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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Beschluss verkündet am 10.11.2005
Aktenzeichen: 22 Ss 72/05
Rechtsgebiete: StVG, FeV, Rl 91/439/EWG d R v 29.7.91


Vorschriften:

StVG § 21
FeV § 28 Abs.
Rl 91/439/EWG d R v 29.7.91 Art. 1 Abs. 2
In EUMitgliedstaaten erteilte Fahrerlaubnisse (Führerscheine) sind ipso iure auch im Inland gültig, solange die Erteilung nicht in den Lauf einer Maßnahme nach Art. 8 Abs.2 Rl 91/439/EWG d.R.v. 29.7.91 (im nationalen Recht § 28 Abs.4 FeV) fällt bzw. eine solche Maßnahme neu getroffen wird. Die Anerkennung einer EU-Fahrerlaubnis darf deshalb nicht von zusätzlichen nationalen Voraussetzungen abhängig gemacht werden.(Konsequenzen aus der Entscheidung des EuGH v. 29. April 2004 "Fall Kapper", NJW 2004, 1725 = NZV 2004, 372)

Der Besitz einer EU-Fahrerlaubnis steht in der Regel einer Verurteilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis entgegen.


22 Ss 72/05

Beschluss

In der Strafsache

wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis

hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts S. - Strafrichter - vom 14. Juni 2005 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ####### sowie die Richter am Oberlandesgericht ####### und ####### am 10. November 2005 beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.

Der Angeklagte wird freigesprochen.

Die Kosten des Verfahrens einschließlich der dem Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last. Diese hat den Angeklagten auch zu entschädigen, soweit ihm durch die Beschlagnahme seines polnischen Führerscheins in der Zeit vom 26. Februar 2005 bis zum 16. März 2005 ein Schaden entstanden ist.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen (vorsätzlichen) Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen á 15 EUR unter Gewährung von Ratenzahlung verurteilt.

Nach den Feststellungen war dem Angeklagten vom Landkreis Sch. mit unanfechtbarer Verfügung vom 5. Juli 2000 die Fahrerlaubnis der Klasse CE entzogen worden, nachdem der Angeklagte entgegen einer vorangegangenen Anordnung des Landkreises kein Gutachten einer medizinischpsychologischen Untersuchungsstelle hinsichtlich seines Cannabis-Konsums beigebracht hatte. Dennoch befuhr der Angeklagte, nachdem er am 20. Dezember 2004 in Polen eine (polnische) Fahrerlaubnis erworben hatte, am 26. Februar 2005 gegen 21:45 Uhr in L. mit einem Pkw die H.straße.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Sprungrevision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt.

II.

Das zulässige Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg. Es führt zur Freisprechung des Angeklagten aus Rechtsgründen.

1. Nach den getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte nicht wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis strafbar gemacht. Der Angeklagte war nämlich Inhaber einer gültigen polnischen Fahrerlaubnis, zu deren Anerkennung die Behörden und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland nach Europarecht verpflichtet sind.

In Umsetzung der sog. 2. EG-Führerscheinrichtlinie (Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein) bestimmt § 28 Abs. 1 FeV, dass Inhaber einer EU oder EWR-Fahrerlaubnis, die wie der Angeklagte ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland haben, grundsätzlich berechtigt sind, in Deutschland im Umfang der Erlaubnis Kraftfahrzeuge zu führen. Allerdings ordnet § 28 Abs. 4 FeV Ausnahmen von diesen Grundsätzen an. U. a. soll nach § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV die Grundregel des Abs. 1 nicht für Inhaber einer EU oder EWR-Fahrerlaubnis gelten, denen die Fahrerlaubnis im Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht bzw. sofort vollziehbar oder bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde entzogen worden ist. Auf diese Vorschrift beruft sich das Amtsgericht, um die Strafbarkeit des Angeklagten wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu begründen. Das ist indes rechtsfehlerhaft, weil § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH NJW 2004, 1725 = NZV 2004, 372, Urt. v. 29. April 2004 "Fall Kapper") restriktiv auszulegen ist und teilweise nicht angewendet werden kann, wenn der Regelungsinhalt vorrangigem europäischem Gemeinschaftsrecht widerspricht (so auch OLG Saarbrücken, NStZRR 2005, 50, 51; vgl. auch Otte/Kühner, "Führerscheintourismus ohne Grenzen?", NZV 2004, 321, 328).

