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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Beschluss verkündet am 22.02.2007
Aktenzeichen: 32 Ss 20/07
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 154 Abs. 2
StPO § 200 Abs. 1
StPO § 206a
StPO § 260 Abs. 3
StPO § 349 Abs. 4
StPO § 354 Abs. 1
Lag ein Verfahrenshindernis bereits bei Entscheidung des Tatgerichts vor, ist das angefochtene Urteil insoweit im Revisionsverfahren gemäß § 349 Abs.4 StPO aufzuheben und das Verfahren gemäß § 354 Abs.1 StPO einzustellen. Eine Einstellung gemäß § 206a StPO kommt nicht in Betracht.

Erschöpft das Tatgericht die zugelassene Anklage oder den Strafbefehl nicht, indem es über eine ihm unterbreitete selbständige prozessuale Tat nicht entscheidet, ist das Verfahren wegen dieser Tat weiter beim Tatgericht anhängig, wenn das tatrichterliche Urteil nicht gerade insoweit mit der Revision angefochten wird. Dem Revisionsgericht ist dann hinsichtlich der nicht abgeurteilten Tat jede Entscheidung verwehrt.


Oberlandesgericht Celle Beschluss

32 Ss 20/07

In der Strafsache

wegen Beförderungserschleichung

hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts H. - Strafrichter, Abteilung 210 - vom 6. Oktober 2006 nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ####### und die Richter am Oberlandesgericht ####### und ####### am 22. Februar 2007 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Das Verfahren wird hinsichtlich der Tat vom 21. Juli 2005 eingestellt.

3. Hinsichtlich der Tat vom 9. März 2005 wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision insgesamt - an einen anderen Strafrichter des Amtsgerichts H. zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen Beförderungserschleichung in zwei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 19 € unter Gewährung von Ratenzahlung verurteilt.

Nach den Feststellungen benutzte der Angeklagte am 9. März 2005 gegen 12:00 Uhr eine Straßenbahn der Linie 6 ohne gültigen Fahrausweis, um den Fahrpreis zu sparen. Aus dem gleichen Grund fuhr er am 21. Juli 2005 mit einer Straßenbahn der Linie 9, ohne einen Fahrschein zu lösen. Gestützt hat das Amtsgericht die Verurteilung u. a. auf die Aussagen des Fahrscheinkontrolleurs S. und der Kontrolleurin G..

Dieser Verurteilung war folgender Verfahrensablauf vorhergegangen:

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft H. hatte das Amtsgericht am 25. Novem-ber 2005 Strafbefehl erlassen, mit dem dem Angeklagten drei Fälle der Beförderungserschleichung, begangen am 9. März 2005, 1. Juli 2005 und 21. Juli 2004, zur Last gelegt wurden. In der auf den Einspruch des Angeklagten anberaumten Hauptverhandlung vom 22. Februar 2006 stellte das Amtsgericht das Verfahren hinsichtlich der letztgenannten Tat gemäß § 154 Abs. 2 StPO ein, nachdem es darauf hingewiesen hatte, dass Tatzeit insoweit tatsächlich der 21. Juli 2005 gewesen sei. Wegen der zwei verbliebenen Taten vom 9. März und 1. Juli 2005 wurde der Angeklagte verurteilt, das Urteil jedoch später vom erkennenden Senat aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen. Das Amtsgericht verhandelte darauf am 6. Oktober 2006 erneut und vernahm im Termin die Fahrausweisprüfer Gh. und S. als Zeugen. Es erging das oben dargestellte Urteil.

Gegen dieses wendet sich der Angeklagte mit dem Rechtsmittel der Sprungrevision, mit dem er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.

II.

Das zulässige Rechtsmittel hat Erfolg. Bereits die Sachrüge führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils insgesamt, Einstellung hinsichtlich des die Tat vom 21. Juli 2005 betreffenden Verfahrens und Zurückverweisung der Sache im Übrigen, sodass es eines Eingehens auf die Verfahrensrügen nicht bedarf.

1. Hinsichtlich der Verurteilung wegen der Tat vom 21. Juli 2005 konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben, weil mit dem Einstellungsbeschluss nach § 154 Abs. 2 StPO die gerichtliche Anhängigkeit des diese Tat betreffenden Verfahrens beendet und ein Verfahrenshindernis entstanden war (BGHSt 30, 197, 198).

Die Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO im Hauptverhandlungstermin vom 22. Februar 2006 bezog sich auch auf die Tat vom 21. Juli 2005 und nicht etwa auf eine solche vom 21. Juli 2004, wie es versehentlich im Strafbefehl vom 25. November 2005 geheißen hat. Die Tatzeit konnte nämlich durch einen gerichtlichen Hinweis, wie ihn die Strafrichterin gegeben hat, korrigiert werden. Denn die Tat war auch durch die benutzte Linie und den kontrollierenden Fahrausweisprüfer jedenfalls vor dem Hintergrund, dass dem Angeklagten insgesamt "nur" drei Taten vorgeworfen sind, hinreichend konkretisiert und die falsche Angabe der Jahreszahl anders als bei Serientaten als Schreibversehen für die Verfahrensbeteiligten ohne Weiteres erkennbar (vgl. dazu etwa BGHR, § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO, Tat 19 "Zeitraum bei Serienstraftaten"; BGH NJW 2000, 3293; BGH, Beschluss vom 13.11.2003, 3 StR 359/03, juris = NStZ-RR 2004, 146).

Da das Verfahrenshindernis (Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO) bereits vor Erlass des angefochtenen Urteils eingetreten war, sodass das Amtsgericht nach § 260 Abs. 3 StPO hätte verfahren müssen, war gemäß §§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 1 StPO das Urteil hinsichtlich der Tat vom 21. Juli 2005 aufzuheben und das Verfahren einzustellen (OLG Koblenz, StraFo 2005, 129; KK-Tolksdorf, StPO 5. Aufl., Rdnr. 4 zu § 206 a; Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., Rdnr. 6 zu § 206 a).

