Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 12.05.2009
Aktenzeichen: 11 ME 190/09
Rechtsgebiete: Nds SOG


Vorschriften:

Nds SOG § 1 Abs. 1 S. 3
Nds SOG § 2 Abs. 1 S. 1
Nds SOG § 17 Abs. 4
Aus § 1 Abs. 1 S. 3 Nds. SOG ist eine vorrangige Zuständigkeit der Polizeibehörde für den Erlass eines Aufenthaltsverbotes nach § 17 Abs. 4 Nds. SOG abzuleiten.
Gründe:

Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen ein mit Bescheid vom 25. Februar 2009 erlassenes längerfristiges Aufenthaltsverbot nach § 17 Abs. 4 des niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (vom 19.01.2005 - Nds. GVBl. S. 9 -, Nds. SOG). Das Verwaltungsgericht hat dem Begehren mit der Begründung entsprochen, der Bescheid sei formell rechtswidrig, weil die zuständige Verwaltungsbehörde und nicht die Antragsgegnerin als Polizeibehörde für den Erlass eines derartigen Bescheides zuständig gewesen sei. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin.

Die Beschwerde hat Erfolg.

1) Nach der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung ist für den Erlass eines Aufenthaltsverbotes nach § 17 Abs. 4 Nds. SOG in erster Linie die Polizeibehörde zuständig. Daneben besteht eine subsidiäre Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden.

Allerdings verweist das Verwaltungsgericht zutreffend darauf, dass anders als in § 17 Abs. 2 Nds. SOG (Platzverweis aus der Wohnung) das Gesetz in Abs. 4 der Vorschrift die Zuständigkeit für längerfristige und großräumige Aufenthaltsverbote nicht ausschließlich der Polizei sondern - mangels eigener Regelung durch Rückgriff auf den kurzfristigen Platzverweis in Abs. 1 - den Verwaltungsbehörden und der Polizei gemeinsam zuweist.

Die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Verwaltungsbehörde und Polizei hat daher nach der allgemeinen Regelung in § 1 Nds. SOG zu erfolgen.

§ 1 Nds. SOG bestimmt:

"Aufgaben der Verwaltungsbehörden und der Polizei:

1. Die Verwaltungsbehörden und die Polizei haben gemeinsam die Aufgabe der Gefahrenabwehr. Sie treffen hierfür auch Vorbereitungen um künftige Gefahren abwehren zu können. Die Polizei hat im Rahmen ihrer Aufgaben nach Satz 1 insbesondere auch Straftaten zu verhüten.

2. Die Polizei wird in den Fällen des Abs. 1 Satz 1 tätig, soweit die Gefahrenabwehr durch die Verwaltungsbehörden nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint. Verwaltungsbehörden und Polizei unterrichten sich gegenseitig, soweit dies zur Gefahrenabwehr erforderlich ist."

Eine vorrangige Zuständigkeit der Polizei lässt sich - soweit in diesem Verfahren erkennbar - aller Voraussicht nach auf § 1 Abs. 1 S. 3 Nds. SOG stützen. Diese Vorschrift weist die Strafverhütung, wozu auch die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes nach § 17 Abs. 4 Nds. SOG gehört, "insbesondere" der Polizei zu.

§ 1 Abs. 1 und 2 Nds. SOG hatten ursprünglich (Nds. SOG v. 17.11.1981 - Nds. GVBl. S. 347 -) folgenden Wortlaut:

1. Die Polizei und die Verwaltungsbehörden haben gemeinsam die Aufgabe der Gefahrenabwehr.

2. Die Polizei wird tätig, soweit die Gefahrenabwehr durch die Verwaltungsbehörden nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint. Polizei und Verwaltungsbehörden unterrichten sich gegenseitig, soweit dies zur Gefahrenabwehr erforderlich erscheint.

