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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Urteil verkündet am 08.07.2004
Aktenzeichen: 14 U 125/03
Rechtsgebiete: StVG


Vorschriften:

StVG § 7 Abs. 2 a.F.
Nähert sich ein Kraftfahrer einem am Straßenrand wartenden gut 10jährigen Kind, das alsdann unverhofft die Straße zu überqueren versucht, reicht es für den ihm obliegenden Unabwendbarkeitsbeweis aus, dass er sich ab dem Augenblick der Wahrnehmung des Kindes bremsbereit verhält; er ist nicht verpflichtet, sein Fahrzeug bereits zu diesem Zeitpunkt (vorsorglich) abzubremsen, wenn nicht besondere Auffälligkeiten hinzukommen.
Oberlandesgericht Celle Im Namen des Volkes Urteil

14 U 125/03

Verkündet am 8. Juli 2004

In dem Rechtsstreit

hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 2004 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht ... und der Richter am Oberlandesgericht ... und ... für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten zu 2 und 3 wird das am 12. Juni 2003 verkündete Teil und Grundurteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Verden teilweise geändert:

Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.

Die Kläger haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Wert der Beschwer übersteigt 20.000 EUR nicht.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten zu 2 und 3 hat Erfolg und führt dazu, dass auch die gegen sie gerichtete Klage in vollem Umfang abgewiesen wird.

Im Gegensatz zur Auffassung des Landgerichts haften der Beklagte zu 2 als Halter des an dem Unfall mit dem Kläger zu 1 vom 9. Juni 2000 beteiligten Pkw Renault und der Beklagte zu 3 als der Haftpflichtversicherer dieses Fahrzeugs nicht nach § 7 StVG a. F. für die hiervon ausgehende Betriebsgefahr. Der Unfall war für den Beklagten zu 1 als Fahrer des Pkw Renault nämlich nicht zu vermeiden.

Das Landgericht überspannt die Anforderungen an einen äußerst sorgfältigen Autofahrer, wenn es von ihm verlangt, sein Fahrzeug bereits (vorsorglich) abzubremsen, wenn er zwei am Straßenrand wartende Kinder im Alter von ca. 10 bis 12 Jahren bemerkt. Zwar stellt § 3 Abs. 2 a StVO in die Sorgfaltspflicht des Fahrzeugführers gegenüber Kindern erhöhte Anforderungen. Die Rechtsprechung hat aber stets darauf hingewiesen, dass auch gegenüber Kindern die an die Sorgfaltspflicht des Kraftfahrers zu stellenden Anforderungen nicht überspannt werden dürfen, wenn nach der gewöhnlichen Lebenserfahrung eine Gefährdung nicht zu erwarten ist. Auch gegenüber Kindern gilt grundsätzlich der Vertrauensgrundsatz. Nur dann, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigen, die zu Gefährdungen führen könnten, wird von dem Kraftfahrer verlangt, dass er besondere Vorkehrungen (z. B. Verringerung der Fahrgeschwindigkeit oder Einnehmen der Bremsbereitschaft) zur Abwendung der Gefahr trifft (vgl. zum Vorstehenden insgesamt BGH VersR 2000, 1556 f.; OLG Hamm VersR 1992, 204 f.; jeweils mit zahlreichen weiteren Rechtsprechungsnachweisen).

Solche Auffälligkeiten, die die Annahme rechtfertigen würden, dass ein äußerst sorgfältiger Autofahrer nicht auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des Klägers zu 1 vertraut hätte, lassen sich hier nicht feststellen. Jedenfalls bei Kindern im Alter des Klägers zu 1 und des ihn begleitenden Zeugen N. D., bei denen weder aus ihrem Verhalten noch aus der Situation, in der sie sich befanden, Auffälligkeiten zu erkennen waren, braucht der sog. Idealfahrer kein verkehrswidriges Verhalten in Betracht zu ziehen. Während der Kläger zu 1 zum Unfallzeitpunkt 10 Jahre und 4 Monate alt war, war N. D. fast 12 1/2 Jahre alt. Beide standen aus Sicht des aus Richtung O. kommenden Beklagten zu 1 am rechten Fahrbahnrand, und zwar N. D. noch auf dem kombinierten Rad/Gehweg und der Kläger zu 1 rechts versetzt vor ihm auf dem zwischen diesem Weg und der Straße verlaufenden ca. 2,5 m breiten Grünstreifen. Für alle in erster Instanz vernommenen Zeugen, die das Unfallgeschehen beobachtet haben (neben N. D. der weitere Spielkamerad D. K. und die Beifahrerin im Fahrzeug des Beklagten zu 1) kam das Loslaufen des Klägers zu 1 völlig überraschend.

Bei einer solchen Fallkonstellation bedeutet es eine Überspannung der Anforderungen an einen Idealfahrer, von ihm ohne weitere Anhaltspunkte für eine konkrete Gefährdung der von ihm wahrgenommenen Kinder zu verlangen, vorsorglich die Geschwindigkeit zu verringern. Angesichts des Alters der beiden am Straßenrand wartenden Kinder durfte jeder Verkehrsteilnehmer davon ausgehen, dass sie über die notwendige Einsichtsfähigkeit verfügten, sich in der Verkehrssituation, die sich ihnen bot, verkehrsgerecht zu verhalten. Dies gilt hier umso mehr, als die beiden Kinder am Straßenrand bereits angehalten hatten und warteten. In dieser Situation durfte jeder Kraftfahrer darauf vertrauen, dass sie ihn zunächst passieren lassen würden.

Von einem Idealfahrer und damit vom Beklagten zu 1, für den den Beklagten zu 2 und 3 der Unabwendbarkeitsbeweis obliegt, ist allerdings zu verlangen, dass er sich den Kindern nach deren Wahrnehmung bremsbereit nähert, um auf diese Weise seine Reaktionszeit für den Fall zu verringern, dass sich die Kinder doch noch verkehrswidrig verhalten. Ob sich der Beklagte zu 1 der späteren Unfallstelle hier tatsächlich bremsbereit genähert hat, kann hier jedoch letztlich dahinstehen. Denn wie der Sachverständige Dipl.-Ing. K. B. in seinem weiteren vom Senat in Auftrag gegebenen Ergänzungsgutachten vom 16. März 2004 (lose im hinteren Aktendeckel) nochmals überzeugend bestätigt hat, war der Unfall auch dann nicht zu vermeiden, wenn sich der Beklagte zu 1 den Kindern bremsbereit genähert hätte. Dies bedeutet, dass ein etwaiger Verstoß des Beklagten zu 1 gegen die Verpflichtung, sich bremsbereit zu verhalten, jedenfalls nicht unfallkausal geworden ist.

Da die Beklagten zu 2 und 3 nach alledem den ihnen obliegenden Nachweis geführt haben, dass der Unfall für den Beklagten zu 1 im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG a. F. unvermeidbar war, haften sie im Gegensatz zur Auffassung des Landgerichts auch nicht für die von dem Unfallfahrzeug der Beklagten zu 2 ausgehende Betriebsgefahr. Auf ihre Berufung war das angefochtene Urteil daher zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO. Den Wert der Beschwer hat der Senat im Hinblick auf § 26 Nr. 8 EGZPO festgesetzt. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 543 ZPO liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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