hätten. Er sei zu ihnen gezogen. Ab August 2002 sei er für die HADEP und DEHAP tätig geworden, insbesondere im Zusammenhang mit den bevorstehenden Wahlen. Neben Tätigkeiten im legalen Bereich habe er sich auch an illegalen Treffen von Sympathisanten der PKK beteiligt. Er habe auch wieder angefangen, für die Tageszeitigung Özgür Politika zu arbeiten. Im April 2003 habe er ein Interview mit dem kurdischen Sänger Sexo geführt, das am 26. April 2003 unter seinem Namen (T. A.) in der Özgür Politika erschienen sei. Anfang September 2003 habe er einen Artikel über den kurdischen Sänger Ahmet Aslan verfasst, den die Özgür Politika am 11. September 2003 unter seinem Namen veröffentlicht habe. Am 12. Juni 2003 sei er beim Verbreiten der Zeitung Özgür Halk von Zivilpolizisten festgenommen worden. Sie hätten ihn in ein Auto gesetzt und seien in ein Waldgebiet gefahren. Auf die Frage nach seinen Kontakten zu Personen, die für die PKK (KADEK) oder DEHAP arbeiteten, habe er geantwortet, dass er lediglich die Zeitung Özgür Halk verbreiten würde. Daraufhin hätten ihn die Zivilpolizisten freigelassen.

Am 5. September 2003 habe er zusammen mit zwei politischen Freunden illegale Schriften der PKK (KADEK) verteilt. Dabei seien sie von türkischen Polizisten überrascht worden. Während er und ein Freund hätten fliehen können, sei der andere Freund, der wie er - der Beigeladene - aus F. stamme und ihn unter seinem richtigen Namen gekannt habe, festgenommen worden. Er selbst habe sich danach versteckt gehalten und drei Tage später erfahren, dass in der Wohnung, in der er zusammen mit K. und S. gelebt habe, eine Hausdurchsuchung gemacht und dabei nach ihm sowohl unter seinem richtigen Namen als auch unter seinem falschen Namen gefragt worden sei. Über politische Freunde, die direkten Kontakt zur PKK (KADEK) gehabt hätten, habe er dann erfahren, dass der festgenommene Freund unter Folter seinen - des Beigeladenen - richtigen Namen und dessen Aufenthaltsort in I. genannt habe. Seine Eltern hätten ihm telefonisch mitgeteilt, dass auch in seinem Heimatort nach ihm gesucht worden sei. Aus diesen Gründen habe er sich zur Flucht entschlossen.

Bei der Anhörung vor dem Bundesamt am 24. Oktober 2003 wiederholte er im Wesentlichen die Angaben aus dem anwaltlichen Schriftsatz. Zu seiner publizistischen Tätigkeit machte er zusätzlich folgende Angaben:

Während seines ersten Asylverfahrens sei er 1998 bei der Özgür Politika als Journalist auf Probe eingestellt worden. Wegen der Lebenssicherheit für seine Familie habe er seinerzeit seine Artikel unter dem Namen N. D. verfasst. Von der Türkei aus habe er den Kontakt zur Özgür Politika über Telefongespräche und E-Mails gehalten. Ab dem Jahre 2002 habe er Informationen über Aktivitäten in der Türkei, z.B. Demonstrationen, an Özgür Politika weitergeleitet, und zwar vor allem an Frau U. V.. Er habe erstmalig wieder im April 2003 einen Artikel für Özgür Politika geschrieben. Es habe sich um eine Reportage über den kurdischen Sänger Sexo gehandelt. Bei Reportagen sei es bei der Özgür Politika üblich, dass man seinen richtigen Namen angebe.

Im Anschluss an die Anhörung vor dem Bundesamt legte der Beigeladene u. a. einen am 20. November 2003 von der W. Presse- und Verlags GmbH aus X., bei der die Özgür Politika verlegt wird, auf ihn ausgestellten Presseausweis, von ihm verfasste und veröffentliche Artikel in der Özgür Politika sowie Schreiben der W. Presse- und Verlags GmbH aus X., ein Schreiben der Redaktion der Özgür Politika und eine schriftliche Bestätigung der Journalistin/Redakteurin U. V. vor.

Mit Bescheid vom 5. März 2004 lehnte das Bundesamt den Antrag des Beigeladenen auf Anerkennung als Asylberechtigter ab, stellte aber zugleich fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen. Es führte zur Begründung aus:

Der Beigeladene könne sich nicht auf Art. 16 a GG berufen, da er nicht glaubhaft gemacht habe, tatsächlich auf dem Luftweg eingereist zu sein. Dagegen lägen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vor. Es stehe zur Überzeugungsgewissheit der Einzelentscheiderin fest, dass der Beigeladene bei Rückkehr in die Türkei mit asylerheblichen Repressalien zu rechnen habe. Es sei davon auszugehen, dass die Angaben des Beigeladenen über seine politischen Aktivitäten in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zutreffend seien. Aber selbst bei Zweifeln an der Verfolgungs- und Fluchtgeschichte stehe jedenfalls fest, dass er als Journalist der PKK (KADEK)-nahen und in der Türkei verbotenen Zeitung "Özgür Politika" namentlich in Erscheinung getreten sei. Diese journalistische Tätigkeit müsse auch als ernsthaft angesehen werden, so dass der Beigeladene allein deswegen mit politischen Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen habe. Diese Zeitung werde von den türkischen Sicherheitskräften als Sprachrohr der PKK (KADEK) angesehen, so dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass die Personalien des Beigeladenen bekannt seien.

Gegen diese Entscheidung des Bundesamtes erhoben sowohl der Beigeladene als auch der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) Klage. Das Verwaltungsgericht stellte das Klageverfahren des Beigeladenen - 4 A 511/04 - mit Beschluss vom 13. Juni 2005 ein, nachdem er die Klage zurückgenommen hatte.

Der Bundesbeauftragte machte zur Begründung geltend: Das Bundesamt habe dem Beigeladenen zu Unrecht Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG gewährt. Sowohl die Einlassungen des Beigeladenen zu seiner journalistischen Tätigkeit als auch sein übriges Vorbringen hätten näherer Überprüfung bzw. ergänzender Sachaufklärung bedurft. Auch wegen der in der Zwischenzeit eingetretenen Entwicklung in der Türkei, insbesondere der Verbesserung der Menschenrechtslage und des Rückgangs von Folterfällen, sei eine Rückkehrgefährdung des Beigeladenen in Frage zu stellen.

Der Bundesbeauftragte hat beantragt,

den Bescheid des Bundesamtes von 5. März 2004 aufzuheben, soweit es die Ziffer 2. betrifft.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt. Die zuständige Einzelentscheiderin ist aber mit Schriftsatz vom 13. April 2004 der Klagebegründung des Bundesbeauftragten entgegengetreten.

Der Beigeladene hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat sich auf sein bisheriges Vorbringen berufen und ergänzend geltend gemacht, dass er im Falle einer Rückkehr in die Türkei aufgrund seiner Tätigkeit als Journalist für die Zeitung Özgür Politika mit intensiven polizeilichen Vernehmungen unter Anwendung von Folter zu rechnen habe.

In der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 2005 überreichte der Beigeladene weitere von ihm unter seinem Namen verfasste und in der Özgür Politika veröffentlichte Artikel aus dem Jahr 2004. Zugleich wies er darauf hin, dass er seine journalistische Tätigkeit auch im Jahr 2005 fortgesetzt habe.

