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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Beschluss verkündet am 23.06.2005
Aktenzeichen: 22 W 32/05
Rechtsgebiete: Nds.SOG, VersG


Vorschriften:

Nds.SOG § 18 Abs. 1
VersG § 15 Abs. 1
1. Eine polizeiliche Auflösungssverfügung muss eindeutig und unmissverständlich formuliert sein. Sie muss unabhängig vom konkreten Wortlaut der Anordnung deren Bedeutung und Tragweite deutlich erkennen lassen.

2. Die Rechtmäßigkeit eines polizeilichen Gewahrsams wird durch dessen konkrete Ausgestaltung nur in Frage gestellt, wenn schwerwiegende Verstöße gegen verfassungsrechtlich geschützte Grundwerte vorliegen. Bloße Beschwernisse und Unannehmlichkeiten reichen hierfür nicht aus.


Oberlandesgericht Celle Beschluss

22 W 32/05

In dem Freiheitsentziehungsverfahren

betreffend J. M. M., geboren 1964 in E., wohnhaft B., C.,

hat der 22. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die weitere sofortige Beschwerde des Landes Niedersachsen gegen den Beschluss der 10. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg vom 19. April 2004 durch den Richter am Oberlandesgericht #######, die Richterin am Oberlandesgericht ####### und den Richter am Oberlandesgericht ####### am 23. Juni 2005 beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Die sofortige Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Dannenberg vom 15. September 2004 wird zurückgewiesen.

Der Betroffene trägt die Kosten des Verfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Der Beschwerdewert wird auf 3.000 € festgesetzt.

Gründe:

I.

Das Land wendet sich gegen den Beschluss des Landgerichts Lüneburg vom 19. April 2004, mit dem dieses die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsame des Betroffenen im Zusammenhang mit dem Castor-Transport am 13. und 14. November 2004 festgestellt hat.

Nach den Feststellungen der Kammer nahm der Betroffene am 13. November 2001 anlässlich des Castor-Transports zusammen mit ca. 100 bis 200 Personen an einer "Sitzblockade" auf der Landstraße 256 in Laase im Landkreis Lüchow-Dannenberg teil, obwohl die Bezirksregierung Lüneburg mit einer Allgemeinverfügung ein Versammlungsverbot u.a. auch für diese Landesstraße im Bereich Laase erlassen hatte.

Die "Sitzblockade" begann gegen 15.00 Uhr, als der Castor-Zug seinen Zielbahnhof Dannenberg erreichte. Nachdem die Polizei davon Kenntnis erlangt hatte, wurden Polizeieinheiten in Laase zusammengezogen. Um 16.02 Uhr wurde durch den vor Ort leitenden Polizeibeamten, Herrn H., folgende Aufforderung über die Lautsprecheranlage des Befehlskraftwagens an die Blockierer gesprochen:

"Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei. Ich wende mich mit dieser Durchsage an die Personen, die auf der L 256 am Ortausgang Laase in Richtung Gorleben auf der Straße sitzen. Ihr Verhalten ist rechtswidrig. Für diesen Bereich besteht ein Versammlungsverbot. Ich fordere Sie auf, die Straße innerhalb von fünf Minuten, ich wiederhole, innerhalb von fünf Minuten zu verlassen. Sollten Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, werde ich die Straße, auch unter Anwendung von Zwangsmitteln, bis hin zum Einsatz des Schlagstocks, räumen lassen. Dies ist die erste Aufforderung, es ist 16 Uhr und 2 Minuten."

Nach zwei weiteren gleichlautenden Aufforderungen um 16.07 Uhr und 16.35 Uhr begann die Polizei die Teilnehmer der "Sitzblockade", die sich ganz überwiegend nicht entfernt hatten, von der Straße zu bringen und in Gewahrsam zu nehmen, darunter auch den Betroffenen. Dieser wurde um 18.11 Uhr in der Gefangenensammelstelle Neu Tramm aufgenommen. Während des Aufnahmeverfahrens musste sich der Betroffene nackt ausziehen, um dann körperlich - auch im Intimbereich - durchsucht zu werden. Bis zu seiner Entlassung am 14. November um 7.30 Uhr - der Castor-Transport hatte das Zwischenlager Gorleben um 7.09 Uhr erreicht - befand er sich in einer Gewahrsamsammelzelle.