Allerdings befasst sich die Entscheidung des EuGH vom 29. April 2004, worauf das Amtsgericht im Grundsatz zutreffend hinweist, insofern mit einer abweichenden Sachverhaltskonstellation, als es dort um die Frage ging, ob § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV der Anerkennung einer europäischen Fahrerlaubnis auch noch nach Ablauf der im Inland gerichtlich angeordneten Frist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis entgegenstehen kann. Diese Frage hat der EuGH verneint und ausgeführt, zwar erlaube Art. 8 der 2. EG-Führerscheinrichtlinie einem Mitgliedsstaat, die Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedsstaat ausgestellten Führerscheins dann nicht anzuerkennen, wenn dessen Inhaber Maßnahmen der Einschränkung, der Aussetzung, des Entzugs oder der Aufhebung der Fahrerlaubnis unterzogen worden sei. Es handele sich insoweit aber um eine Ausnahmevorschrift, die eng auszulegen sei, sodass die Grundregel der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine gemäß Art. 1 Abs. 2 der 2. EG-Führerscheinrichtlinie jedenfalls nach Ablauf der Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis Vorrang beanspruche und einem zeitlich unbestimmten Vorbehalt gegen die Anerkennung von Führerscheinen anderer Mitgliedsstaaten entgegenstehe (EuGH NJW 2004, 1725, 1727 f.).

Der Europäische Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang über die im Fall Kapper zu entscheidende konkrete Rechtsfrage hinaus zu § 28 FeV ausgeführt, es spiele keine Rolle, dass Zweck dieser Regelung gerade sei, die zeitlichen Wirkungen einer Maßnahme des Entzugs oder der Aufhebung einer früheren Fahrerlaubnis auf unbestimmte Zeit zu verlängern und den deutschen Behörden die Zuständigkeit für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis vorzubehalten. Denn die rechtliche Akzeptanz eines solchen nationalen, zeitlich unbegrenzten Vorbehalts hinsichtlich der Anerkennung eines von einem anderen Mitgliedsstaat ausgestellten Führerscheins bedeute die Negation des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine. "Die Anerkennung eines von einem anderen Mitgliedsstaat ausgestellten Führerscheins" dürfe nicht "unter Berufung auf nationale Vorschriften unbegrenzt" verweigert werden (EuGH NJW 2004, 1725, 1728).

Diese Ausführungen des EuGH können insbesondere im Kontext mit den Erwägungen zur Zulässigkeit der Nachprüfung des Wohnsitzerfordernisses durch nichtausstellende Mitgliedsstaaten (vgl. im nationalen Recht § 28 Abs. 4 Nr. 2 FeV) - insoweit hat der EuGH ausdrücklich eine Überprüfung im Inland abgelehnt und ist von einer automatischen Anerkennung der Fahrerlaubnisse ausgegangen - nur so verstanden werden, dass in Mitgliedsstaaten ausgestellte Fahrerlaubnisse ipso iure auch im Inland gültig sind (vgl. VGH Baden-Württemberg zfs 2004, 482 f.), solange die Ausstellung nicht zeitlich in den Lauf einer Maßnahme nach Art. 8 Abs. 2 der 2. EG-Führerscheinrichtlinie (im nationalen Recht § 28 Abs. 4 FeV) fällt bzw. eine solche Maßnahme neu getroffen wird. Den Mitgliedsstaaten ist es demnach versagt, für ihren Bereich die Anerkennung einer EU-Fahrerlaubnis von zusätzlichen oder abweichenden Bedingungen abhängig zu machen (so bereits OLG Saarbrücken, NStZ-RR 2005, 50 ff.; Otte/Kühner, a.a.O., S. 328).

