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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 09.01.2006
Aktenzeichen: 9 ME 372/05
Rechtsgebiete: AufenthG, GG, VwGO


Vorschriften:

AufenthG § 25 Abs. 5
AufenthG § 35 Abs. 3 S. 2
GG Art. 6 Abs. 1
VwGO § 117 Abs. 5
Weder Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis noch Niederlassungserlaubnis für marokkanischen Staatsangehörigen.
Gründe:

Der 1975 geborene Antragsteller - marokkanischer Staatsangehöriger - reiste 1989 zusammen mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern im Rahmen des Familiennachzugs zu seinem bereits seit 1975 in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Vater. Die Eltern und Geschwister des Antragstellers erwarben 1994 durch Einbürgerung die deutsche Staatsangehörigkeit. Der Antragsteller lebt bei seinen Eltern.

Mit Bescheid vom 25. Mai 2005 lehnte der Antragsgegner die von dem 30 jährigen Antragsteller - nach Erlöschen seiner bis zum 28. Mai 1998 befristeten Aufenthaltserlaubnis - am 30. Juli 1998 beantragte Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ab und drohte ihm für den Fall, dass er nicht freiwillig ausreise, die Abschiebung in sein Heimatland Marokko an. Die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG scheitere daran, dass sein Lebensunterhalt nicht gesichert sei und er durch sein strafbares Verhalten den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfüllt habe. Eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 S. 2 AufenthG scheide im Hinblick darauf aus, dass eine außergewöhnliche Härte nicht ersichtlich sei. Schutzwürdige persönliche Bindungen lägen nicht vor. Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG stehe entgegen, dass ihm die freiwillige Ausreise in sein Heimatland möglich sei.

Dagegen hat der Antragsteller Klage erhoben (5 A 3746/05) und um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht, den das Verwaltungsgericht Hannover mit Beschluss vom 11. Oktober 2005 abgelehnt hat.

Die daraufhin vom Antragsteller erhobene Beschwerde hat keinen Erfolg. Die vom Antragsteller erhobene Rüge, der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts sei nicht hinreichend entsprechend den Anforderungen des § 117 Abs. 5 VwGO analog begründet worden, greift nicht durch. Eine Verweisung auf § 117 Abs. 5 VwGO ist auch im Beschlussverfahren grundsätzlich zulässig (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.04.2002 - 10 S 2367/01 - NVwZ 2002, 1260 = VBlBW 2002, 431 = NuR 2003, 101). Entgegen der Auffassung des Antragstellers reicht es aus, dass das Verwaltungsgericht ausdrücklich auf die angegriffene Entscheidung und die darin enthaltenen Ausführungen verwiesen hat. Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Bestimmung ist allein, dass das Verwaltungsgericht der Verwaltungsentscheidung in dem Umfang, in welchem es verweist, im Ergebnis folgt. Die Befugnis aus § 117 Abs. 5 VwGO entfällt nicht bereits dadurch, dass der Bescheid, auf den verwiesen wird, inhaltlich angegriffen worden ist. Wenn und soweit das Verwaltungsgericht die Angriffe für nicht erheblich hält, kann es - um nicht die bereits gegebene Begründung erneut wiederholen zu müssen - Bezug nehmen (OVG Magdeburg, Beschluss vom 05.02.1998 - A 2 S 31/98 - zitiert nach juris). Ebensowenig ist der Verweis des Verwaltungsgerichts auf den Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 24. August 2005 zu beanstanden. Die Verweisung in einem Beschluss auf rechtliche Erwägungen in einem anderen, den Prozessbeteiligten ohne Schwierigkeiten zugänglichen Schriftstück ist eine zulässige Form der Wiedergabe dieser Erwägungen im Beschluss (BVerwG, Beschluss vom 03.04.1990 - 9 CB 5/90 - Buchholz 310 § 117 VwGO Nr 31). Mittels Darlegung der leitend gewesenen Gründe durch Bezugnahme auf die zutreffenden Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid und in dem Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 25. Mai 2005 wird die Funktion der schriftlichen Entscheidungsgründe eines Beschlusses nicht beeinträchtigt, nämlich deutlich zu machen und sicherzustellen, dass das Gericht alle wesentlichen Gesichtspunkte, insbesondere das Vorbringen der Beteiligten im Rahmen des ihnen zukommenden rechtlichen Gehörs berücksichtigt und sich mit ihnen in der gebotenen Weise auseinandergesetzt hat, dass ferner den Beteiligten die Einschätzung der Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels und dem Rechtsmittelgericht die Nachprüfung der Entscheidung ermöglicht werden (BVerwG, Beschluss vom 03.04.1990 - 9 CB 5/90 - a. a. O.). Dies alles ist vor dem Hintergrund, dass das Verwaltungsgericht die maßgebenden tatsächlichen Feststellungen ausgeführt hat, auch bei Darlegung der rechtlichen Erwägungen in Form der Bezugnahme gewährleistet, sofern sich, wie hier, für Beteiligte und Rechtsmittelgericht aus einer Zusammenschau der Ausführungen in dem in Bezug genommenen Bescheid und dem Schriftsatz der Antragsgegnerin die für die richterliche Überzeugung leitend gewesenen Gründe mit hinreichender Klarheit ergeben.