Der Betroffene hat am 29. November 2001 die richterliche Prüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung nach § 19 Nds. SOG beantragt. Mit Beschluss vom 15. September 2004 hat das Amtsgericht Dannenberg nach mündlicher Anhörung des Betroffenen seinen Antrag auf nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung und der Behandlung während der Freiheitsentziehung als unbegründet zurückgewiesen.

Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Betroffenen hatte im Wesentlichen Erfolg. Die Kammer hat mit dem angefochtenen Beschluss die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme festgestellt. Zur Begründung hat die Kammer ausgeführt, zum einen fehle es an einer wirksamen Auflösungsverfügung, zum anderen sei der Umstand, dass sich der Betroffene vollständig habe entkleiden müssen, um eine Untersuchung in seinem Intimbereich zu dulden, unverhältnismäßig mit der Folge, dass aus diesem Grunde sich die Gewahrsame insgesamt als rechtswidrig darstelle. Die vom Betroffenen weiter vorgebrachten Umstände - zeitweise Überbelegung der Sammelzelle, unzureichende Belüftung und Versorgung mit Getränken, Dauerbeleuchtung und Reglementierung des Toilettengangs - seien für die zu treffende Entscheidung nach § 19 Nds. SOG rechtlich unbeachtlich. Insoweit hat die Kammer die weitergehende Beschwerde zurückgewiesen.

Gegen diesen ihr am 3. Mai 2005 zugestellten Beschluss wendet sich das durch die Polizeidirektion Lüneburg vertretene Land mit seiner am 13. Mai 2005 bei Gericht eingegangenen weiteren sofortigen Beschwerde.

II.

Die nach § 19 Abs. 2 Satz 4 Nds. SOG i. d. F. vom 19. Januar 2005 zugelassene weitere Beschwerde ist zulässig, insbesondere auch form- und fristgerecht eingereicht (§ 19 Abs. 4 Nds. SOG i.V.m. § 7 Nds. FGG, §§ 27, 29 FGG).

Sie ist auch begründet.

Der Beschluss des Landgerichts beruht auf einer Verletzung des Rechts im Sinne des § 27 FGG und war daher aufzuheben.

Die Ingewahrsame des Betroffenen war nicht rechtswidrig.

1.

Nach den insoweit ausreichenden Feststellungen der Kammer lagen die Voraussetzungen für eine Ingewahrsamnahme nach § 18 Abs. 1 Nr. 2a NGefAG (jetzt Nds. SOG) i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersammlG und nach §§ 18 Abs. 1 Nr. 3, 17 NGefAG (jetzt Nds. SOG) vor. Die Ingewahrsamnahme war unerlässlich, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit , nämlich einen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersammlG, zu vermeiden und um einen polizeilichen Platzverweis nach § 17 Nds. SOG durchzusetzen.

2.

Der Betroffene kann sich nicht auf den Schutz des Versammlungsrechts nach Art. 8 GG berufen.

Entgegen der Auffassung der Kammer hat die Polizei mit der Durchsage des leitenden Polizeibeamten über die Lautsprecheranlage des Befehlskraftwagens an die Blockierer die - durch Allgemeinverfügung verbotene - Versammlung in Gestalt der "Sitzblockade" wirksam nach § 15 Abs. 3 VersammlG a.F. (jetzt § 15 Abs. 4 VersammlG i.F.d. Gesetzes vom 24. März 2005 - BGBl. I S. 969) aufgelöst.