Der weiter oben wiedergegebene aktuelle Gesetzestext, also die Sätze 2 und 3 in § 1 Abs. 1 Nds. SOG und die Ergänzung des § 2 Nds. SOG um den Satzteil "in den Fällen des Abs. 1 S. 1" sind erst durch das Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung vom 18. Februar 1994 (Nds. GVBl. S. 71) in das Gesetz eingefügt worden. (Zwar war damals auch die "Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten" als Aufgabe der Polizei mit aufgenommen worden. Dieses Aufgabenfeld wurde aber nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27.Juli 2007 (BvR 668/04 - BVerfGE 113,348 = NJW 2005, 2603) wieder aus dem Nds. SOG herausgenommen (vgl. Gesetz zur Änderung des Nds. SOG v. 25.11.2007 - Nds. GVBl S. 654 -).

Zur Änderung des Nds. SOG von 1994 heißt es in der LT-Drucksache 12/4140 S. 46:

"§ 1 Abs. 2 Satz 1 enthält die für die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Verwaltungsbehörden und Polizei maßgebliche Subsidiaritätsregeln. Danach gilt der Grundsatz, dass die Polizei nur tätig wird, soweit ein Handeln der zuständigen Verwaltungsbehörde nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint. Bei dieser Zuständigkeitsregelung soll es grundsätzlich verbleiben. Durch die Einschränkung in § 1 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit der Änderung des § 1 Abs. 1 wird jedoch nunmehr ausdrücklich klargestellt, dass die Polizei in den Bereichen der Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr ...... und der Verhütung von Straftaten eine originäre Zuständigkeit besitzt."

Zwar bezieht sich diese Begründung auf folgende Entwurfsfassung von § 1 Abs. 1 Sätze 2 und 3 Nds. SOG:

"Sie treffen hierbei auf Vorbereitungen, um künftige Gefahren abwehren zu können. Die Polizei hat im Rahmen ihrer Aufgaben nach Satz 1 außerdem (für die Verfolgung von Straftaten vorzusorgen und) Straftaten zu verhüten."

Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wurde in § 1 Abs. 1 S. 3 Nds. SOG aufgrund einer Beschlussempfehlung (vgl. LT-Drucks. 12/5735) das Wort "außerdem" durch das Wort "insbesondere" ersetzt. Die in der Begründung zum Ausdruck kommende Auffassung, dass für die in Abs. 1 Satz 2 und 3 Nds. SOG genannten Aufgaben in erster Linie die Polizei zuständig sein soll, wird durch diese Änderung aber nicht in Frage gestellt. Für Maßnahmen nach § 1 Abs. 1 Satz 2 und 3 Nds. SOG gilt daher der Subsidiaritätsgrundsatz des Abs. 2 Satz 1 nicht (vgl. ebenso Böhrenz/Unger/Siefken, Nds. SOG, 8. Aufl., 2005, § 1 Anm. 9; Ipsen, Nds. Polizei- und Ordnungsrecht, 3. Aufl., 2004, S. 21). Nach Waechter (Polizei- und Ordnungsrecht, 2000, RdNr. 296, S. 214/215) bezieht sich die Subsidiarität des polizeilichen Einschreitens nicht auf die Vorsorgezuständigkeiten der Polizei im Bereich der Vorsorge für die Straftatenbekämpfung und Gefahrenabwehr; lediglich wenn auch Verwaltungsbehörden für Vorsorgemaßnahmen zuständig seien, liege die originäre Zuständigkeit nach der Grundregel des Nds. SOG bei den Verwaltungsbehörden und sei die Polizei nur subsidiär zuständig. Eine besondere, außerhalb des Nds. SOG liegende Ermächtigungsgrundlage für die Verwaltungsbehörde zur Erteilung eines Aufenthaltsverbotes gibt es aber nicht. Saipa (Nds. Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Praxis der Gemeindeverwaltung, Stand: Juni 2008, § 1 Anm. 1) weist ebenfalls darauf hin, dass der Polizei die Vorsorge gegen Straftaten übertragen worden sei.