Entgegen der Auffassung des Antragstellers verletzt der Beschluss des Verwaltungsgerichts auch nicht Art. 103 Abs. 1 GG. Der dort verankerte Grundsatz rechtlichen Gehörs gebietet dem Gericht nicht, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen ausdrücklich zu bescheiden (BVerfG, Beschluss vom 17.11.1992 - 1 BvR 168,1509/89, 638,639/90 -, BVerfGE 87, 363). Art. 103 Abs. 1 GG fordert allein, dass das Gericht das Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat ( BVerfG, Beschluss vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91 -, BVerfGE 86, 133 [145]). Art. 103 Abs. 1 GG ist erst verletzt, wenn das Gericht gegen diesen Grundsatz erkennbar verstoßen hat. Dafür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich. Insbesondere kann der Antragsteller einen solchen Verstoß nicht aus der Behauptung ableiten, das Verwaltungsgericht habe die zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung noch laufende therapeutische Behandlung seiner Drogenerkrankung nicht berücksichtigt und nicht einmal erwähnt. Abgesehen davon, dass das Verwaltungsgericht bei der Darlegung des Vorbringens des Antragstellers seine begonnene Drogentherapie erwähnt hat, spielt sie für die Frage der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bzw. Niederlassungserlaubnis keine maßgebliche Rolle. Die bis zum 28. Mai 1998 befristet erteilte Aufenthaltserlaubnis war mit Ablauf der zeitlichen Geltungsdauer erloschen. Die vom Antragsteller mit seinem Antrag vom 30. Juli 1998 begehrte Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat die Antragsgegnerin zu Recht abgelehnt. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung sich der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO, zu beschränken hat, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die vom Antragsteller vertretene Ansicht, das Ergebnis der Therapie sei bei der Frage, ob Ausweisungsgründe aktuell noch vorlägen, zu berücksichtigen, lässt außer acht, dass es im vorliegenden Fall nicht um die Anfechtung einer Ausweisungsentscheidung, sondern um die Verpflichtung zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geht. Bei der Anwendung des § 35 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist das Vorliegen eines - hier nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG zu bejahenden - Ausweisungstatbestands maßgeblich, nicht die konkrete Ausweisungsmöglichkeit unter Berücksichtigung von §§ 55 Abs. 3, 56 AufenthG (Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., 2005, § 35 RN 16).

Darüber hinaus lässt die vom Antragsteller absolvierte therapeutische Behandlung die von der Antragsgegnerin im Rahmen des § 35 Abs. 3 S. 2 AufenthG vorgenommene Ermessensausübung nicht als fehlerhaft erscheinen. Die von der Antragsgegnerin gegenüber den privaten Interessen des Antragstellers dargelegte höhere Bewertung der öffentlichen Interessen erweist sich nunmehr nicht allein deshalb als ermessensfehlerhaft, weil der Antragsteller eine ursprünglich auf sechs Monate angelegte ganztägige ambulante Drogenentwöhnungsbehandlung nach vier Monaten regulär beendet hat und von der Therapieeinrichtung am 25. November 2005 als arbeitsfähig entlassen wurde. Abgesehen davon , dass die Tagesklinik dem Antragsteller eine weitere ambulante Behandlung empfohlen hat, ist damit nicht bereits davon auszugehen, dass der Antragsteller seine Drogenproblematik erfolgreich und dauerhaft bewältigt hat. Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, folgt daraus nicht die begründete Aussicht, der Antragsteller werde sein Leben zukünftig straffrei führen, zumal die vom Antragsteller begangenen Straftaten ganz überwiegend nicht Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz darstellten.

Zudem kommt angesichts der strikten Formulierung des § 35 Abs. 3 S. 1 AufenthG eine Ausnahme vom Ausschluss des Anspruchs auf eine Niederlassungserlaubnis im Ermessenswege nach § 35 Abs. 3 S. 2 AufenthG nur in atypischen Fällen in Betracht, nicht aber allgemein (Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., 2005, § 35 RN 19). Eine solche atypische Ausnahme in einem Einzelfall ist vorliegend nicht festzustellen.