Auflösung ist die Beendigung einer bereits durchgeführten Versammlung mit dem Ziel, die Personenansammlung zu zerstreuen. Der Schutz der Versammlungsfreiheit erfordert, dass die Auflösungsverfügung eindeutig und nicht missverständlich formuliert ist und für die Betroffenen erkennbar zum Ausdruck bringt, dass die Versammlung aufgelöst ist (BVerfG NJW 2005, 353). Die Auflösung einer öffentlichen Versammlung kann danach nicht konkludent, etwa durch Bildung einer Polizeikette, Aufstellung von Absperrgittern oder den Einsatz polizeilicher Schlagwerkzeuge, verfügt werden (OVG Berlin, NVwZ-RR 2003, 896 m.w.N.). Dies ist ihren einschneidenden Folgen geschuldet. Die Auflösungsverfügung nimmt als gestaltender Verwaltungsakt der Versammlung den im Versammlungsgesetzt konkretisierten Schutz des Art. 8 GG und eröffnet die Möglichkeit, gegen die Teilnehmer mit polizeilichen Maßnahmen vorzugehen. Sobald die Auflösung erklärt ist, haben sich die Teilnehmer sofort zu entfernen (§§ 18 Abs. 1, 13 Abs. 2 VersammlG); ordnungswidrig handelt, wer sich trotz Auflösung nicht unverzüglich entfernt (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 VersammlG).

Diesen Anforderungen wird die Durchsage der Polizei hier - noch - gerecht. Zwar ist nicht ausdrücklich von einer "Auflösung" der Versammlung die Rede, aus der Formulierung ergibt sich aber auch unter Berücksichtigung des Empfängerhorizontes mit der erforderlichen Eindeutigkeit der Wille der Polizei, die Auflösung der Versammlung zu verfügen. So sind die Teilnehmer der Sitzblockade zunächst unter Bezugnahme auf das Versammlungsverbot auf die Rechtswidrigkeit ihres Tuns hingewiesen und erst dann aufgefordert worden, die Straße zu verlassen. Damit war für sie eindeutig erkennbar, dass sie sich zu entfernen hatten und den Schutz des Versammlungsrecht nicht für sich in Anspruch nehmen konnten. Sie wussten auch, dass sie für den Fall der Nichtbefolgung mit polizeilichen Maßnahmen zu rechnen hatten. Die Warnfunktion als eigentlicher Sinn und Zweck der Auflösungsverfügung war hier - auch durch die mehrmalige Wiederholung der Durchsage - unzweifelhaft erfüllt. Bei dieser eindeutigen und für jedermann erkennbaren Sachlage war eine den Gesetzwortlaut des § 15 Abs. 4 VersammlG wörtlich wiedergebende Formulierung ("Auflösung") aus Sicht des Senats ausnahmsweise entbehrlich.

Nach alldem liegt dieser Fall auch anders als in den vom Senat bislang zur selben Fragestellung entschiedenen Verfahren (Senatsbeschlüsse vom 7. März 2005 - AZ. 22 W 6/05 und 22 W 7/05), in denen es an jeglicher Ansprache der Teilnehmer der (verbotenen) Versammlung mangelte; er ist auch sonst nicht mit den von der Rechtsprechung im Zusammenhang mit einer nur "konkludenten" Versammlungsauflösung erörterten Sachverhalten vergleichbar (dazu im einzelnen OVG Berlin, aaO).

Entgegen der Auffassung der Kammer handelte es sich bei der Durchsage auch nicht nur um einen Platzverweis nach § 17 SOG. Zwar stellt die Aufforderung, die Straße zu räumen, einen Platzverweis im Sinne des Polizeirechts dar; dieser Aufforderung vorangeschickt war aber der Hinweis, dass das Verhalten der Teilnehmer der "Sitzblockade" wegen des Versammlungsverbotes rechtswidrig war. Damit lag - wie ausgeführt - insgesamt eine wirksame Auflösungsverfügung vor.

3.

Weitere Umstände, die eine Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme begründen könnten, liegen nicht vor.