Von einer vorrangigen Zuständigkeit der Polizei im Bereich der Vorsorge der Strafverhütung gehen auch die Ausführungsbestimmungen zum Nds. SOG (Runderlass d. MI v. 16.7.1998 - Nds. MBl. S. 1078 -, abgedr. bei Saipa a. a. O., § 1) aus. Dort ist u. a. bestimmt:

"Durch § 1 Abs. 1 Satz 3 wird klargestellt, dass die Vorsorge für die ... Verhütung von Straftaten von der Aufgabe Gefahrenabwehr begrifflich umfasst wird. Zugleich wird durch die Formulierung "insbesondere" die besondere Stellung der Polizei in diesem Teilbereich der Gefahrenabwehr verdeutlicht. Die Polizei wird hier vorrangig tätig, weil ihr bestimmte Befugnisse zur Erkenntnisgewinnung vorbehalten sind und nur sie aus ihrer strafverfolgenden Tätigkeit über spezifisches Erfahrungswissen verfügt, um kriminellen Gefahren wirksam entgegentreten zu können. Die Ausnahme von der (Regel-)Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden greift immer dann, wenn und soweit diese besonderen Voraussetzungen vorliegen."

Soweit jedoch weiter ausgeführt wird:

"Die Verwaltungsbehörden sind wiederum zuständig, wenn "einfaches" ordnungsbehördliches Eingreifen zur Verhütung einer Straftat ausreicht (z. B. Platzverweis, Sicherstellung) oder verwaltungsmäßige Bearbeitungsformen - gegebenenfalls neben oder ergänzend zu polizeilichen Maßnahmen - erforderlich sind (z. B. schriftliches Aufenthaltsverbot, Zwangsgeld, Ersatzzwangshaft usw.) oder ein enger Zusammenhang zu anderen ihnen obliegenden Aufgaben gegeben ist (z. B. Einrichtung eines Präventionsrates)"

ist der Auffassung, bei der Verhängung eines Aufenthaltsverbots handele es sich um ein einfaches ordnungsbehördliches Eingreifen, mithin seien hierfür die Verwaltungsbehörden zuständig, in dieser Pauschalität nach derzeitigem Kenntnisstand nicht zu folgen.

Die Frage, ob ein Aufenthaltsverbot (§ 17 Abs. 4 Nds. SOG) geeignet und erforderlich ist, zukünftige Straftaten zu vermeiden, setzt eine Auswertung kriminologischer Erkenntnisse voraus, die in erster Linie bei den Polizeibehörden vorhanden sind (vgl. Waechter, Die aktuelle Situation des Polizeirechts, JZ 2002, 854,855). Denn die Polizeibeamten sind in den kritischen Zeiten (in der Regel nachts an den Wochenenden) in den gefährdeten Stadtteilen präsent. Nur sie haben unmittelbar mit den betroffenen Straftätern zu tun; denn sie nehmen vor Ort die Anlassvorfälle auf und bearbeiten sie weiter. Die Anregungen für Aufenthaltsverbote beruhen auf der Prognose der Wiederholungsgefahr und diese Prognose basiert wiederum auf langjährigem Erfahrungswissen im Einsatzgeschehen i. V. m. einer kriminalistisch-kriminologischen Beurteilung des jeweiligen Falles. Die Polizeibeamten können mithin am ehesten entscheiden, ob und in welchem Umfang ein Aufenthaltsverbot überhaupt geeignet ist, weitere Straftaten zu verhindern.

In etlichen Fällen dürfte es zudem sinnvoll sein, einen kurzfristigen Platzverweis (§ 17 Abs. 1 Nds. SOG) mit einem Aufenthaltsverbot (§ 17 Abs. 4 Nds. SOG) zu verbinden, insb. wenn davon auszugehen ist, dass der Betroffene über eine postalische Zustellung nicht oder nur schwer erreichbar sein wird und die bis zur ordnungsgemäßen Zustellung eines Aufenthaltsverbotes vergehende Zeit die mit dem Verbot beabsichtigte Wirkung erheblich beeinträchtigen würde (ähnlich: Deger, Platzverweise und Betretungsverbote gegen Mitglieder der Drogenszene und anderer offener Szenen, VBlBW 1996, 90, der in diesen Fällen (sogar) von einer Eilzuständigkeit des Polizeivollzugsdienstes für die Verhängung auch von Aufenthaltsverboten ausgeht; zur umstrittenen Beurteilung der Zuständigkeiten bei einem Aufenthaltsverbot vgl. auch Cremer, Aufenthaltsverbote und offene Drogenszene: Gesetzesvorrang, Parlamentsvorbehalt und grundgesetzliche Kompetenzordnung, NVwZ 2001, 1218; Haseloff-Grupp, Bekämpfung der Drogenszene durch Platzverweise, VBlBW 1997, 163; Hufeld, Der polizeiliche Platzverweis und das organisationsrechtliche Mandat, VBlBW 1999, 130; die Aufsätze beschäftigen sich allerdings nicht mit der Rechtslage in Niedersachsen).