Mit Urteil vom 13. Juni 2005 wies das Verwaltungsgericht die Klage des Bundesbeauftragten ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Dem Beigeladenen sei Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG (= § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) wegen einer ihm in der Türkei drohenden politischen Verfolgung zu gewähren. Selbst wenn man zu Lasten des Beigeladenen zum einen unterstelle, dass er sich zwischen Januar 2000 und September 2003 tatsächlich illegal im Bundesgebiet aufgehalten habe, wofür der erste auf seinen Namen ausgestellte Presseausweis vom 1. Mai 2001, der als seinen Wohnsitz eine Adresse in Y. angebe, sprechen könnte, oder zum anderen davon ausginge, dass er ab Juni 2000 wieder in I. gelebt, aber im September 2003 die Türkei unverfolgt verlassen habe, ändere dies nichts daran, dass dem Beigeladenen jedenfalls wegen eines asylerheblichen Nachfluchtgrundes bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung drohe. Aufgrund der von ihm vorgelegten Dokumente stehe zur Überzeugung der Einzelrichterin fest, dass er seit Jahren durchgehend für die Özgür Politika, einer in der Türkei verbotenen und als "PKK-Sprachrohr" angesehenen Zeitung, gearbeitet habe, und dass er sich auch seit April 2003, als ein erster Artikel von ihm unter seinem richtigen Namen und nicht mehr unter einem Pseudonym veröffentlicht worden sei, in vielfacher Weise öffentlichkeitswirksam und damit in exponierter Weise betätigt habe. Er habe sich allein wegen seiner journalistischen Tätigkeit aus türkischer Sicht verdächtig gemacht, die PKK zu unterstützen, so dass ihm daher in der Türkei zumindest eine menschenrechtswidrige Behandlung drohen werde. Die Kammer gehe trotz aller Reformbestrebungen in der Türkei weiterhin davon aus, dass für Personen, die - wie der Beigeladene durch seine exponierte journalistische Tätigkeit - als prokurdische Regimegegner in das Visier der türkischen Sicherheitskräfte geraten seien, die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung bei einer Rückkehr bis zum heutigen Tage beachtlich sei.

Der Senat hat auf den Antrag des Bundesbeauftragten hin mit Beschluss vom 8. März 2006 die Berufung gegen dieses Urteil gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG zugelassen, weil es grundsätzlich klärungsbedürftig sei, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen prokurdisch-regimegegnerische Aktivitäten angesichts der neueren Entwicklung in der Türkei (noch) zu politischer Verfolgung führen könnten.

Der Bundesbeauftragte macht zur Begründung geltend: Angesichts des fortschreitenden Reformprozesses in der Türkei könne nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die von dem Beigeladenen entfalteten Aktivitäten bei seiner Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu politischer Verfolgung führten.

Der Bundesbeauftragte beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil zu ändern und den Bescheid des Bundesamtes vom 5. März 2004 aufzuheben, soweit für den Beigeladenen die Feststellung gemäß § 51 Abs. 1 AuslG getroffen ist.

Die Beklagte stellt keinen Antrag.

Der Beigeladene beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die angefochtene Entscheidung und macht ergänzend geltend:

Er habe seine exponierte journalistische Tätigkeit für Özgür Politika weiter fortgesetzt und verfasse regelmäßig unter seinem Namen erscheinende Artikel. Außerdem sei er als Fotojournalist für die Zeitung tätig. Ihm drohe deshalb im Falle einer Rückkehr in die Türkei die Gefahr der Folter und menschenrechtswidriger Behandlung. In diesem Zusammenhang berufe er sich auch auf die gutachterliche Stellungnahme von Oberdiek zur Frage der "Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei" vom 17. Januar 2006.

Der Beigeladene hat mehrere Ausgaben von Özgür Politika aus dem laufenden Jahr und einen Presseausweis vom 1. Juni 2006 vorgelegt.

Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung angehört.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten einschließlich der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ergeben sich aus den Anlagen zu den gerichtlichen Schreiben vom 20. Juni und vom 10. Juli 2006 sowie aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 18. Juli 2006.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Bundesbeauftragten ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat seine Klage zu Recht abgewiesen. Dem Beigeladenen steht ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) zu.

Der Bundesbeauftragte ist zwar durch die nach Art. 3 Nr. 5 i.V.m. Art. 15 Abs. 2 des Zuwanderungsgesetzes erfolgte Aufhebung des § 6 AsylVfG mit Wirkung zum 1. September 2004 als Institution aufgelöst worden. Er kann jedoch nach der Übergangsvorschrift des § 87 b AsylVfG das vorliegende, vor dem 1. September 2004 anhängig gewordene Verfahren als Kläger weiter betreiben (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.5.2006 - 1 C 8.05 -).

Dass die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1-3 VwVfG für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeverfahren) zugunsten des Beigeladenen erfüllt sind, wird vom Bundesbeauftragten nicht bestritten. Er ist aber der Auffassung, angesichts des fortschreitenden Reformprozesses in Türkei könne nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die von dem Beigeladenen entfalteten prokurdisch-regimegegnerischen Aktivitäten bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu politischer Verfolgung führten. Dieser Einschätzung vermag sich der Senat nicht anzuschließen.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind mit denen des Anspruchs auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 GG deckungsgleich, soweit es die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut und den politischen Charakter der Verfolgung betrifft (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.2.1992 - 9 C 59.91 -, DVBl. 1992, 843; Urt. v. 26.10.1993 - 9 C 50.92 u.a. -, InfAuslR 1994, 119; jeweils zur Vorgängervorschrift des § 51 Abs. 1 AuslG). Die darüber hinausgehenden Neuregelungen in den Sätzen 3 und 4 c des § 60 Abs. 1 AufenthG kommen im vorliegenden Fall nicht zum Tragen. In Anlehnung an das durch den Zufluchtgedanken geprägte normative Leitbild des Asylgrundrechts gelten auch für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG ist, unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er sein Heimatland auf der Flucht vor eingetretener oder konkret drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist. Im erstgenannten Fall ist Abschiebungsschutz zu gewähren, wenn der Ausländer vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher ist. Hat der Ausländer sein Heimatland jedoch unverfolgt verlassen, so kann sein Feststellungsbegehren gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG nur Erfolg haben, wenn ihm - nach Maßgabe des § 28 AsylVfG - aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung droht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315, 344 f.).

Im vorliegenden Fall ist der normale Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Bei Anwendung dieses Maßstabes droht dem Beigeladenen bei einer Rückkehr in die Türkei gegenwärtig politische Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

Der nunmehr 31 Jahre alte Beigeladene macht geltend, dass er sich nach rechtskräftigem Abschluss des für ihn negativ ausgegangenen Asylerstverfahrens (Urteil des Verwaltungsgerichts Stade vom 9. Dezember 1999 - 5 A 4519/98 -; den dagegen gerichteten Antrag auf Zulassung der Berufung wies der erkennende Senat durch Beschluss vom 18. Januar 2000 - 11 L 188/00 - zurück) vom 14. Juni 2000 bis zur Wiedereinreise nach Deutschland am 21. September 2003 in I. unter falschem Namen aufgehalten habe. Das Verwaltungsgericht hat diese Frage letztlich offen gelassen, weil es zu dem Ergebnis gelangt ist, dass dem Beigeladenen jedenfalls wegen eines asylerheblichen Nachfluchtgrundes (exponierte journalistische Tätigkeit für die Tageszeitung Özgür Politika) bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter und menschenrechtswidrige Behandlung drohe. Es hat aber in diesem Zusammenhang nicht ausgeschlossen, dass der Beigeladene sich während des fraglichen Zeitraums illegal im Bundesgebiet aufgehalten habe, wofür der erste auf seinen Namen ausgestellte Presseausweis vom 1. Mai 2001, der als Wohnsitz eine Adresse in Y. angebe, sprechen könnte. Der Prozessbevollmächtigte des Beigeladenen hatte zu dieser Unstimmigkeit bereits im Schriftsatz vom 13. Februar 2004 an das Bundesamt darauf hingewiesen, dass der Presseausweis durch die W. Presse- u. Verlags GmbH (X.), welche die Zeitschrift Özgür Politika herausgibt, ausgestellt worden sei, nachdem sich der Beigeladene bereits in der Türkei befunden habe. Der Ausweis sei dem Beigeladenen nicht persönlich ausgehändigt worden, sondern dem Büro des Prozessbevollmächtigten zusammen mit anderen Schreiben des Verlages später übersandt worden. Nachdem der Beigeladene wieder in Deutschland gewesen sei und sich mit der Zentralredaktion von Özgür Politika in Verbindung gesetzt habe, sei anschließend der Presseausweis vom 20. November 2003 ausgestellt worden, in dem als Wohnort des Beigeladenen in Deutschland "Z." angegeben sei. Auch der Beigeladene selbst hat in der mündlichen Verhandlung des Senats auf Befragen bestritten, jemals in Y. gelebt zu haben. Er habe während seines ersten Asylverfahrens im Raum AA. sowie in AB. und Umgebung gewohnt. Dass sich der Beigeladene in dem fraglichen Zeitraum tatsächlich in der Türkei aufgehalten haben dürfte, lässt sich auch aus einem Schreiben der Redakteurin U. V. vom 3. Februar 2004 (bei der angegebenen Jahreszahl 2002 handelt es sich um ein offensichtliches Schreibversehen) herleiten. Der Beigeladene habe unter dem Pseudonym "N. D." von Ende 2002 bis Mai 2003 an die Redaktion der Özgür Politika in X. Meldungen vor allem über kurdische Aktivitäten bzw. Protestaktionen in Istanbul per e-mail weitergeleitet; einige dieser - mit Überschrift zitierten - Meldungen seien auch in der Zeit vom 29. Januar bis zum 2. Mai 2003 in der Zeitung veröffentlicht worden. Der Geschäftsführer der W. Presse und Verlags GmbH hat mit Schreiben vom 3. Februar 2004 bestätigt, dass Frau V. von August 1999 bis Ende 2001 als freie Journalistin und ab 1. Januar 2002 als Journalistin/Redakteurin bei der Tageszeitung Özgür Politika beschäftigt sei. Angesichts dessen hält es der Senat - ebenso wie zuvor die Einzelentscheiderin des Bundesamtes - für glaubhaft, dass sich der Beigeladene nach Abschluss seines Asylerstverfahrens vorübergehend in der Türkei aufgehalten hat.