Die Ablehnung einer auf § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG gestützten Aufenthaltserlaubnis erweist sich ebenfalls nicht als rechtsfehlerhaft. Dabei kann es der Senat im vorliegenden Fall dahingestellt sein lassen, ob der Anwendungsbereich des § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG allein voraussetzt, dass die Ausreise des Ausländers tatsächlich oder rechtlich unmöglich ist (Nds. OVG, Beschluss vom 24.10.2005 - 8 LA 123/05 -) oder ob sich im Einzelfall auch aus der Unzumutbarkeit einer Rückreise - in der Regel in den Heimatstaat - eine Unmöglichkeit im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG ergeben kann (vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 1.6.2005 - 3 TG 1273/05 -; Göbel-Zimmermann, ZAR 2005, 275, 278; Heinhold, Asylmagazin 11/04, Die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 AufenthG , VII; Keßler, Von der Duldung zur Aufenthaltserlaubnis, S. 6). Denn dem Antragsteller ist eine Ausreise nach Marokko weder unmöglich noch unzumutbar. Insbesondere ergibt sich eine rechtliche Unmöglichkeit nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt. Dieses Schutzgebot führt zur Annahme eines rechtlichen Abschiebungshindernisses im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG, wenn es dem Ausländer nicht zuzumuten ist, seine familiären Beziehungen durch Ausreise zu unterbrechen. Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst auch das Verhältnis zwischen den Eltern und ihren volljährigen Kindern (BVerfG, Beschluss vom 05.02.1981 - 2 BvR 646/80 - BVerfGE 57, 170). Der Familienschutz auf dem Gebiete des Aufenthaltsrechts soll die familiäre Gemeinschaft gewährleisten. Fehlt es an einer solchen, so kommt dem Schutzgebot aufenthaltsrechtlich kein oder nur ein geringes Gewicht zu (BVerwG, Beschluss vom 6.4.1981 - 1 B 31.81 - InfAuslR 1982, 6 ). Dementsprechend ist für die Abwägung das Maß der familiären Verbundenheit wesentlich (BVerwG, Urteil vom 26.03.1982 - 1 C 29/81 - a. a. O.). Der Antragsteller wohnt zwar weiter bei seinen Eltern, die 1994 die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung erworben haben, er hat aber in seinem Vorbringen nicht erkennen lassen, dass die familiären Beziehungen über eine bloße Begegnungsgemeinschaft hinausgehen. Maßgebend für das Zusammenleben in einem Haushalt ist vor allem das Maß des Angewiesenseins auf die Lebenshilfe, die durch die Familie ihrer Funktion gemäß gewährt wird. Die erzieherische und betreuerische Verantwortlichkeit der Eltern tritt in einem Alter des Antragstellers von 30 Jahren völlig in den Hintergrund. Besondere Umstände, die ausnahmsweise eine andere Beurteilung gebieten könnten, sind im vorliegenden Fall weder dargelegt noch erkennbar. Die für die Wahrung der Familieneinheit erforderlichen Kontakte zwischen den Familienmitgliedern können u.a. dadurch ermöglicht werden, dass etwa Besuche der Eltern in Marokko stattfinden.

Dem Antragsteller ist eine Ausreise nach Marokko auch nicht unzumutbar. Zwar lebt der Antragsteller inzwischen 16 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland, aber seine ersten 14 Lebensjahre hat er zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in Marokko verbracht. Im Hinblick auf das Alter des Antragstellers wird ihm eine Wiedereingliederung in die Lebensverhältnisse in Marokko ggf. mit Hilfe seiner Familie bzw. weiterer Verwandter vor Ort nicht mit unüberwindbaren Hindernissen verbunden oder gar unmöglich sein.

Soweit der Antragsteller erstmals im Beschwerdeverfahren eine Duldung bis zu einer abschließenden erstinstanzlichen Entscheidung begehrt, bleibt dieser Ansatz der Erfolg versagt. Denn das Begehren auf zeitweise Aussetzung der Abschiebung (Duldung) stellt einen neuen Streitgegenstand dar, über den der Senat nicht (erstmals) befinden und entscheiden darf (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 22. 8. 2003 - 4 Bs 278/03 - NVwZ-RR 2004, 621). Diesen Anspruch hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht mit dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage nicht anhängig gemacht. Ein (Duldungs-)Anspruch und der mit der Beschwerde zu seiner Begründung vorgetragene Sachverhalt ist demzufolge auch nicht Gegenstand der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts gewesen.

Ende der Entscheidung

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