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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Beschluss verkündet am 19.07.2007
Aktenzeichen: 1 ARs 18/07 (Ausl)
Rechtsgebiete: IRG


Vorschriften:

IRG § 15 Abs. 1 Nr. 1
Der Haftgrund der Fluchtgefahr im Sinne von § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG ist, auch wenn der Verfolgte sich in einem anderen Verfahren in Strafhaft befindet, allein aus Sicht des jeweiligen Auslieferungsverfahrens ohne Rücksicht auf die in dem anderen Verfahren angeordnete freiheitsentziehende Maßnahme zu beurteilen.
Oberlandesgericht Celle Beschluss

1 ARs 18/07 (Ausl)

In dem Auslieferungsverfahren

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft C. durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht #######, den Richter am Oberlandesgericht ####### und den Richter am Landgericht ####### am 19. Juli 2007 beschlossen:

Tenor:

Die Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung der in dem Europäischen Haftbefehl des Prokurators des Königs in B. vom 14. Mai 2007 (Az.: UL 4/07 - BG.30.98.2487/05) bezeichneten Freiheitsstrafe von 30 Jahren aus dem Urteil des Schwurgerichts der Provinz W.Fl. in B. vom 18. Oktober 2006 ist zulässig.

Gegen den Verfolgten wird die Auslieferungshaft zum Zwecke der Auslieferung zur Vollstreckung der in dem Europäischen Haftbefehl des Prokurators des Königs in B. vom 14. Mai 2007 (Az.: UL 4/07 - BG.30.98.2487/05) bezeichneten Freiheitsstrafe von 30 Jahren aus dem Urteil des Schwurgerichts der Provinz W.Fl. in B. vom 18. Oktober 2006 angeordnet.

Gründe:

I.

Die b. Justizbehörden betreiben auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafvollstreckung. Ausweislich dieses Haftbefehls ist der Verfolgte, der l. Staatsangehöriger ist, durch Urteil des Schwurgerichts der Provinz W.Fl. in B. vom 18. Oktober 2006 (Az.: VU 30.L3.5350/02) wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer sexueller Nötigung und mit schwerem Raub zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt worden. In dem Haftbefehl wird die der Verurteilung zugrunde liegende Tat wie folgt beschrieben:

"M. A. Y. betrat am 16. April 2002 um 18:15 Uhr das Modefachgeschäft A. in N., wo das Opfer K. H. tätig war. Er lockte sie an eine Stelle hinten im Laden und gab ihr einen Schlag auf den Kopf. Sie stürzte zu Boden, wonach er ihr die Hand auf den Mund hielt und sie mit einem Messer bedrohte. Er befestigte Klebestreifen auf dem Mund, um die Handgelenke und die Knöchel und zwang sie dazu, die Kasse des Ladens zu öffnen, aus der er 138,37 EUR, die dem Laden A. gehörten, stahl.

Danach zog er sie mit in eine Umkleidekabine, wo er den Reißverschluss seiner Hose öffnete und gegen den Vorhang der Umkleidekabine urinierte. Er drängte sie weiter nach hinten in den Abstellraum und die Küche des Ladens. In der Küche stahl er eine Börse, eine nicht weiter bestimmte Geldsumme und eine Sprühdose Deodorant von K. H..

Danach zog er ihre Hose und ihren Slip herunter und drängte sie auf den Boden. Er versuchte ihre Beine auseinander zu drücken, und es gelang ihm nur, die Schamgegend mit den Fingerspitzen zu berühren ohne Penetration. Er entblößte sein Geschlechtsteil und gab zu verstehen, dass sie ihn oral befriedigen sollte. Sie nahm den Penis in die Hand und machte Bewegungen.

Danach schlug er sie mehrmals mit dem Kopf gegen den Boden. Er stellte sich über sie, zog ihr den Pullover hoch und urinierte auf ihren Bauch.

Danach schlug er sie noch mehrmals mit dem Kopf gegen den Boden. Er stach sie mit einem Messer in die Brust. Die Klinge des Messers faltete sich, wonach er in der Schublade der Küche suchte und sie mit Allerlei stach. Er gab verschiedene Messerstiche in die Schulter. Er schlug sie mit den Fäusten gegen den Kopf, warf mit allerlei Gegenständen, schlug sie mit einer Vase und mit einem Bügeleisen. Er stach sie auch mit einer Schere in den Rücken. Er biss in ihre Wange und schlug ihr den Kopf hart gegen den Boden. Das Opfer täuschte vor, sie sei tot, wonach er seine Handlungen einstellte und den Laden um 18:20 Uhr verließ."

Der Verfolgte ist bereits durch Urteil des Landgerichts G. vom 29. September 2003, das seit dem 04. März 2004 rechtskräftig ist, wegen Mordes in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er war am 29. April 2002 in F. festgenommen und nach D. ausgeliefert worden. Die F. Republik hatte auch die Auslieferung nach B. bewilligt. Nachdem der Senat mit Beschluss vom 4. Februar 2003 die Auslieferung des Verfolgten nach Belgien zur Verfolgung der auch dem jetzigen Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Tat für zulässig erklärt hatte, war der Verfolgte am 8. September 2004 vorübergehend nach B. ausgeliefert und nach Abschluss des dortigen Strafverfahrens am 4. April 2007 wieder nach D. zurücküberstellt worden. Seitdem befindet er sich wieder in Strafhaft zur weiteren Verbüßung der lebenslangen Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt C..