Ob die Angaben des Beigeladenen zu seinen weiteren politischen Aktivitäten in der Türkei den Tatsachen entsprechen, lässt der Senat dagegen offen. Das Gleiche gilt für die Frage, ob ihm möglicherweise deshalb politische Verfolgung in der Türkei drohte, weil er mit den kurdischen Sängern Sexo und Ahmet Aslan Interviews geführt hat, über die im April und September 2003 von ihm verfasste Artikel in der Özgür Politika unter Nennung seines richtigen Namens erschienen sind. Denn es ist entscheidend darauf abzustellen, dass der Beigeladene seine journalistische Tätigkeit für Özgür Politika, die von den türkischen Behörden als Sprachrohr der PKK angesehen wird, in Deutschland fortgesetzt hat. Er verfasst regelmäßig unter seinem Namen erscheinende Artikel, deren Inhalt aus der maßgeblichen Sicht des türkischen Staates geeignet ist, zur Verbreitung separatistischen Gedankenguts beitragen. Er steht damit auch im Verdacht, sich nach türkischem Recht strafbar gemacht zu haben. Aufgrund dieses exponierten prokurdischen Engagements des Beigeladenen und vor dem Hintergrund der Zuspitzung des Kurdenkonflikts ist trotz des Reformprozesses in der Türkei davon auszugehen, dass die türkischen Sicherheitsbehörden ihn als gefährlichen politischen Gegner betrachten, den es zu bekämpfen gilt.

Dazu im Einzelnen:

Bei den Parlamentswahlen vom 3. November 2002 errang die konservative, gemäßigt islamische AKP (Gerechtigkeits- und Aufbaupartei) die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Ihr Vorsitzender Erdogan wurde Ministerpräsident. Der schon von der Vorgängerregierung eingeleitete Reformkurs wurde mit einer Vielzahl von Verfassungs- und Gesetzesänderungen fortgeführt mit dem Ziel, die Voraussetzungen für eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union gerade auch im Hinblick auf die Wahrung der Menschenrechte zu erfüllen. Insgesamt wurden seit Ende 2002 acht sog. Reformpakete verabschiedet. Die Kernpunkte sind: Abschaffung der Todesstrafe, Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des Nationalen Sicherheitsrates (Eindämmung des Einflusses des Militärs), Zulassung von Unterricht in anderen in der Türkei gesprochenen Sprachen als türkisch (de fakto kurdisch), die Benutzung dieser Sprachen in Rundfunk und Fernsehen, erleichterte Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelung zur Erschwerung von Parteiverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter. Am 1. Juni 2005 traten in Anlehnung an westeuropäische Standards u. a. ein neues Strafgesetzbuch, eine neue Strafprozessordnung sowie ein neues Strafvollzugsgesetz in Kraft. Am 3. Oktober 2005 kam es zu der Einigung der Türkei und der Europäischen Union über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen (vgl. zum Vorstehenden im Einzelnen Lagebericht des AA zur Türkei v. 11.11.2005, S. 6 f.).

Auch von Menschenrechtsorganisationen werden die Erfolge dieser Reformpolitik, die auf Demokratisierung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit setzt, grundsätzlich anerkannt. Allerdings wird die seit Anfang 2005 offenbar stagnierende Entwicklung in manchen Bereichen beklagt (vgl. etwa ai v. 31.7.2005, Länderkurzinfo Türkei; SZ v. 9.6.2006; Berliner Zeitung v. 13.4.2006; NZZ v. 2.3.2006). Die Umsetzung einiger Reformen geht langsamer als erwartet voran. Die Implementierungsdefizite werden u. a. darauf zurückgeführt, dass viele Entscheidungsträger in Verwaltung, Justiz und bei den türkischen Sicherheitskräften Skepsis und Misstrauen gegenüber der AKP-Regierung hegen und deshalb dieser Politik Widerstand entgegensetzen. Zwar ist die dominierende Stellung des Militärs zurückgedrängt worden. Es ist jedoch eine der mächtigsten Institutionen geblieben und versteht sich ebenso wie Jandarma und Polizei als Hüter kemalistischer Traditionen und Grundsätze, besonders der Einheit der Nation (vor allem gegen kurdischen Separatismus) und des Laizismus (gegen islamistische Tendenzen). Der erforderliche Mentalitätswandel hat somit noch nicht alle Teile der türkischen Sicherheitskräfte, der Verwaltung und Justiz vollständig erfasst (SZ v. 15.12.2005). Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den - wesentlich verbesserten - rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Die Bekämpfung von Folter und Misshandlungen sowie ihre lückenlose Strafverfolgung ist noch nicht in der Weise zum Erfolg gelangt, dass solche Fälle überhaupt nicht mehr vorkommen. Folter wird immer noch - wenn auch seltener als früher und vorwiegend mit anderen, weniger leicht nachweisbaren Methoden - praktiziert, ohne dass es dem türkischen Staat bisher gelungen ist, diese wirksam zu unterbinden (vgl. AA, Lagebericht v. 11.11.2005, S. 30 f.; ai, Stellungnahme v. 20.9.2005, Kaya, Gutachten v. 8.8.2005 und Oberdiek v. 2.8.2005, jew. an VG Sigmaringen; Taylan, Gutachten v. 17.3.2005 an VG Frankfurt/Oder; NZZ v. 9.9.2005; FAZ v. 20.8.2005; Die Welt v. 6.8.2005). Auch wenn sich insofern seit dem Jahre 2001 die Situation verbessert hat, meldeten für das Jahr 2004 der Türkische Menschenrechtsverein IHD 843 und die Türkische Menschenrechtsstiftung TIHV 922 angezeigte Fälle von Folter/Misshandlung. Nach einem Bericht des IHD sind im Jahr 2005 825 Fälle von Folter und Misshandlung gemeldet worden. In diesem Bericht wird ferner darauf hingewiesen, dass Folterer in der Türkei nur ausnahmsweise Strafen zu befürchten hätten; in 52 Verfahren wegen Folter und Misshandlung seien nur 6 Angeklagte verurteilt worden (vgl. NZZ v. 2.3.2006). Amnesty international (Jahresbericht 2006, Stichwort: Türkei, S. 465 f.) führt dies auf den fehlenden Willen von Justizorganen zurück, die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen strafrechtlich zu belangen. Auch das Auswärtige Amt (Lagebericht v. 11.11.2005, S. 31) sieht eine der Hauptursachen für das Fortbestehen von Folter und Misshandlung in der nicht effizienten Strafverfolgung. Für das laufende Jahr 2006 sind wieder zahlreiche Fälle von Folter und Misshandlung gemeldet worden (vgl. IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 1/2006, S. 7).

