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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 22.07.2008
Aktenzeichen: 11 ME 132/08
Rechtsgebiete: VwGO, ZPO


Vorschriften:

VwGO § 60
VwGO § 146 Abs. 4 S. 1
VwGO § 152 a
VwGO § 173
ZPO § 85 Abs. 2
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geht einer Anhörungsrüge vor.

Bei Fristen für die Begründung eines Rechtsmittels (hier: Beschwerdebegründungsfrist) muss der Rechtsanwalt Vorkehrungen treffen, die gewährleisten, dass zusätzlich eine Vorfrist notiert und überwacht wird (wie BVerwG, Beschl. v. 21.2.2008 - 2 B 6/08 -).


Gründe:

Die Antragstellerin hatte gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 2. Kammer - vom 3. April 2008, der ihrem Prozessbevollmächtigten am 8. April 2008 zugestellt worden war, mit Schriftsatz vom 8. April 2008 Beschwerde eingelegt. Der Senat verwarf die Beschwerde mit Beschluss vom 11. Juni 2008 - 11 ME 132/08 - als unzulässig, weil sie nicht innerhalb der am 8. Mai 2008 abgelaufenen Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO begründet worden war. Dieser Beschluss wurde dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin am 16. Juni 2008 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 17. Juni 2008 - eingegangen am 19. Juni 2008 - beantragte der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter Überreichung einer eidesstattlichen Versicherung seiner Sekretärin (Frau B.) vom 17. Juni 2008.

Der Wiedereinsetzungsantrag bleibt ohne Erfolg.

Bedenken gegen die Zulässigkeit des Antrags bestehen nicht. Zwar ist der Senatsbeschluss vom 11. Juni 2008 unanfechtbar (vgl. § 152 Abs. 1 VwGO), doch ist allgemein anerkannt, dass ein Wiedereinsetzungsantrag auch dann noch gestellt werden kann, wenn der in Frage stehende Rechtsbehelf bereits durch rechtskräftige Entscheidung verworfen worden ist (vgl. etwa OVG NRW, Beschl. v. 24.3.2006 - 13 E 240/06 -, NVwZ-RR 2006, 852; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 60 Rn. 24; Czybulka in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl., § 60 Rn. 109). Denn die Vorschrift des § 60 VwGO stellt insoweit eine Beschränkung der Rechtskraftwirkung von Entscheidungen dar (vgl. v. Albedyll in: Bader/Funke/Kaiser/Kuntze/v. Albedyll, VwGO, 4. Aufl., § 60 Rn. 36).

Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO geht auch der Anhörungsrüge vor, die mit Wirkung vom 1. Januar 2005 in die VwGO eingefügt worden ist. Nach § 152 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwGO ist auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten das Verfahren fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Erstentscheidung nicht gegeben ist. Zu den anderweitigen Rechtsbehelfen gehört auch der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO (Bader, in Bader u.a., a.a.O., § 152 a Rn. 5; Rudisile in: Schoch/Schmidt-Assmann/Pietzner, VwGO, Stand: April 2006, § 152 a Rn. 17).

Der Wiedereinsetzungsantrag ist aber in der Sache nicht begründet. Denn die Antragstellerin war nicht im Sinne des § 60 Abs. 1 VwGO verhindert, die Beschwerde rechtzeitig zu begründen.

Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin hat zur Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs anwaltlich versichert, er habe sich nach fristgerechter Einlegung der Beschwerde darauf verlassen können, dass seine Anweisungen zur weiteren fristwahrenden Bearbeitung der Sache von seiner Sekretärin beachtet würden. Diese sei ausgebildete Rechtsanwaltsfachangestellte und als solche seit 1 1/2 Jahren in seiner Kanzlei tätig. Sie sei angewiesen, alle eingehende Post nach seinen Anweisungen am selben Tag zu bearbeiten und insbesondere alle Fristen in den Fristenkalender, der von ihr und ihm persönlich täglich kontrolliert werde, einzutragen. Bei der Erfüllung dieser Aufgaben habe sie sich bisher als sehr zuverlässig erwiesen. Von ihm wiederholt durchgeführte Kontrollen hätten zu keinen Beanstandungen geführt. Die Sekretärin des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin hat in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 17. Juni 2008 erklärt, dieser habe ihr die Anweisung erteilt, die "Beschwerdebegründungsfrist" für die Akte der Antragstellerin ("06.05.2008") in den Fristenkalender einzutragen und ihm die Akte sofort wieder vorzulegen. Warum sie ihm diese Akte versehentlich nicht vorgelegt habe, könne sie heute nicht mehr sagen. Erst am 16. Juni 2008, dem Tag der Zustellung des Senatsbeschlusses vom 11. Juni 2008, habe sie die Akte gezogen und sie dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin vorgelegt. Mit diesem Vorbringen hat die Antragstellerin aber nicht glaubhaft gemacht, dass ihr Prozessbevollmächtigter ohne eigenes Verschulden verhindert war, die Beschwerdebegründungsfrist einzuhalten. Dieses Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten muss sich die Antragstellerin gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen.