Der Verfolgte ist zu dem jetzigen Auslieferungsersuchen am 26. Juni 2007 richterlich angehört worden. Er hat sich mit der vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt und außerdem Einwendungen gegen die Auslieferung erhoben.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat dem Verfolgten mit Schreiben vom 28. Juni 2007 mitgeteilt, dass sie nicht beabsichtige, Bewilligungshindernisse geltend zu machen. Sie beantragt, die Auslieferung des Verfolgten für zulässig zu erklären und die Auslieferungshaft anzuordnen.

II.

Diesen Anträgen war zu entsprechen.

Da der Verfolgte sich in seiner richterlichen Anhörung gemäß § 28 IRG nicht mit der vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt hat, war durch den Senat gemäß § 29 Abs. 1 IRG über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden.

1.

Die Auslieferung ist zulässig.

a) Der von den b. Justizbehörden vorgelegte Europäische Haftbefehl vom 15. Mai 2007 entspricht den Formerfordernissen des § 83 a Abs. 1 IRG und enthält die hierzu erforderlichen Angaben.

b) Die der Verurteilung zugrunde liegende Tat ist sowohl nach belgischem als auch nach deutschem Strafrecht strafbar (§§ 51, 52, 80, 135, 373 Abs. 1, 374, 376 Abs. 2 und 3, 378, 392, 393, 394, 461 Abs. 1, 468, 472 Abs. 1 und 3, 482 und 482 belgisches Strafgesetzbuch und §§ 177 Abs. 1, 3 und 4, 211, 249 Abs. 1, 250 Abs. 2, 22, 23, 52 StGB). Der Verfolgte ist im Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates zu einer Freiheitsstrafe von mehr als vier Monaten verurteilt worden (§ 81 Nr. 2 IRG ).

c) Gründe, die der Auslieferung entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Verfolgte deutscher Staatsbürger sein könnte (§ 80 IRG). Gründe für die Annahme, dass Vollstreckungsverjährung bereits eingetreten sein könnte, sind nicht erkennbar. Die Grundsätze der Gegenseitigkeit (§ 5 IRG) und der Spezialität (§ 11 IRG) finden nach § 82 IRG keine Anwendung. Die Verurteilung des Verfolgten in D. betraf eine andere Tat als die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Verurteilung. Die F. R. hat auch die Auslieferung nach B. bewilligt (§ 36 IRG).

d) § 83 Nr. 4 IRG steht der Auslieferung ebenfalls nicht entgegen. Denn auch, wenn man eine zeitige Freiheitsstrafe von mehr als 25 Jahren einer lebenslangen Freiheitsstrafe gleichstellt (vgl. Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl., § 73 Rdnr. 60 a), sind dessen weitere Voraussetzungen erfüllt. Nach belgischem Recht findet nämlich auf Antrag oder nach spätestens zwei Dritteln der Strafe, hier also nach 20 Jahren, von Amts wegen eine Überprüfung statt, ob die Strafe auszusetzen ist.

e) Wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung im Sinne von § 73 IRG stehen der Zulässigkeit der Auslieferung ebenfalls nicht entgegen. Insbesondere stellt die Höhe der in B. zu vollstreckenden Strafe hier kein Hindernis dar. Zwar darf ein Verfolgter nicht zur Strafvollstreckung ausgeliefert werden, wenn die Strafe, die gegen ihn im ersuchenden Staat verhängt worden ist, unerträglich hart, mithin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheint (vgl. BVerfGE 75, 1). Dafür genügt allerdings nicht, dass sie lediglich als in hohem Maße hart anzusehen ist und bei einer strengen Beurteilung anhand deutschen Verfassungsrechts nicht mehr als angemessen erachtet werden könnte (BVerfGE 113, 154). Eine in diesem Sinne unerträglich harte Strafe ist vorliegend nicht festzustellen. Zwar beträgt nach deutschem Strafrecht das Höchstmaß der zeitigen Freiheitsstrafe 15 Jahre. Bei Vorliegen entsprechender Umstände kann aber auch bei lediglich versuchtem Mord von der nach §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB fakultativen Strafmilderung wegen Versuchs abgesehen und auf lebenslange Freiheitsstrafe erkannt werden. Die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegende Tat weist nach ihrem konkreten Unrechts und Schuldgehalt so schwerwiegende Umstände auf, dass die verhängte Strafe von 30 Jahren jedenfalls nicht unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheint.

f) Eine Prüfung des von dem ersuchenden Staat formulierten Tatverdachts findet im Auslieferungsverfahren regelmäßig nicht statt. Hiernach kann der Verfolgte nicht mit dem Vorbringen gehört werden, er sei zu Unrecht verurteilt worden. Anhaltspunkte für eine Anwendung von § 10 Abs. 2 IRG liegen nicht vor.