Ungünstig auf die innenpolitische Entwicklung wirkt sich auch das Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften im Südosten der Türkei aus. Die PKK verkündete am 1. Juni 2004 die Beendigung des seit 2000 währenden Waffenstillstandes. Vorausgegangen waren interne Auseinandersetzungen innerhalb der PKK, die sich mehrfach umbenannt hat (KADEK/KHG/ Kongra-Gel), aber inzwischen zu ihrer ursprünglichen Bezeichnung zurückgekehrt ist, bei denen die gemäßigten Kräfte unterlagen. In der Zeit von 1984 bis 1999 hatten die Kämpfe fast 35.000 Menschenleben unter PKK-Kämpfern, türkischen Sicherheitskräften und der Zivilbevölkerung gefordert. Danach beruhigte sich die Lage, was dazu führte, dass der in einigen Provinzen im Südosten seit 15 Jahren geltende Ausnahmezustand zum 30. November 2002 vollständig aufgehoben wurde. Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind. Die PKK-Kämpfer unterhalten Stützpunkte im Nordirak, von denen sie immer wieder in den Südosten der Türkei eindringen. Dabei kommt es nahezu täglich zu Zusammenstößen mit türkischen Sicherheitskräften, die auf beiden Seiten Todesopfer fordern. Allerdings erreichen die Kampfhandlungen bisher nicht die Intensität, mit der sie früher geführt worden waren. Auch die dort lebende Zivilbevölkerung bleibt von den Auswirkungen der bewaffneten Auseinandersetzungen nicht verschont. Dabei ist ein Anstieg von Übergriffen der Sicherheitskräfte auf kurdische Dorfbewohner zu verzeichnen, denen vorgeworfen wird, PKK-Kämpfer zu unterstützen (vgl. ai, Länderkurzinfo Türkei v. 31.7.2005; Kaya, Gutachten v. 8.8.2005, Oberdiek, Gutachten v. 2.8.2005 und Aydin, Gutachten v. 25.6.2005, jeweils an VG Sigmaringen; FR v. 12.7.2005; Die Welt v. 29.6.2005; SZ v. 26.6.2005; NZZ v. 24.6.2005). Türkischen Angaben zufolge kamen allein von Mitte 2004 bis Oktober 2005 über 100 türkische Soldaten, 37 Zivilisten und mehrere PKK-Kämpfer um (AA, Lagebericht v. 11.11.2005, S. 17). Nach einem Bericht der Zweigstelle Diyarbakir des IHD haben in den ersten vier Monaten des Jahres 2006 in den überwiegend kurdisch besiedelten Provinzen im Südosten der Türkei bei Gefechten und gewaltsamen Auseinandersetzungen 89 Personen, bei Angriffen unbekannter Täter und extralegalen Hinrichtungen 30 Personen und durch Minen und Sprengstoffexplosionen vier Personen ihr Leben verloren. Im gleichen Zeitraum seien 2015 Personen festgenommen und 884 Personen verhaftet worden (vgl. IMK-Menschenrechtsinformationsdienst, Nr. 1/2006, S. 7).

Im Jahr 2005 verübte die PKK erstmals seit langer Zeit wieder Anschläge auf touristische Ziele in der Türkei (SZ v. 20.9.2005), die auch im Jahr 2006 fortgesetzt wurden (FR v. 28.6.2006). Eine Verschärfung der Situation im Südosten der Türkei wurde durch ein Bombenattentat auf einen kurdischen Buchladen in der Kleinstadt Semdinli am 9. November 2005 ausgelöst. Anfangs war die PKK in Verdacht geraten, dieses Attentat verübt zu haben. Kurz darauf stellte sich aber heraus, dass die Täter zwei Unteroffiziere des Geheimdienstens der türkischen Gendarmerie (JITEM) und ein PKK-Überläufer waren, die den Anschlag der PKK anlasten wollten, um den Kurdenkonflikt zu verschärfen. Es wird vermutet, dass dies auf Veranlassung einer der Armee nahestehenden Organisation, die als "tiefer Staat" bezeichnet wird, erfolgt ist (NZZ und SZ v. 22.11.2005; IMK-Menschen­rechtsinformationsdienst Nr. 1/2006, S. 7 f.). Die beiden Geheimdienst-Unteroffiziere wurden im Juni 2006 zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt (Die Welt v. 21.6.2006; IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 2/2006, S. 4). Im Anschluss an dieses Bombenattentat kam es zu zahlreichen gewaltsamen Protesten der kurdischen Bevölkerung in der Region (Die Welt v. 17.11.2005, SZ v. 22.11.2005; FR v. 6.12.2005). Dass der Geheimdienst der türkischen Gendarmerie in dieses Attentat verwickelt war, ermöglichte es der PKK, die sich untereinander zerstritten und an Zustimmung unter der kurdischen Bevölkerung verloren hatte, einen Teil ihres Einflusses zurück zu gewinnen (NZZ v. 6.5.2006 u. v. 15.2.2006; SZ v. 10.4.2006; FAZ v. 4.6.2006).

Ein vorläufiger Höhepunkt der jüngsten Spannungen wurde Ende März 2006 erreicht, als in Diyabarkir und anderen Orten im Südosten bei Zusammenstößen zwischen kurdischen Demonstranten aus dem Umfeld der PKK und staatlichen Sicherheitskräften mindestens 15 Todesopfer und mehrere hundert Verletzte zu beklagen waren (SZ v. 4.4.2006; FAZ v. 31.3.2006). Die Unruhen weiteten sich auf Städte im Westen der Türkei aus. In der Folgezeit nahm auch die Zahl der von der PKK bzw. ihres Ablegers "Freiheitsfalken Kurdistans" verübten Anschläge zu. Es wird vermutet, dass für die Eskalation der Auseinandersetzungen der PKK-Vorsitzende Öcalan, der sich seit 1999 in Haft befindet, aber trotzdem weiterhin maßgeblichen Einfluss in der PKK ausübt, eine Mitverantwortung trägt (FAZ v. 5.4.2006). Die Armee hat ihre Verbände im Südosten verstärkt; nach offiziellen Angaben sollen dort inzwischen mehr als 250.000 Soldaten - ein Drittel der gesamten Streitkräfte - stationiert sein (NZZ v. 6.5.2006). Dies dürfte ein Zeichen dafür sein, dass der Kurdenkonflikt aus Sicht des Militärs vorrangig mit militärischen Mitteln gelöst werden soll.

Was den Minderheitenschutz und die Ausübung der kulturellen Rechte betrifft, hat sich die Situation der Kurden im Zuge der EU-Bewerbung der Türkei verbessert. Ihnen war es lange nicht erlaubt, ihre Muttersprache in der Öffentlichkeit zu benutzen. Seit April 2004 werden Kurdisch-Kurse an privaten Lehrinstituten angeboten; mittlerweile finden diese Kurse in vielen Großstädten statt. Kurdisch ist indes weder als zweite offizielle Sprache der Republik anerkannt noch darf kurdisch in den öffentlichen Schulen unterrichtet werden (NZZ v. 24.3.2006). Allmählich wurde auch das Verbot, Radio- und Fernsehprogramme in kurdischer Sprache auszustrahlen, gelockert. So dürfen zwei in Diyarbakir stationierte Fernsehsender ihre Programme an 5 Wochentagen maximal 45 Minuten lang auf kurdisch senden; es besteht jedoch eine Verpflichtung zur Einblendung von türkischsprachigen Untertiteln (NZZ v. 24.3.2006; SZ v. 22.3.2006; IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 1/2006, S. 10). Ein kurdischer Radiosender darf Programme bis insgesamt 5 Stunden in der Woche ausstrahlen.

Allerdings haben sich die Hoffnungen der kurdischen Minderheit im Südosten der Türkei auf Verbesserung ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lage weitgehend nicht erfüllt. Zwar sprach Ministerpräsident Erdogan bei einem Besuch in Diyarbakir im August 2005 als erster türkischer Regierungschef überhaupt von einem Kurdenproblem in der Türkei und dass der Staat in dieser Frage Fehler gemacht habe; seine Regierung werde die Defizite der Vergangenheit mit "mehr Demokratie, mehr Freiheiten und Wohlstand, mehr Rechte und Gerechtigkeit kompensieren" (NZZ v. 20.8.2005; FAZ v. 25.8.2005; Die Welt v. 6.9.2005; SZ v. 22.11.2005). Diese Versprechungen sind aber nicht annähernd in die Tat umgesetzt worden. Die wirtschaftliche Lage in den überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten im Südosten der Türkei, die Jahrzehnte lang von den jeweiligen Regierungen vernachlässigt worden sind, ist weiterhin desolat. Das Pro-Kopf-Einkommen beläuft sich gerade einmal auf ein Fünftel des türkischen Durchschnitts, die Arbeitslosigkeit beträgt vielerorts 60 % bis 70 % (NZZ v. 6.5. und v. 15.2.2006; SZ v. 4.4. und v. 22.3.2006). Die türkische Regierung verweigert Gespräche mit der im August 2004 gegründeten prokurdischen "Partei für eine demokratische Gesellschaft" (DTP), die einen Großteil der Bürgermeister im Südosten stellt. Ihr wird vorgeworfen, dass sie sich nicht genügend von der PKK distanziere (SZ v. 10.4.2006). Gegen 56 kurdische Bürgermeister wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil sie sich im Dezember 2005 schriftlich an die dänische Regierung mit der Bitte gewandt hatten, dem Drängen der türkischen Regierung zu widerstehen, den in Dänemark ansässigen Fernsehsender ROJ-TV zu schließen, der während mehrerer Stunden am Tag Sendungen in kurdischer Sprache ausstrahlt (NZZ v. 4.1.2006; IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 2/2006, S. 1 f.). Die Türkei beschuldigt ROJ-TV, das Sprachrohr der PKK zu sein. Die Bürgermeister wurden wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung (Art. 220 tStGB) angeklagt. Ende März/Anfang April 2006 wurden ca. 50 Mitglieder der DTP wegen mutmaßlicher Verbindungen zu PKK festgenommen (Die Welt v. 21.4.2006; SZ v. 4.4.2006).

