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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Beschluss verkündet am 27.10.2008
Aktenzeichen: 1 Ws 523/08
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 67 Abs. 2 Satz 4
Die Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge gemäß § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB setzt nicht die Bestandskraft der aufenthaltsbeendenden Maßnahme voraus; es genügt bereits das Vorliegen einer vollziehbaren Ausreisepflicht gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG mangels aufschiebender Wirkung der verwaltungsgerichtlichen Klage.

Im Rahmen der Entscheidung über die Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge sind die Erfolgsaussichten der Klage des Verurteilten gegen die aufenthaltsbeendende Maßnahme - abgesehen von einer Kontrolle auf offensichtliche Willkür und greifbare Gesetzwidrigkeiten - nicht zu prüfen.

Für die nachträgliche Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge eröffnet § 67 Abs. 3 Satz 2 StGB keinen über die Soll-Regelung des Abs. 2 Satz 4 hinausgehenden richterlichen Ermessensspielraum.


Oberlandesgericht Celle Beschluss

1 Ws 523/08

In der Strafvollstreckungssache

wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u. a.

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft H. gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts H. vom 16. September 2008 nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft und des Verurteilten durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht #######, den Richter am Oberlandesgericht ####### und den Richter am Oberlandesgericht ####### am 27. Oktober 2008 beschlossen:

Tenor:

1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

2. Es wird angeordnet, dass die gegen den Verurteilten mit Urteil des Landgerichts H. vom 26. Oktober 2007 verhängte Gesamtfreiheitsstrafe vollständig vor der Maßregel zu vollziehen ist.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Verurteilte zu tragen.

Gründe:

I.

Mit Urteil des Landgerichts H. vom 20. September 2006 wurde der Verurteilte wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Kokain) in nicht geringer Menge in sechs Fällen sowie wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Kokain) in 16 Fällen schuldig gesprochen. Nach Aufhebung des Urteils durch den Bundesgerichtshof im Gesamtstrafenausspruch und wegen unterbliebener Entscheidung über eine Maßregel nach § 64 StGB hat das Landgericht H. mit Urteil vom 26. Oktober 2007, rechtskräftig seit dem 5. Dezember 2007, gegen ihn eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verhängt und die Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB angeordnet, wobei das Landgericht einen Vorwegvollzug von neun Monaten der Gesamtfreiheitsstrafe angeordnet hat. Seit dem 4. September 2008 befindet sich der bis dahin in der Justizvollzugsanstalt S. einsitzende Verurteilte im Maßregelvollzug im Niedersächsischen Landeskrankenhaus B., Abteilung B. R..

Mit Bescheid vom 19. Juni 2008 hat die Landeshauptstadt H. den Verurteilten wegen der vorgenannten Straftaten aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, seinen Antrag vom 11. Januar 2007 auf Verlängerung der bis zum 21. Dezember 2006 befristeten Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und ihm die zwangsweise Abschiebung in die Türkei angedroht. Gegen diesen Bescheid hat der Verurteilte unter dem 15. Juli 2008 Klage beim Verwaltungsgericht H. erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO hat er bislang nicht gestellt.

Unter dem 8. Juli 2008 hat die Staatsanwaltschaft H. beantragt, nachträglich gemäß § 67 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 Satz 2 StGB anzuordnen, dass die gegen den Verurteilten verhängte Strafe vollständig vor der Maßregel zu vollziehen ist, weil der Verurteilte vollziehbar ausreisepflichtig sei und es auch zu erwarten sei, dass der Aufenthalt des Verurteilten im Bundesgebiet während der Verbüßung der Strafe oder unmittelbar danach beendet werde. Die Staatsanwaltschaft beabsichtige, zum 15. Januar 2009 gemäß § 456 a StPO von der weiteren Vollstreckung abzusehen, so dass der Verurteilte abgeschoben werden könne.