g) Die Generalstaatsanwaltschaft als Bewilligungsbehörde hat unter dem 28. Juni 2007 entschieden, dass sie Bewilligungshindernisse nicht geltend machen werde. Diese Entscheidung hält der nach § 79 Abs. 2 Satz 3 IRG vom Senat vorzunehmenden Überprüfung stand. Sie ist ermessensfehlerfrei auf der Basis eines umfassend und rechtsfehlerfrei ermittelten Sachverhalts im Rahmen des der Bewilligungsbehörde zustehenden Ermessensspielraums getroffen worden. Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, dass sie ein überwiegendes, schutzwürdiges Interesse an einer vorrangigen Strafvollstreckung in D. verneint hat. Das rechtliche Gehör nach § 79 Abs. 2 Satz 4 IRG ist gewahrt.

2.

Gegen den Verfolgten war nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG die Auslieferungshaft - als Überhaft - anzuordnen. Denn es besteht die Gefahr, dass er sich dem Auslieferungsverfahren entziehen würde. Hierfür spricht in erheblichem Maße die Höhe der in B. gegen ihn verhängten Strafe. Zudem bestehen hinreichende soziale Kontakte in D. oder sonstige Umstände, die einer Entziehung entgegen stehen könnten, nicht.

Die Fluchtgefahr entfällt nicht dadurch, dass der Verfolgte derzeit im Inland eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt, von der 15 Jahre nach der aktuellen Strafzeitberechnung am 12. Mai 2017 abgelaufen sein werden.

Der vereinzelt vertretenen Auffassung, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr im Sinne von § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG dann nicht bestehe, wenn der Verfolgte im Inland eine längere Haftstrafe zu verbüßen habe und im konkreten Fall auch nicht mit Lockerungen des Vollzuges oder einer Entscheidung nach § 456 a StPO zu rechnen sei ( so OLG Hamm StV 2003, 91; Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O., § 15 Rdnr. 21 a; Möller NStZ 1991, 606) folgt der Senat nicht.

Die ganz überwiegende Meinung in Rechtsprechung und Literatur, die auch der Senat vertritt, geht dahin, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr allein aus der Sicht des jeweiligen Verfahrens ohne Rücksicht auf in anderen Verfahren angeordnete freiheitsentziehende Maßnahmen zu beurteilen sei (OLG Koblenz MDR 1969, 950; OLG Karlsruhe Justiz 1972, 321; OLG Düsseldorf NJW 1982, 1826; OLG Köln NStZ 1991, 605; ebenso OLG Hamm NStZ 2004, 221 unter Abgrenzung zu der früheren Entscheidung desselben Senats in StV 2003, 91; Wilkitzki, in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., IRG § 15 Rdnr. 27 und 52; Hilger, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Vor § 112 Rdnr. 50; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl., § 112 Rdnr. 17; Boujong, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl., § 112 Rdnr. 15). Die Begründung der Gegenauffassung, dass sich in derartigen Fällen nicht feststellen lasse, dass der Verfolgte sich der Auslieferung überhaupt durch Flucht entziehen könnte, weil er sich bereits in Haft befinde und der rein theoretischen Möglichkeit von Vollzugslockerungen die Anwendung des § 11 Abs. 2 StVollzG entgegen stehe (OLG Hamm StV a.a.O.; Möller a.a.O.), vermag nicht zu überzeugen. Dabei wird nämlich nicht berücksichtigt, dass die in § 11 Abs. 2 StVollzG normierte Flucht und Missbrauchsklausel keine ausreichende Gewähr dafür bietet, dass der Verfolgte sich dem Auslieferungsverfahren nicht durch Flucht entziehen kann. Denn es ist nicht sicher gestellt, dass die Vollzugsanstalt bei der Entscheidung über die Gewährung von Lockerungen immer über die nötigen Informationen zu schwebenden Verfahren und der sich daraus ergebenden Fluchtgefahr verfügt. Außerdem bestehen auch jenseits der Maßnahmen, die der Kontrolle nach § 11 Abs. 2 StVollzG unterliegen, weitere denkbare Fallkonstellationen, in denen die Strafhaft ohne Rücksicht auf das Auslieferungsverfahren beendet oder zumindest unterbrochen werden könnte (hierauf stellt jetzt auch zutreffend das OLG Hamm in NStZ a.a.O. ab).

In Anbetracht der ganz erheblichen Freiheitsstrafe von 30 Jahren sind mildere Maßnahmen nicht geeignet, die Durchführung der Auslieferung zu sichern (§ 25 Abs. 1 IRG). Die Verhältnismäßigkeit der angeordneten Maßnahme steht hiernach nicht in Frage.

Der Senat wird eine Haftprüfung durchführen, wenn der Verfolgte sich zwei Monate im Vollzug der Auslieferungshaft - nicht nur als Überhaft - befunden haben wird.

Ende der Entscheidung

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