Die in § 1 Abs. 1 Satz 3 Nds. SOG angelegte vorrangige Zuständigkeit der Polizei schließt andererseits eine Zuständigkeit der zuständigen Verwaltungsbehörde nicht generell aus. Hält die Polizei aufgrund kriminalistischer Erfahrungen die Verhängung eines Platzverweises und/oder eines Aufenthaltsverbotes nicht für geboten, macht also von ihrer "vorrangigen" Zuständigkeit auf diesem Bereich der Verhütung von Straftaten keinen Gebrauch, kann nach der Gesetzessystematik gleichwohl die Kommune entsprechende Verbote erlassen. Um hier etwaige Reibungsverluste zu vermeiden erscheint es sinnvoll, wenn sich Polizei und Verwaltungsbehörde - wie nach dem Vortrag der Antragsgegnerin im vorliegenden Fall geschehen - intern darüber abstimmen, ob die Verwaltungsbehörde sich grundsätzlich bei der Erteilung von Aufenthaltsverboten der Einschätzung der Polizei anschließt.

Ergibt sich eine vorrangige Zuständigkeit der Polizeibehörde aus § 1 Abs. 1 S. 3 Nds. SOG, kommt daneben ein Rückgriff auf § 1 Abs. 2 S. 1 Nds. SOG, der sich nur auf Abs. 1 S. 1 (und nicht auch auf S. 2 und 3) bezieht, nicht mehr in Betracht (zur Bedeutung von § 1 Abs. 2 S. 1 Nds. SOG vgl. Beschl. d. Sen. v. 19.1.2004 - 11 LA 319/03 -).

2) Begegnet der angefochtene Bescheid mithin formell keinen durchgreifenden Bedenken, erweist er sich aller Voraussicht nach auch materiell als rechtmäßig.

Der Antragsteller wurde am Samstag, den 17. Januar 2009, um 2.50 Uhr alkoholisiert von dem Türsteher einer Diskothek der Polizei wegen eines Körperverletzungsdelikts übergeben (vgl. Bericht der Polizeiinspektion Hannover Ost v. 20.1.2009). Der Antragsteller hielt sich zudem bereits am Sonntag, den 14. Dezember 2008, um ca. 1.17 Uhr ebenfalls alkoholisiert in einer Gruppe auf, aus der heraus eine Körperverletzung zu Lasten eines Dritten begangen wurde (vgl. Bericht der Polizeiinspektion Hannover Mitte v. 16.12.2008). Die Entscheidung der Antragsgegnerin, aufgrund dieser Erkenntnisse ein auf 6 Monate begrenztes Aufenthaltsverbot für die Zonen Innenstadt (1) und Oststadt (1) für im Einzelnen näher bezeichnete Wochentage (insb. Freitag/Sonnabend) zu erlassen, ist aller Voraussicht nach rechtmäßig. Der Abschluss der Ermittlungen war nicht abzuwarten, da sich bis dahin weitere Gefahrensituationen ergeben konnten. Die Antragsgegnerin konnte dabei die Auswertung der polizeilichen Kriminalstatistik 2007 zugrunde legen, wonach eine Zunahme der Fallzahlen mit alkoholisierten jugendlichen Tätern bei Wahrnehmung allgemeiner Freizeitaktivitäten festzustellen ist. Die vorliegenden Polizeiberichte sprechen zudem eher für als gegen eine Tatbeteiligung des Antragstellers. Das Aufenthaltsverbot ist mit sechs Monaten nicht als unverhältnismäßig anzusehen.

Ende der Entscheidung

Zurück