Mit Beschluss vom 16. September 2008 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts H. den Antrag der Staatsanwaltschaft abgelehnt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, dass die im vorliegenden Fall festzustellende vollziehbare Ausreisepflicht nach § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zwar unter den Wortlaut des § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB zu subsumieren sei, dass aber angesichts der Gesetzesmaterialien zweifelhaft sei, ob der Gesetzgeber derartige Fälle tatsächlich im Blick gehabt habe. Jedenfalls sei angesichts der vom Verurteilten erhobenen Klage gegen den Bescheid der Landeshauptstadt H. nicht zu erwarten, dass der Aufenthalt des Verurteilten im Bundesgebiet während der Verbüßung der Strafe oder unmittelbar danach beendet werde. Der Klage sei die Erfolgsaussicht nicht abzusprechen. Außerdem genüge eine Maßnahme der Staatsanwaltschaft nach § 456 a StPO nicht. Die Landeshauptstadt habe nicht mitgeteilt, dass sie in einem derartigen Fall den Verurteilten auch vor Beendigung des Klageverfahrens abschieben werde. Schließlich führt die Strafvollstreckungskammer aus, dass sie selbst bei Erfüllung des Tatbestands von ihrem Ermessen derart Gebrauch gemacht hätte, dass sie die Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge abgelehnt hätte. Der Verurteilte falle nicht in die Kategorie von Tätern, die der Gesetzgeber im Blick gehabt habe, nämlich durchreisende ausländische Drogenkuriere. Dem Verurteilten sei gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG selbst im Falle seiner Abschiebung dauerhaft die Wiedereinreise nicht zu verwehren, zumal er in Deutschland lebende Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit habe. Die Entziehungsbehandlung sei deshalb zur Vermeidung künftiger Straftaten nach einer Wiedereinreise geboten.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Staatsanwaltschaft H. mit der sofortigen Beschwerde, die ihren ursprünglichen Antrag weiterverfolgt. Die Landeshauptstadt H. hat mit Schreiben vom 9. Oktober 2008 mitgeteilt, dass sie im Falle einer Maßnahme nach § 456 a StPO zum 15. Januar 2009 die Abschiebung durchführen werde. Das laufende Klageverfahren stehe dem nicht entgegen, solange das Verwaltungsgericht nicht auf entsprechenden Antrag des Verurteilten die aufschiebende Wirkung angeordnet habe.

II.

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig (§§ 463 Abs. 6 Satz 1, 462 Abs. 3 Satz 1, 311 Abs. 2 StPO) und hat auch in der Sache Erfolg.

1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine nachträgliche Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge gemäß § 67 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 Satz 2 StGB sind erfüllt.

a) Der Verurteilte ist vollziehbar zur Ausreise verpflichtet. Dem steht nicht entgegen, dass er Klage gegen den Bescheid der Ausländerbehörde vom 19. Juni 2008 erhoben hat. Zwar hat die Ausländerbehörde nicht die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet, so dass die Klage dagegen aufschiebende Wirkung hat. Dennoch ist der Verurteilte gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig, weil die Ausländerbehörde zugleich seinen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt hat und gemäß § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG die Klage gegen die Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis keine aufschiebende Wirkung hat, ohne dass es hierzu einer besonderen Anordnung bedarf. Es handelt sich hierbei um eine unabhängig von der gleichzeitigen Ausweisung bestehende selbständige Begründung der vollziehbaren Ausreisepflicht (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 58 AufenthG, Rdnr. 8).

Auf die Bestandskraft der Ausweisung kommt es dagegen nicht an. Maßgeblich ist nach dem Gesetzeswortlaut allein das Bestehen einer vollziehbaren Ausreisepflicht, welche sich nach den Regeln des Aufenthaltsrechts beurteilt (vgl. Senatsbeschluss vom 8. Oktober 2008, 1 Ws 434/08; Fischer, StGB, 55. Aufl., § 67 Rdnr. 14). Wann hiernach eine vollziehbare Ausreisepflicht besteht, ergibt sich aus § 58 Abs. 2 AufenthG (vgl. Schöch, in: LK-StGB, 12. Aufl., § 67 Rdnr. 101). Weder der Wortlaut des § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB noch die Gesetzesmaterialien hierzu ergeben, dass der Gesetzgeber nur bestimmte Fallgruppen der vollziehbaren Ausreisepflicht mit der Regelung erfassen wollte. Vielmehr nimmt die Begründung des Gesetzentwurfs im Zusammenhang mit der Tatbestandsvoraussetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht ausdrücklich auf § 58 Abs. 2 AufenthG Bezug (vgl. BT-Drucks. 16/1110, S. 15). Zwar findet sich hieran anschließend die Formulierung: "Erfasst werden damit neben den Fällen einer bestandskräftigen Ausweisung z.B. auch diejenigen einer unerlaubten Einreise des oder der Verurteilten (§ 58 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG)" (BT-Drucks. aaO). Die Fälle des § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG werden damit jedoch nicht ausgeschlossen; denn es handelt sich nur um eine beispielhafte Aufzählung. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Gesetzgeber sich bei der Wahl der Formulierung in § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB und der Bezugnahme auf den gesamten Absatz 2 des § 58 AufenthG bewusst war, welche Fallgruppen neben den in der Entwurfsbegründung beispielhaft aufgeführten noch davon erfasst werden.