Wenn ein Rechtsanwalt die Prozessvertretung übernimmt, ist die Wahrung der prozessualen Fristen eine seiner Aufgaben, der er besondere Aufmerksamkeit widmen muss. Er muss deshalb den Betrieb seiner Anwaltskanzlei so organisieren, dass fristwahrende Schriftsätze rechtzeitig hergestellt werden und vor Fristablauf beim zuständigen Gericht eingehen. Der Rechtsanwalt muss Vorkehrungen treffen, die gewährleisten, dass Fristen richtig berechnet werden und der Fristenlauf zuverlässig überwacht wird. Hierfür muss er sicherstellen, dass der Zeitpunkt des Fristablaufs in einen Fristenkalender notiert und dies in der Handakte vermerkt wird (st.Rspr. d. BVerwG, vgl. etwa Beschl. v. 21.2.2008 - 2 B 6/08 -, juris). Er darf allerdings die Berechnung der üblichen Fristen in Rechtsmittelsachen, die in seiner Praxis häufig vorkommen und deren Berechnung keine rechtlichen Schwierigkeiten macht, gut ausgebildetem und sorgfältig überwachtem Büropersonal überlassen (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 28.2.2002 - 6 C 23/01 -, Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 243). Bei Fristen für die Begründung eines Rechtsmittels muss der Rechtsanwalt dafür Sorge tragen, dass er sich rechtzeitig auf die Fertigung der Rechtsmittelbegründung einstellen sowie Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen vor Fristablauf Rechnung tragen kann. Zu diesem Zweck muss er Vorkehrungen treffen, die gewährleisten, dass zusätzlich eine Vorfrist notiert wird, die angemessene Zeit vor Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist endet, und dem Rechtsanwalt bei Ablauf dieser Vorfrist die Handakte vorgelegt wird (BVerwG, Beschl. v. 21.2.2008, a.a.O., unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH, Beschl. v. 9.6.1994 - I ZB 5/94 - NJW 1994, 2831 und v. 6.7.1994 - VIII ZB 26/94 - NJW 1994, 2551). Die schuldhafte Verursachung einer Fristversäumung durch eine Kanzleiangestellte entlastet den bevollmächtigten Rechtsanwalt von eigenem Verschulden nur dann, wenn die Angestellte das alleinige Verschulden trifft (BVerwG, Beschl. v. 12.6.2002 - 7 B 29/02 -, Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 245). Hiervon ausgehend ist dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin ein Anwaltsverschulden im Sinne eines Organisationsmangels vorzuhalten.

Auch trotz der anwaltlichen Versicherung des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin vom 17. Juni 2008 und der eidesstattlichen Versicherung seiner Sekretärin vom selben Tag bleiben die Gründe unklar, die zu der Fristversäumung geführt haben. Allerdings kann dahinstehen, ob die Beschwerdebegründungsfrist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren vor den Verwaltungsgerichten zu den Fristen gehört, deren Feststellung und Berechnung der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin nach den oben dargestellten Grundsätzen einer Büroangestellten überlassen durfte. Der Senat versteht den Vortrag des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin so, dass er seiner Sekretärin bei der Fertigung der Beschwerdeschrift vom 8. April 2008 mündlich die Anweisung erteilt hat, die von ihm selbst errechnete Beschwerdebegründungsfrist in den Fristenkalender einzutragen und ihm die Akte sofort wieder vorzulegen. Es fällt aber auf, dass der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin zu der Beschwerdebegründungsfrist im vorliegenden Fall keine konkrete Aussage macht, während seine Sekretärin diese mit dem 6. Mai 2008 angibt. Dieses Fristende trifft indes nicht zu. Da der erstinstanzliche Beschluss dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin ausweislich des Eingangsstempels auf dem Empfangsbekenntnis am 8. April 2008 zugestellt worden war, hätte die Begründung nach § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO spätestens am 8. Mai 2008 - einem Donnerstag - und nicht schon am 6. Mai 2008 bei Gericht eingehen müssen. Aus den schriftlichen Erklärungen des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin und seiner Sekretärin ergeben sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass mit der Frist des 6. Mai 2008 etwa eine Vorfrist in dem oben beschriebenen Sinn gemeint gewesen sein könnte. Eine derartige Annahme kommt auch deshalb nicht in Betracht, weil die Akte dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin sofort wieder vorgelegt werden sollte. Dies lässt darauf schließen, dass er möglichst frühzeitig die Beschwerdebegründung fertigen wollte.