Dies bedeutet, dass verwaltungsbehördliche Entziehungen gemäß § 46 FeV grundsätzlich eine Anerkennung später erteilter europäischer Führerscheine nicht in Frage stellen können, weil sie einerseits zeitliche Befristungen nicht kennen und andererseits einer Neuerteilung (nach den Regeln einer Ersterteilung) nicht entgegenstehen (anderer Ansicht Geiger, DAR 2004, 340, 341; Haus zfs 2004, 468, deren Auffassung aber der vom Europäischen Gerichtshof betonten Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung gerade nicht gerecht wird). Dies ist unvermeidbar, auch wenn es zu kriminal und verkehrspolitisch unerwünschten Ergebnissen führt, solange der Informationsaustausch zwischen den Führerscheinbehörden der verschiedenen Mitgliedsstaaten nur unzureichend ist und Erkenntnisse eines anderen Mitgliedstaates über die Eignung als Fahrzeugführer bei der Fahrerlaubniserteilung nicht zwingend zu berücksichtigen sind (eine andere Frage ist es insoweit allerdings, ob und unter welchen Voraussetzungen die Inlandsbehörden nicht gemäß §§ 3 Abs. 1 StVG, 46 Abs. 1 und 5 FeV i.V.m. §§ 11 ff. FeV das Recht aberkennen können, von einer ausländischen Fahrerlaubnis Gebrauch zu machen, vgl. dazu Otte/Kühne a.a.O. S. 328).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann die Verurteilung des Angeklagten wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis keinen Bestand haben, weil der Angeklagte zur Tatzeit Inhaber einer ipso iure auch in Deutschland gültigen polnischen Fahrerlaubnis war.

An diesem Ergebnis ändert im Übrigen die am 1. September 2002 in Kraft getretene Regelung des § 28 Abs. 5 FeV nichts, weil auch diese Vorschrift gegen den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Fahrerlaubnisse der Mitgliedsstaaten aus den Gründen der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29. April 2004 verstößt (ebenso OLG Saarbrücken, a.a.O., S. 52).

2. Der Senat konnte vorliegend in der Sache selbst entscheiden.

a) Es besteht keine Verpflichtung zur Vorlage der Sache an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag. Zwar steht dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 177 EWG-Vertrag die verbindliche Auslegung von Europarecht zu und ist die Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof unmittelbar nur in der Sache bindend, in der sie ergangen ist. Einer erneuten Anrufung des Europäischen Gerichtshofs bedarf es jedoch dann nicht, wenn die entscheidungsrelevante Frage für einen vergleichbaren Sachverhalt bereits beantwortet ist und das erkennende Gericht nicht von dieser Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abweichen will. So liegt der Fall hier, weil - wie oben dargelegt - der Europäische Gerichtshof im Fall Kapper die hier wesentlichen Auslegungsfragen bereits entschieden hat und der Senat dieser Rechtsauffassung folgt (zur Frage der Vorlagepflicht ausführlich: OLG Saarbrücken, a.a.O., S. 52).

b) Im Übrigen ergibt sich die Kompetenz zur eigenen Sachentscheidung aus § 354 Abs. 1, 1. Alt. StPO, weil aus den vorstehenden Erwägungen unter 1. aus Rechtsgründen nur der Freispruch des Angeklagten in Betracht kam.

3. Die Kosten und Auslagenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO. Daneben war gemäß §§ 8 Abs. 1 S. 1, Abs. 2; 2 Abs. 1, 2 Nr. 4 StPO die Entschädigungspflicht aus der Staatskasse festzustellen, soweit der Angeklagte durch die Beschlagnahme seines polnischen Führerscheins im Ermittlungsverfahren einen Schaden erlitten hat.

Ende der Entscheidung

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