Es hat insgesamt den Anschein, als ob sich die türkische Regierung in der Defensive gegenüber nationalistischen Kräften und Teilen des Militärs befindet. Diesen Gruppen ist die Annäherung der AKP-Regierung an die Europäische Union, die forcierte Privatisierung von Staatsbetrieben, die Einschränkung der Macht der Streitkräfte und die auf eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts zielende Politik suspekt (SZ v. 3.6.2006 und v. 22.11.2005; NZZ v. 20.8.2005; FAZ v. 25. 8. 2005). Mit der Zuspitzung der Lage im Südosten der Türkei wurde der Ruf insbesondere von Seiten der Militärführung nach schärferen Gesetzen und härterem Vorgehen gegen die PKK-Guerilla und deren Sympathisanten immer lauter. Die türkische Regierung geriet zunehmend unter Druck, der durch einen Vorfall am 17. Mai 2006 in Ankara noch verstärkt wurde. An diesem Tag wurden durch Schüsse eines Rechtsanwalts im Obersten türkischen Verwaltungsgericht ein Richter getötet und 4 weitere verletzt. Der Täter gab als Motiv die Weigerung des Verwaltungsgerichts an, das Kopftuchverbot in staatlichen Institutionen aufzuheben (NZZ v. 19.5.2006). Er soll der rechtsgerichteten Szene in der Türkei angehören, in der sich nationalistische und religiöse Ideen miteinander verbinden (IMK-Menschenrechtsinformationsdienst 1/2006, S. 5 f.). Mehr als 10.000 Bürger nahmen die Beisetzung des ermordeten Richters in Ankara zum Anlass, um gegen die islamistische Gefahr zu demonstrieren (NZZ v. 19.5.2006). Teile des Militärs, der Justiz und der Bürokratie machen die AKP-Regierung für das Attentat moralisch mit verantwortlich. Sie werfen dem Ministerpräsidenten Ergodan vor, er habe seine Wandlung vom radikalen Islamisten zum bürgerlichen Demokraten nur vorgetäuscht; in Wirklichkeit strebe er einen islamischen Gottesstaat an. Dadurch, dass die AKP seit ihrem Wahlsieg die Lockerung des Kopftuchverbots verspreche, habe sie den Attentäter ermuntert. Demgegenüber nehmen Vertreter der Regierung und Teile der Medien an, dass Gegner Erdogans hinter dem Attentat stehen, um die Regierung in Schwierigkeiten zu bringen. In der Presse wird von der schärfsten Konfrontation zwischen Militärs und Politikern seit dem von der Armee erzwungenen Ende der islamistischen Regierung unter Erbakan im Jahr 1997 gesprochen (vgl. zum Vorstehenden IMK-Menschen­rechtsinformationsdienst Nr. 1/2006, S. 5 f.).

Als Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei und als Konzession an die Armeeführung verschärfte das türkische Parlament am 29. Juni 2006 das Anti-Terror-Gesetz (NZZ v. 1.7., v. 6.5. und v. 20.4.2006; SZ v. 28.6.2006; IMK-Menschen­rechtsinformationsdienst Nr. 2/2006, S. 7). Die Änderungen sehen u. a. eine Wiedereinführung des früheren Art. 8 ATG ("Strafbarkeit von separatistischer Propaganda"), eine weit formulierte Terror-Definition, eine Ausweitung von Straftatbeständen, die Schwächung der Rechte von Verhafteten und eine Erweitung der Befugnisse der Sicherheitskräfte vor. Das Anti-Terror-Gesetz in seiner novellierten Form wird von Kritikern als "Rücknahme demokratischer" Reformen bezeichnet; auch bei der Europäischen Union werden diese Änderungen mit Sorge betrachtet (NZZ v. 1.7.2006; SZ v. 28.6.2006; Die Welt v. 21.4.2006).

Da die neu gefassten Vorschriften des Anti-Terror-Gesetzes über das bisherige Recht hinausgehende Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit enthalten, besteht die Gefahr, dass sich die bereits vorher zu beobachtende Tendenz der Kriminalisierung von unbequemen Meinungsäußerungen verstärken wird. Insbesondere wird die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die Kritik am türkischen Militär üben oder Verständnis bzw. Sympathie für die kurdische Sache äußern, künftig erleichtert (vgl. SZ v. 28.6.2006; IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 2/2006, S. 5 u. 7; Nützliche Nachrichten 6/2006, S. 4 f.).

Schon das zum 1. Juni 2005 in Kraft getretene neue türkische Strafgesetzbuch hat der allgemeinen Meinungsfreiheit enge Grenzen gesetzt. Als äußerst problematisch hat sich Art. 301 tStGB n.F. erwiesen, der die "Erniedrigung des Türkentums, der Republik sowie der staatlichen Organe und Einrichtungen" unter Strafe stellt. Das Strafmaß von sechs Monaten bis drei Jahren Freiheitsstrafe erhöht sich für einen türkischen Bürger, der im Ausland das Türkentum erniedrigt, sogar um ein Drittel (Art. 301 Abs. 3). Allerdings erfüllen Meinungsäußerungen, die das Ziel haben, Kritik zu üben, nicht den Tatbestand des Art. 301 (vgl. Abs. 4). In der Praxis ist die Grenzziehung aber schwierig, zumal Staatsanwaltschaft und Gerichte bei Meinungsäußerungen, welche insbesondere als Separatismus gedeutet werden können, das Gesetz zu Lasten der Betroffenen häufig weit ausgelegt haben (vgl. AA, Lagebericht v. 11.11.2005, S. 11; ai, Jahresbericht 2006, Stichwort Türkei, S. 464 f. und Länderkurzinfo Türkei v. 31.7.2005). Beispielsweise wurde der türkische Schriftsteller Pamuk nach dieser Vorschrift angeklagt, weil er in einem Interview gesagt hatte, in der Türkei seien 30.000 Kurden und eine Million Armenier getötet worden (SZ. v. 15.12.2005; Spiegel online v. 15.12.2005). Das - inzwischen eingestellte - Verfahren ist Teil einer Prozesswelle gegen Verleger, Schriftsteller, Journalisten und Intellektuelle, die vor allem auf Anzeigen einer nationalistischen Juristenvereinigung zurückgeht (Küper, in: ai-Journal Februar 2006; NZZ v. 30.12.2005). Zwei türkischen Proffessoren, die im Auftrag der Regierung einen Bericht über Minderheiten in der Türkei verfasst und eine politische Neuorientierung in Richtung eines pluralistischen und multikulturellen Modells angeregt hatten, wurde nicht nur ein Verstoß gegen Art. 301 tStGB n.F. zur Last gelegt, sondern sie wurden auch angeklagt, das "Volk zur Feindseligkeit und ethnischem Hass angestachelt" (Art. 216 tStGB n.F.) zu haben (NZZ v. 16.2.2006). Die Staatsanwaltschaft hatte zu Beginn des Prozesses im Februar 2006 Haftstrafen von bis zu fünf Jahren beantragt. Die beiden Professoren wurden jedoch freigesprochen bzw. wurde das Gerichtsverfahren eingestellt (IMK-Menschenrechtsinformationsdienst, Nr. 1/2006, S. 2). Ein Journalist wurde im Mai 2006 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung wegen des Verstoßes gegen Art. 216 tStGB n.F. verurteilt, weil er in einem Zeitungsartikel mit der Überschrift "Es gibt keine Anstrengung und kein Ehrgefühl mehr" die Bevölkerung zu Hass und Feindschaft aufgestachelt haben soll (IMK-Menschenrechtsinformationsdienst, Nr. 1/2006, S. 2).