Eine weitere Ungereimtheit liegt darin, dass die Akte dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin erst am 16. Juni 2008 von seiner Sekretärin wieder vorgelegt worden sein soll. Die Sekretärin hat - wie bereits mehrfach erwähnt - eidesstattlich versichert, dass ihr der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin die Anweisung erteilt habe, ihm die Akte sofort wieder vorzulegen. Da dies - aus welchen Gründen auch immer - nicht geschah, hätte für den Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin Anlass bestanden, deswegen gezielt nachzufragen, zumal er selbst erklärt hat, dass alle Fristen im Fristenkalender von ihm persönlich und seiner Sekretärin täglich kontrolliert würden. Darüber hinaus ist es für den Senat nicht nachvollziehbar, weshalb die Akte dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin nicht schon bei Zugang der am 15. April 2008 abgesandten Verfügung des Senats vom 14. April 2008 (Eingangsbestätigung mit Aktenzeichen) wieder vorgelegt worden ist. Dazu äußern sich weder der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin noch seine Sekretärin in ihren Stellungnahmen. Wäre aber die Eingangsverfügung des Senats dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin mit der Handakte vorgelegt worden, hätte er bemerken müssen, dass seine Sekretärin es unterlassen hatte, ihm die Akte - wie angeordnet - nach Absendung der Beschwerdeschrift vom 8. April 2008 "sofort wieder vorzulegen". Außerdem hätte er bei dieser Gelegenheit auch überprüfen können, ob die Beschwerdebegründungsfrist richtig notiert worden war. Dies hätte ihn wahrscheinlich auch in die Lage versetzt, die Beschwerde noch rechtzeitig vor Fristende zu begründen. Sollte der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin für die Behandlung von gerichtlichen Verfügungen nicht die erforderlichen Anweisungen erteilt bzw. Vorkehrungen getroffen haben, läge ein Organisationsmangel vor. Das bloße Abheften einer gerichtlichen Eingangsverfügung in die Handakte durch eine Büroangestellte reicht regelmäßig nicht aus, zumal derartige Verfügungen auch Hinweise des Gerichts auf die Sach- und Rechtslage enthalten können. Selbst von gut ausgebildeten und sorgfältig beaufsichtigten Kanzleikräften eines Rechtsanwalts kann nicht erwartet werden, dass sie die Bedeutung derartiger Hinweise in vollem Umfang überblicken. Den Ausführungen des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin und seiner Sekretärin lässt sich nicht entnehmen, welche Regelung in der Anwaltskanzlei für diese Fälle getroffen ist.

Aber selbst wenn insoweit dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin kein Organisationsverschulden anzulasten wäre, müsste dem Wiedereinsetzungsantrag der Erfolg versagt bleiben. Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin hätte seiner Sekretärin nicht nur die Anweisung erteilen müssen, die Beschwerdebegründungsfrist zu notieren und ihm rechtzeitig die Handakte für die Fertigung der Beschwerdebegründung vorzulegen, sondern er hätte nach der Rechtsprechung (a.a.O.) zusätzlich dafür Sorge tragen müssen, dass eine Vorfrist notiert (und überwacht) wird, die angemessene Zeit vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist endet. Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass der Rechtsanwalt sich rechtzeitig auf die Fertigung der Begründung einstellen kann. Weder aus der anwaltlichen Versicherung des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin noch aus der eidesstattlichen Versicherung seiner Sekretärin geht hervor, dass er überhaupt Vorkehrungen für die Notierung von Vorfristen getroffen hat. Wäre ihm die Handakte bei Ablauf der Vorfrist aber vorgelegt worden, hätte er noch rechtzeitig die Beschwerdebegründung erstellen und an den Senat, ggf. per Fax, senden können.

Nach alledem ist es dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin nicht gelungen, sich vom Vorwurf des Verschuldens an der Fristversäumung zu entlasten, so dass der Wiedereinsetzungsantrag abzulehnen war.

Ende der Entscheidung

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