Die Behandlung während des polizeilichen Gewahrsams und die Art und Weise der Unterbringung sind für die Frage der Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme nach § 18 Nds. SOG grundsätzlich unbeachtlich. Es kann nicht Aufgabe der ordentliche Gerichte sein, jeden einzelnen mit der Freiheitsentziehung im Zusammenhang stehenden Umstand auf seine Rechtmäßigkeit oder gar auf seine Vereinbarkeit mit Verwaltungsvorschriften wie der Polizeigewahrsamsordnung (RdErl. d. MI v. 2.7.2001 - 21.1-12340/1 - VORIS 210011100000061 - Nds.MBl. S. 622) hin zu überprüfen. § 19 Nds. SOG ist eine Ausnahmevorschrift und beschränkt die nachträgliche gerichtliche Überprüfung durch die ordentliche Gerichtsbarkeit auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung als solcher (dazu Saiper, Kommentar zum Nds. SOG, § 19 Rdn. 1ff).

Die Umstände der Unterbringung können allerdings dann Bedeutung für die Frage der Rechtmäßigkeit des polizeilichen Gewahrsams gewinnen, wenn aufgrund einer Gesamtschau aller Umstände so schwerwiegende Verstöße gegen verfassungsrechtlich geschützte Grundwerte vorliegen, dass die Freiheitsentziehung trotz Vorliegens der allgemeinen Voraussetzungen des § 18 Nds. SOG unverhältnismäßig erscheint. Bloße Beschwernisse und Unbequemlichkeiten stellen die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme indes nicht in Frage (dazu OLG Celle, 16. Zivilsenat, Beschluss vom 25. Oktober 2004 - 16 W 145/04 -, NdsRpfl 2004, 348ff).

Anlass zu Überlegungen in diese Richtung könnte hier die vom Betroffenen als schikanös empfundene körperliche Durchsuchung sein, die auch dem Senat nach den Feststellungen der Kammer rechtlich fragwürdig erscheint. Anders als die Kammer ist der Senat aber der Auffassung, dass diese einzelne Maßnahme nicht die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme insgesamt begründet. Vielmehr handelt es sich um eine von der Frage der Freiheitsentziehung rechtlich trennbare, auf einer besonderen, eigenen Ermächtigungsgrundlage (§ 22 Nds. SOG) ergangene polizeiliche Maßnahme, die als eigenständiger Verwaltungsakt vom Betroffenen gesondert angefochten werden kann (§§ 40, 113 VwGO).

Die vom Betroffenen gerügte Art und Weise seiner Unterbringung begründet auch bei der gebotenen Gesamtwürdigung keine Rechtswidrigkeit des polizeilichen Gewahrsams. Schwerwiegende Verstöße gegen verfassungsrechtlich geschützte Grundwerte liegen insoweit nicht vor.

Die von ihm in seiner mündlichen Anhörung beschriebenen Umstände - zeitweise Überbelegung der Sammelzelle, unzureichende Belüftung und Versorgung mit Getränken, Dauerbeleuchtung und Reglementierung des Toilettengangs - stellen sich als bloße Beschwernisse und Unbequemlichkeiten dar, die von den untergebrachten Personen noch hinzunehmen waren. Dass die Polizei - wie es in den Ausführungen des Betroffenen mitschwingt - insgesamt bewusst schikanös verfahren sei, lässt sich bei objektiver Betrachtung der beschriebenen Umstände auch unter Berücksichtigung der fragwürdigen körperlichen Durchsuchung nicht belegen.

III.

Der Senat hat in der Sache selbst entschieden. Eine weitere Sachaufklärung war nicht erforderlich.

Zwar hat die Kammer den vom Betroffenen gerügten Umständen seiner Unterbringung keine eigene rechtliche Bedeutung beigemessen und deswegen keine Feststellungen dazu getroffen. Dies aber zwingt nicht zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, weil das Beschwerdevorbringen - seine Richtigkeit unterstellt - aus den vorstehend ausgeführten Gründen keine andere Entscheidung in der Sache gebietet. Auf das Vorbringen in der mündlichen Anhörung hat die Kammer in zulässiger Weise Bezug genommen; der Senat hat dies berücksichtigt. Mithin war die Sache entscheidungsreif.

IV.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 19 Abs. 4 Nds. SOG, § 7 Nds. FGG, § 13a FGG, § 30 KostO.

Ende der Entscheidung

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