Weitere problematische Strafvorschriften sind die Art. 305 und 318 tStGB n.F.. Während Art. 305 tStGB n.F. Vergehen gegen die nationalen Grundinteressen unter Strafe stellt, sieht Art. 318 tStGB n.F. für den Straftatbestand der "Entfremdung des Volkes vom Militärdienst" Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren vor. Wegen Verstoßes gegen die letztgenannte Vorschrift wurde die Rechtsanwältin und Menschenrechtlerin Erin Keskin im März 2006 zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten oder ersatzweise etwa 4.500,-- EURO verurteilt, weil sie bei einer Veranstaltung in Deutschland über "vom Staat ausgehende sexuelle Gewalt" gesprochen und in diesem Zusammenhang auf Vergewaltigungen durch Armeeangehörige hingewiesen hatte (taz v. 25.3.2006). Dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt, zeigen weitere Strafverfahren. So wurde der Journalist Birgl Özbares wegen mehrerer Berichte in der Zeitung Özgür Gündem über das in der Türkei nicht bestehende Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes ebenfalls nach Art. 318 tStGB n.F. angeklagt (IMK-Menschenrechtsinformationsdienst, Nr. 1/2006, S. 3; Nützliche Nachrichten 6/2006, S. 2). Das Gleiche passierte der Schriftstellerin Perihan Magden, die sich in der Zeitschrift Yeni Aktuel für einen jungen Türken, der den Wehrdienst aus Gewissengründen verweigert, eingesetzt hatte (SZ v. 9.6.2006). Auch wenn die Verurteilungen bei Meinungsdelikten nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes gegenüber früher zurückgegangen sein sollen (Lagebericht v. 11.11.2005, S. 11), ist deshalb nach wie vor festzustellen, dass auch Personen allein deshalb strafrechtlich verfolgt werden, weil sie zu in der Öffentlichkeit umstrittenen Themen Stellung nehmen. Dieses Risiko besteht vor allem in den Fällen, in denen der Einsatz für kurdische Interessen aus Sicht der türkischen Behörden Ausdruck separatistischen Gedankengutes ist, selbst wenn damit kein Aufruf zur Gewaltanwendung verbunden ist.

Darüber hinaus können Angeklagte in der Türkei, die eines politischen Delikts beschuldigt werden, nach einem Gutachten von Oberdiek vom 17. Januar 2006, das für amnesty international, die Stiftung Pro Asyl und die Holtfort-Stiftung erstellt worden ist, auch weiterhin nicht mit einem fairen Strafverfahren rechnen. Die Studie basiert auf umfangreichen Recherchen des Autors an verschiedenen Orten in der Türkei. Er hat 18 Fälle untersucht, die zwischen Juni 1999 und Juni 2004 verhandelt worden waren. Dabei gelangt er zu der Einschätzung, dass die Art und Weise der Strafverfolgung von aktiven Mitgliedern der PKK oder auch nur solchen, die in den Verdacht der Mitgliedschaft bzw. ihrer Unterstützung geraten waren, erhebliche rechtsstaatliche Bedenken aufwies. Bei 12 von 18 Fällen sei er auf ernsthafte Folterhinweise gestoßen. Gleichwohl seien die unter Folter erzwungenen Aussagen von den Gerichten verwendet worden. Die politischen und strafrechtlichen Reformen der vergangenen Jahre hätten bei den von ihm untersuchten Fällen keine hinreichende Anwendung gefunden.

Vor diesem Hintergrund ist nach Auffassung des Senats mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass der Beigeladene bei einer Rückkehr in die Türkei entweder bereits im Verlauf der Einreisekontrolle oder spätestens in dem zu erwartenden Strafverfahren politischer Verfolgung ausgesetzt sein wird. Es ist davon auszugehen, dass er aufgrund der von ihm in der Tageszeitung Özgür Politika (heute "Yeni Özgür Politika") veröffentlichten Artikel bei den staatlichen Behörden im Verdacht steht, sich nach türkischem Recht strafbar gemacht zu haben.

Die Tageszeitung Özgür Politika darf seit Ende 1996 nicht mehr in die Türkei eingeführt werden. Sie steht der PKK politisch nahe und wird von den türkischen Sicherheitskräften als Sprachrohr der PKK angesehen (vgl. Kaya, Gutachten v. 10.9.2005 an VG Magdeburg u. v. 28.8.1999 an VG Kassel; Rumpf, Gutachten v. 15.7.2002 an OVG NRW, Oberdiek, Gutachten v. 28.5.2001 an VG Sigmaringen). Es ist bekannt, dass die türkischen Sicherheitskräfte, insbesondere der Nationale Nachrichtendienst (MIT), regelmäßig und gezielt die Berichterstattung der prokurdischen Presse im Ausland verfolgen und auswerten (vgl. statt aller OVG NRW, Urt. v. 19.4.2005 - 8 A 273/04.A -, S. 83 f. m. Nachw.). Angesichts dessen wird den türkischen Sicherheitsbehörden die journalistische Tätigkeit des Beigeladenen für Özgür Politika bekannt sein. Er hat nachgewiesen, dass er seit Ende 1998 als freier Mitarbeiter für diese Zeitung arbeitet. Während ursprünglich die von ihm verfassten Artikel unter dem Pseudonym "N. D." veröffentlicht worden waren, so dass eine Identifizierung schwierig gewesen sein dürfte, erscheinen seit April 2003 (beginnend mit einer Reportage über den kurdischen Sänger Sexo) seine Beiträge unter seinem richtigen Namen. Seit seiner Rückkehr nach Deutschland hat er seine journalistische Tätigkeit für die Özgür Politika intensiviert und verfasst regelmäßig Zeitungsartikel, die nicht nur über kurdische Aktivitäten in Deutschland berichten, sondern auch zu den Zuständen in der Türkei kritisch Stellung nehmen. Dies ergibt sich aus den entsprechenden Ausgaben der Özgür Politika, die der Beigeladene im gerichtlichen Verfahren vorgelegt hat. Der Senat hat einige der vom Beigeladenen verfassten Artikel in der mündlichen Verhandlung durch den Dolmetscher auszugsweise übersetzen lassen. Danach hat der Beigeladene beispielsweise in der Ausgabe der Özgür Politika vom 16. März 2004 einen Bericht über eine "kurdische Volksversammlung" in Hannover geschrieben, in dem es um "nationale Rechte" und die "nationale Haltung des kurdischen Volkes" geht. In den Ausgaben der Özgür Poltika vom 21./22. Juni 2006 hat der Beigeladene eine Fortsetzungsreportage zum "schmutzigen Krieg" im Südosten der Türkei veröffentlicht und darin auch die Themen "Militarismus in der Türkei" und Kriegsdienstverweigerung angesprochen. Auf Befragen erklärte der Beigeladene, dass von ihm etwa durchschnittlich fünfmal im Monat Artikel in der Özgür Politika erscheinen würden. Er sei aber kein fest angestellter Redakteur, sondern arbeite freiwillig für die Zeitung und erhalte lediglich eine Aufwandsentschädigung. Der Beigeladene hat sich also mit zahlreichen Artikeln in der PKK-nahen Tageszeitung Özgür Politika öffentlichkeitswirksam über einen längeren Zeitraum für die kulturellen und politischen Interessen der kurdischen Minderheit in der Türkei eingesetzt hat und bei dieser Gelegenheit auch Kritik an dem Verhalten des türkischen Staates, insbesondere an den Streitkräften, geübt. Aufgrund dieser Äußerungen kann eine Strafverfolgung des Beigeladenen wegen Verstoßes gegen die Art. 301 ("Erniedrigung des Türkentums, der Republik sowie der staatlichen Organe und Einrichtungen"), 302 ("Zerstören der Einheit und Integrität des Staates"), 305 ("Vergehen gegen die nationalen Grundinteressen") und 318 ("Entfremdung des Volkes vom Militär") tStGB n.F. in Betracht kommen. Da die türkischen Sicherheitskräfte die Tageszeitung Özgür Politika als Sprachrohr der PKK ansehen, könnte zusätzlich der Tatbestand der "Propaganda für eine Organisation, die gegründet wurde, um Straftaten zu begehen" vorliegen, die nach Art. 220 Abs. 8 tStGB n.F. mit einem Strafmaß von 5 bis 10 Jahren bedroht ist (vgl. dazu AA, Auskunft v. 5.9.2005 an VG Magdeburg). Möglicherweise könnte sich zu Lasten des Beigeladenen auch die Verschärfung des Anti-Terror-Gesetzes auswirken. Bei dieser Sachlage ist davon auszugehen, dass die türkischen Sicherheitskräfte ihn als ernst zu nehmenden politischen Gegner ansehen und ein erhebliches Interesse daran haben, seiner habhaft zu werden. Bei einer Rückkehr in die Türkei muss er deshalb nach Auffassung des Senats nicht nur damit rechnen, wegen seiner Tätigkeit für Özgür Politika politisch motivierter Strafverfolgung, sondern auch anderen asylerheblichen Maßnahmen ausgesetzt zu sein.