b) Es ist auch zu erwarten, dass der Aufenthalt des Verurteilten im Bundesgebiet während oder unmittelbar nach Verbüßung der Strafe beendet wird. Die Staatsanwaltschaft beabsichtigt, zum 15. Januar 2009 gemäß § 456 a StPO von der weiteren Vollstreckung der Strafe abzusehen, und die Ausländerbehörde hat erklärt, sie werde in dem Fall die Abschiebung durchführen. Das laufende Klageverfahren steht dem nicht entgegen. Ansonsten würde die Regelung des § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG leer laufen. Die Erfolgsaussichten der Klage oder eines möglichen Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO sind in diesem Zusammenhang von den Strafvollstreckungsgerichten nicht zu prüfen. Dies muss - abgesehen von der immer gebotenen Kontrolle auf offensichtliche Willkür und greifbare Gesetzwidrigkeiten - der zuständigen Fachgerichtsbarkeit vorbehalten bleiben. Offensichtliche Willkür oder greifbare Gesetzwidrigkeiten sind vorliegend jedoch nicht festzustellen. Soweit der Verurteilte unter Vorlage einer früheren Entscheidung des Verwaltungsgerichts H. geltend macht, er könne als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger nur unter den strengen Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU, also regelmäßig erst ab einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren, ausgewiesen werden, ist darauf hinzuweisen, dass die Ausländerbehörde in ihrem Bescheid ausführlich und nachvollziehbar dargelegt hat, dass der Verurteilte angesichts seiner Beschäftigungszeiten weder unter die Regelung des Art. 6 ARB 1/80 noch des Art. 7 ARB 1/80 fällt.

Sonstige Umstände, die der Erwartung der Aufenthaltsbeendigung entgegen stehen könnten, etwa eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 a Abs. 2 AufenthG (vgl. Schneider, NStZ 2008, 71), sind vorliegend ebenfalls nicht ersichtlich. Dass dennoch vielfach noch eine gewisse Unsicherheit mit der Erwartung der Aufenthaltsbeendigung trotz Bestehens der Ausreisepflicht verbunden ist, steht der Annahme dieser Voraussetzung nicht entgegen. Der Gesetzgeber hat diese Unsicherheit vielmehr bewusst in Kauf genommen und ihr durch die in § 67 Abs. 3 Satz 3 StGB geregelte Möglichkeit einer Aufhebung der Anordnung der Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge Rechnung getragen (vgl. BT-Drucks. 16/5137, S. 10).

2. Das gerichtliche Ermessen ist vorliegend dahingehend auszuüben, dass der vollständige Vorwegvollzug der Strafe angeordnet wird. Zwar enthält § 67 Abs. 3 Satz 2 StGB die Formulierung, dass das Gericht die Anordnung nach Abs. 2 Satz 4 auch nachträglich treffen "kann". Dieser Wortlaut eröffnet jedoch keinen über Abs. 2 Satz 4 hinausgehenden richterlichen Spielraum; es gilt vielmehr auch hier dessen ermessenseinschränkende Soll-Regelung (vgl. Fischer, a. a. O. Rdnr. 19). Daraus ergibt sich, dass die Anordnung der Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge bei Erfüllung des Tatbestands - wie hier - in der Regel zu treffen ist und nur in begründeten Ausnahmefällen unterbleiben darf. Ein derartiger Ausnahmefall kann etwa vorliegen, wenn der Zustand des Verurteilten seine Behandlung in einer Entziehungsanstalt zur Abwehr unmittelbarer gesundheitlicher Gefahren notwendig erscheinen lässt (vgl. BT-Drucks. 16/1110, S. 15; Schneider a. a. O.). Das ist hier jedoch nicht der Fall. Auch sonst sind keine Umstände vorhanden, die die Annahme eines Ausnahmefalles rechtfertigen. Allein die noch völlig offene Möglichkeit einer späteren Wiedereinreise nach Ablauf einer gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG erfolgten Befristung genügt dafür nicht. Denn diese dürfte in nahezu allen von § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB erfassten Fällen früher oder später bestehen. Ebenso wenig steht der Umkehranordnung entgegen, dass die Revision des Verurteilten seinerzeit gerade im Hinblick auf die unterbliebene Entscheidung über die Maßregel Erfolg hatte. Denn die Sachlage hat sich erst im Nachhinein durch die Entscheidung der Ausländerbehörde geändert, durch die die vollziehbare Ausreisepflicht begründet wurde.

Dem Antrag der Staatsanwaltschaft war hiernach zu entsprechen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 465 Abs. 1 StPO analog.

Ein Rechtsmittel ist gegen diese Entscheidung nicht eröffnet (§ 304 Abs. 4 StPO).

Ende der Entscheidung

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