Der Senat hat bisher in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte die Auffassung vertreten, dass in die Türkei zurückkehrende erfolglose Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit nur dann einem beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsrisiko ausgesetzt seien, wenn sie sich in auffälliger Weise, insbesondere in oder für von türkischer Seite als militant staatsfeindlich angesehenen Organisationen, im Ausland exponiert betätigt hätten; dagegen bestünde keine besondere Rückkehrgefährdung, wenn sie lediglich einfache (sog. niedrig profilierte) exilpolitische Aktivitäten entfaltet hätten. Daran ist auch unter Berücksichtigung der neueren innenpolitischen Entwicklung in der Türkei grundsätzlich festzuhalten. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. November 2005 (S. 27). Darin wird ausgeführt, nur türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig seien und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht hätten, liefen Gefahr, dass sich die türkischen Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassten, wenn sie in die Türkei einreisten. Es sei davon auszugehen, dass sich eine mögliche strafrechtliche Verfolgung durch den türkischen Staat insbesondere auf Personen beziehe, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen würden. Die türkischen Strafverfolgungsbehörden hätten in der Regel nur ein Interesse an der Verfolgung im Ausland begangener Gewalttaten bzw. ihrer konkreten Unterstützung. Dazu gehöre auch die Mitgliedschaft in der PKK. Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 21. November 2005 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof ergänzend mitgeteilt, dass bekannt gewordene oder vermutete Verbindungen zur PKK bei der Einreise zur vorübergehenden Ingewahrsamnahme, zum Verhör durch die Grenzpolizei und gegebenenfalls durch die Terrorabteilung der Polizei führten.

Auch Kaya (Gutachten v. 10.12.2005 an Hess. VGH) weist darauf hin, dass eine in die Türkei zurückkehrende oder dorthin abgeschobene Person, die unter dem Vorwurf stehe, Anhänger der PKK bzw. von KONGRA-GEL zu sein oder diese unterstützt zu haben, festgenommen und von Mitarbeitern oder Beamten der Abteilung zur Bekämpfung des Terrors verhört werden würde. Es sei möglich, dass Druck ausgeübt werde, um sie zu Aussagen zu zwingen. Auch wenn Folter und menschenunwürdige Behandlung aufgrund der neuen Rechtslage zurückgegangen seien, komme es - insbesondere im Südosten der Türkei - weiterhin vor, dass im Zusammenhang mit dem Verdacht der Unterstützung der PKK/ KONGRA-GEL bei Verhören psychischer und physischer Druck ausgeübt werde. Dies hält Kaya auch im Falle der Rückkehr einer derart verdächtigen Person in die Türkei für möglich (so bereits Gutachten v. 10.9.2005 an VG Magdeburg u. v. 8.8.2005 an VG Sigmaringen). Ebenso geht amnesty international im Falle von Personen, die von den türkischen Behörden verdächtigt werden, Mitglieder militanter politischer Organisationen zu sein, nach wie vor von einer erheblichen Foltergefahr aus, vor allem, wenn bei ihnen Kenntnisse über Organisationsstrukturen im Ausland oder in der Türkei vermutet werden (Länderkurzinfo Türkei v. 31.7.2005).

Dieser Risikobewertung kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (Lagebericht v. 11.11.2005, S. 36 f.) seit fast vier Jahren kein einziger Fall mehr bekannt geworden sei, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden sei und in den letzten beiden Jahren kein Fall an das Auswärtige Amt zur Überprüfung mit der Behauptung herangetragen worden sei, dass ein abgelehnter Asylbewerber nach Rückkehr misshandelt worden sei. Zwar werden diese Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes von anderen Beobachtern nicht generell in Zweifel gezogen. amnesty international (Länderkurzinfo Türkei v. 31.7.2005) ist in diesem Zusammenhang lediglich der Fall eines Kurden bekannt geworden, der nach seiner Abschiebung im August 2004 drei Nächte lang in der Anti-Terror-Abteilung der Polizei in Istanbul gefoltert und anschließend für drei Monate (bis zur ersten Gerichtsverhandlung) wegen des Vorwurfs der Beteiligung an einem Anschlag der PKK inhaftiert worden sei, obwohl er in der gleichen Sache vor seiner Flucht nach Deutschland vom Gericht freigesprochen worden sei. Amnesty international geht deshalb im Falle von Personen, die von den türkischen Behörden verdächtigt werden, Mitglieder militanter politischer Organisationen zu sein, nach wie vor von einer erheblichen Foltergefahr aus (so auch Stellungnahme v. 20.9.2005 an VG Sigmaringen). Auch Kaya vertritt in seinem Gutachten vom 8. August 2005 an das VG Sigmaringen die Einschätzung, dass vorverfolgt ausgereiste Personen bei Rückkehr in die Türkei vor Verfolgung weiterhin nicht hinreichend sicher seien. Die Feststellung des Auswärtigen Amtes, dass in den letzten Jahren kein einziger Fall bekannt geworden sei, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter oder abgeschobener abgelehnter Asylbewerber gefoltert oder misshandelt worden sei, sei zwar zutreffend; unter den Zurückgekehrten oder Abgeschobenen habe sich nach seinen Informationen aber keine Person befunden, die Mitglied oder Kader der PKK oder einer anderen illegalen, bewaffneten Organisation gewesen sei oder als solche verdächtigt worden sei.

Dass diese Vermutung von Kaya naheliegend ist, folgt nach Auffassung des Senats auch daraus, dass derartige Personen in der Vergangenheit nach der insoweit einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland entweder als Asylberechtigte anerkannt worden sind oder ihnen zumindest Abschiebungsschutz gewährt worden ist. Aus dem Fehlen von Referenzfällen kann deshalb keineswegs der Schluss gezogen werden, dass nunmehr alle in die Türkei zurückkehrenden abgelehnten Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit unabhängig von den Umständen und Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls vor politischer Verfolgung sicher seien. Dies deckt sich auch mit der aktuellen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.5.2006 - 10 B 5.05 -; OVG Bremen, Urt. v. 22.3.2006 - 2 A 303/04.A -; OVG Rhl.-Pf., Urt. v. 10.3.2006 - 10 A 10665/05.OVG -; Hess.VGH, Urt. v. 18.1.2006 - 6 UE 489/04 -; OVG des Saarlandes, Urt. v. 28.9.2005 - 2 R 2/05 -; OVG NRW, Urt. v. 19.4.2005 - 8 A 273/04.A -), wobei allerdings teilweise unterschiedliche Anforderungen an die Annahme einer Rückkehrgefährdung bei exilpolitischen Aktivitäten gestellt werden. Einigkeit besteht aber weiterhin darin, dass niedrig profilierte Aktivitäten noch weniger als früher ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko begründen können. Dazu gehören bei kurdischen Asylbewerbern etwa die Teilnahme - auch als Ordner oder Fahnenträger - an Demonstrationen und ähnlichen Veranstaltungen einschließlich der Verteilung von Flugblättern, des Verkaufs von Zeitschriften und der Betreuung von Informationsständen oder die einfache Mitgliedschaft in Exilvereinen. Hierunter fällt auch die bewusste Platzierung von namentlich gekennzeichneten Artikeln, Leserbriefen und Anzeigen in türkischsprachigen Publikationen. Etwas anderes gilt aber dann, wenn der Verfasser als journalistischer Mitarbeiter einer PKK-nahen Zeitung über einen längeren Zeitraum die Kurdenpolitik des türkischen Staates in deutlicher Weise kritisiert und damit Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung nimmt (vgl. OVG NRW, Urt. v. 19.4.2005 - 8 A 273/04.A -, S. 93). Denn derartige Äußerungen können aus Sicht der türkischen Sicherheitsbehörden eine Unterstützung einer illegalen Organisation darstellen.

Auch stimmt die angeführte obergerichtliche Rechtsprechung weiter dahingehend überein, dass nur öffentlichkeitswirksame und exponierte exilpolitische Tätigkeiten eine besondere Rückkehrgefährdung auslösen können. Anders verhält es sich dagegen bei der Frage, ob diese Aktivitäten auch nach türkischem Recht mit Strafe bedroht sein müssen. Während das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, der Hessische Verwaltungsgerichtshof, das Oberverwaltungsgericht Bremen und das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg dies grundsätzlich verlangen, stellen das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz und das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes darauf nicht maßgeblich ab, sondern berücksichtigen dies allenfalls als bestätigendes Argument für das Vorliegen einer Rückkehrgefährdung. Diese unterschiedliche Sichtweise wirkt sich im vorliegenden Fall aber nicht aus, weil sich der Beigeladene - wie im Einzelnen ausgeführt - durch seine journalistische Tätigkeit für die Özgür Politika auch strafbar gemacht haben könnte. Letztlich hängt die Entscheidung der Frage, ob ein rückkehrender kurdischer Asylbewerber einem beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsrisiko ausgesetzt ist, ohnehin von einer Gesamtwürdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls ab, insbesondere von dem inhaltlichen oder politischen Gewicht der im Ausland entfalteten Aktivitäten und dem daraus abzuleitenden Interesse der türkischen Sicherheitskräfte an seiner Person.

Da die türkischen Sicherheitsbehörden aus den oben genannten Gründen an der Ergreifung des Beigeladenen ein starkes Interesse haben dürften, besteht die ernsthafte Gefahr, dass er bereits im Rahmen der Einreisekontrolle festgenommen und asylerheblichen Misshandlungen ausgesetzt wird. Nach den Erkenntnissen des Senats (vgl. AA, Lagebericht v. 11.11.2005, S. 36 f. und Auskunft v. 21.11.2005 an Hess.VGH; Kaya, Gutachten v. 10.12.2005 an Hess.VGH u. v. 8.8.2005 an VG Sigmaringen) hat sich ein bei der Einreise in die Türkei als erfolgloser Asylbewerber identifizierter Rückkehrer einer intensiven Überprüfung zu unterziehen. Dabei erfolgt regelmäßig eine genaue Personalienfeststellung und ein Abgleich mit dem Fahndungsregister nach strafrechtlich relevanten Umständen. Gegebenenfalls werden auch Nachforschungen bei den Heimatbehörden angestellt. Sollte sich bei dieser Überprüfung herausstellen, dass gegen den Betreffenden ein Separatismus- oder Terrorismusverdacht besteht, kann es nicht nur zu einer Überstellung an die Anti-Terror-Abteilung der Polizei, sondern dort auch zu einem verschärften Verhör verbunden mit menschenrechtswidriger Behandlung kommen. Diese Gefahr besteht gerade auch im Hinblick auf den Beigeladenen, der aufgrund der von den Sicherheitsbehörden möglicherweise vermuteten Verbindungen zur PKK und durch seine Zeitungsartikel im Verdacht steht, die Einheit des türkischen Staates zu gefährden. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund der andauernden bewaffneten Auseinandersetzungen im Südosten der Türkei, der Zunahme von Attentaten durch die PKK in anderen Landesteilen und des Widerstandes von Teilen der Sicherheitskräfte und der Justiz gegen den Reformprozess in der Türkei.

Aber selbst wenn der Beigeladene im Zusammenhang mit der Einreise in die Türkei keine asylrelevanten Repressalien erleiden sollte, muss befürchtet werden, dass er im Vorfeld des ihm drohenden Strafverfahrens menschenrechtswidrigen Maßnahmen ausgesetzt sein wird bzw. ihn im Falle einer Anklageerhebung kein fairer Prozess erwartet. Es erscheint auch denkbar, dass er bei einer Verurteilung mit einer überhöhten Strafe wegen seiner prokurdischen Äußerungen im Sinne eines Politmalus rechnen müsste. Denn wie Oberdiek in dem bereits zitierten Gutachten vom 17. Januar 2006 im Einzelnen dargelegt hat, ist die Rechtsstaatlichkeit von politischen Strafverfahren in der Türkei auch nach den Reformen der letzten Jahre nicht hinreichend gewährleistet.

Dem Beigeladenen ist die Berufung auf die im Folgeverfahren geltend gemachten subjektiven Nachfluchtgründe nicht durch die mit Wirkung vom 1. Januar 2005 eingeführte Vorschrift des § 28 Abs. 2 AsylVfG verwehrt. Danach soll dann, wenn nach Abschluss des Asylerstverfahrens vom Asylbewerber aus eigenem Entschluss geschaffene Verfolgungsgründe mangels Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht in der Regel nicht zur Anerkennung als Asylberechtigter führen können, auch die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG - der Regel entsprechend - ausgeschlossen sein. Damit soll nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 15/420, S. 110) der Anreiz genommen werden, nach unverfolgter Ausreise und abgeschlossenem Asylverfahren aufgrund neu geschaffener Nachfluchtgründe ein Asylverfahren zu betreiben, um zu einem dauerhaften Aufenthalt im Bundesgebiet zu gelangen. Ebenso wie bei der Asylanerkennung besteht aber auch für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG in Anknüpfung an die Regelung in § 28 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG eine Ausnahme, wenn die Nachfluchtaktivitäten sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthalts im Herkunftsland vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung darstellen (vgl. OVG NRW, Urt. v. 12.7.2005 - 8 A 780/04.A -, InfAuslR 2005, 489; OVG Rhl.-Pf., Beschl. v. 5.1.2006 - 6 A 10761/05 -, AuAS 2006, 102; Nds.OVG, Urt. v. 16.6.2006 - 9 LB 104/06 -). Diese Überzeugung braucht jedoch nicht schon den Behörden des Heimatstaates bekannt geworden oder - weitergehend - bereits den Charakter von Vorfluchtgründen gehabt haben (BVerfG, Beschl. v. 15.3.1990 - 2 BvR 496/89 -, InfAuslR 1990, 197). Die später geäußerte muss aber mit der früher schon vorhandenen und betätigten Auffassung der Sache nach übereinstimmen, also eine inhaltliche Kontinuität aufweisen (vgl. Renner, AuslR, 8. Aufl., § 28 AsylVfG Rdnr. 13). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier vor.

Zwar hatte das Verwaltungsgericht im rechtskräftig gewordenen Urteil vom 9. Dezember 1999 - 5 A 4519/98 - die Klage des Beigeladenen gegen den die Anerkennung als Asylberechtigter und die Gewährung von Abschiebungsschutz versagenden Bescheid des Bundesamtes vom 23. November 1998 abgewiesen. Aus den Entscheidungsgründen geht jedoch hervor, dass das Verwaltungsgericht die damaligen Angaben des Beigeladenen über sein Vorfluchtschicksal (Festnahmen wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK, Versorgung von PKK-Guerillas mit Medikamenten und Unterstützung der HADEP) trotz gewisser Bedenken als wahr unterstellte, einen Asylanspruch aber gleichwohl ablehnte, da dem Beigeladenen eine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei zur Verfügung gestanden hätte, den türkischen Behörden nicht bekannt geworden sei, dass er die PKK mit Medikamenten versorgt habe und einfache HADEP-Mitglieder oder Unterstützer in der Türkei nicht politisch verfolgt seien. Im Hinblick auf die vom Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung vom 9. Dezember 1999 erstmals geltend gemachten exilpolitischen Aktivitäten (journalistische Tätigkeit für die Özgür Politika unter einem Pseudonym) hielt es das Verwaltungsgericht nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass die türkischen Sicherheitsbehörden die Personalien des Beigeladenen allein aufgrund des von ihm in einer Ausgabe der Özgür Politika veröffentlichten Fotos feststellen könnten, zumal dort sein Pseudonym und ein falscher Wohnort angegeben worden seien. Es bestehen deshalb keine durchgreifenden Zweifel daran, dass die nunmehr geltend gemachten politischen Aktivitäten des Beigeladenen auf einer bereits früher geäußerten Einstellung beruhen und die erforderliche inhaltliche Kontinuität aufweisen.

Ende der Entscheidung

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