Soweit der Bundesgerichtshof (BGHSt 24, 208, 212; 32, 275, 290; aber auch BGHR § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO, Tat 8 "unbestimmte Serienstraftaten") demgegenüber auch eine Einstellung des Verfahrens nach § 206 a StPO zulässt und den Rechtsmittelgerichten insoweit ein Wahlrecht einräumt, folgt der Senat dem nicht. Denn ein solches Wahlrecht oder auch die Einstellung nach § 206 a StPO allein führen ohne Not zu Systemwidrigkeiten im Rechtsmittelverfahren, während die hier vertretene Auffassung die systematisch gebotene Aufhebung des fehlerhaften Urteils des Tatgerichts bewirkt (siehe dazu ausführlich Meyer-Goßner, Anmerkung zu OLG Hamm, Beschluss vom 04.05.1981, 6 Ws 158/81, JR 1982, 390, 391 f.).

2. Auch hinsichtlich der Verurteilung wegen der Tat vom 9. März 2005 hat das Rechtsmittel mit der Sachrüge jedenfalls vorläufigen Erfolg. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts ist insoweit mangelhaft.

Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts und deshalb in der Regel vom Revisionsgericht hinzunehmen. Das ist jedoch nicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich, lückenhaft oder unklar ist bzw. gegen die Denkgesetze, gesichertes Erfahrungswissen oder allgemeine Rechtsgrundsätze verstößt (BGH NStZ 2002, 161 f. = BGHR StPO, § 261, Beweiswürdigung 26). So liegt die Sache hier. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts ist lückenhaft und teilweise unklar, sodass sie für den Senat nicht nachvollziehbar und überprüfbar ist. Das stellt einen sachlich-rechtlichen Mangel dar (siehe nur Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., Rdnr. 26 ff. zu § 337 m. w. N.).

So fehlt es bereits an einer zusammenhängenden Darstellung der Einlassung des Angeklagten, wie sie nach § 267 Abs. 1 StPO grundsätzlich geboten ist.

Soweit das Amtsgericht seine Überzeugung, der Angeklagte habe sich entgegen seiner Einlassung im Tatzeitraum keine Mobilcards gekauft, maßgeblich darauf stützt, der Angeklagte habe zum Grund des Erwerbs einer Mobilcard für vier Tarifzonen "nichts bekundet", vermag der Senat diesen Schluss nicht nachzuvollziehen. Denn es ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht, ob der Angeklagte bei seiner Vernehmung überhaupt nach dem Grund für den Erwerb von Mobilcards für vier Tarifzonen in den Monaten Februar bis Juli 2005 gefragt worden ist. Fehlt es an einer solchen Befragung, lässt sich aus dem Umstand, dass der Angeklagte zu diesem Punkt keine Angaben gemacht hat, jedoch nichts zu seinem Nachteil herleiten.

Ferner bleibt unklar, wie der Angeklagte sich nun genau zum Kauf der von ihm vorgelegten Mobilcards eingelassen hat. Zwar heißt es auf Seite 4 der Urteilsausfertigung, er, der Angeklagte, habe die Mobilcards, die u. a. am 9. März und 21. Juli 2005 gültig waren, selbst gekauft, jedoch heißt es andererseits auf Seite 6 des Urteils, an die Umstände der Änderung der Gültigungsdauer der am 17./18. Februar 2005 erworbenen Karte könne er sich nicht erinnern. Ob dem Angeklagten dieser Widerspruch vorgehalten worden ist und wie er sich dazu ggf. genau eingelassen hat, lässt sich den Urteilsgründen nicht hinreichend deutlich entnehmen. Überhaupt ist für die Würdigung der Einlassung des Angeklagten von Bedeutung, wie der Angeklagte sich exakt zu den behaupteten Mobilcardkäufen eingelassen hat. Gleichwohl fehlen die Darstellung der Aussage des Angeklagten und Feststellungen dazu, wo der Angeklagte die Fahrausweise jeweils gekauft hat, ob er sie stets persönlich gekauft hat und warum er überhaupt eine übertragbare Mobilcard gekauft und nicht zu der preislich günstigeren, nicht übertragbaren Monatskarte gegriffen hat. Zu all dem verhält sich das angefochtene Urteil nicht, obwohl der Tatrichter seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gerade darauf gründet, dass er die Einlassung des Angeklagten zur Frage des Kaufes der Mobilcard für widerlegt hält.

Die Aussagen der Zeugen S. und G. werden inhaltlich nur kursorisch mitgeteilt, indem dargelegt wird, dass die Zeugen ausgesagt hätten, der Angeklagte habe bei den Kontrollen jeweils darauf hingewiesen, eine Mobilcard zu besitzen, sie jedoch vergessen zu haben.

Der unzureichenden Darstellung der Einlassung des Angeklagten und der Zeugenaussagen kommt vorliegend zudem besonders Gewicht zu, weil das Amtsgericht seine Feststellungen auch auf eine - wie gezeigt ansatzweise sogar wiedergegebene - Aussage der Zeugin G. stützt, obwohl diese Zeugin ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 6. Oktober 2006 im Hauptverhandlungstermin gar nicht vernommen worden ist (worin im Übrigen auch ein Verstoß gegen § 261 StPO liegt). Gerade vor diesem Hintergrund bleibt weitgehend unklar, welche Tatsachen das Amtsgericht seiner Überzeugungsbildung zugrunde gelegt hat und wie es zu dieser Tatsachengrundlage gelangt ist.

Schließlich lässt die einseitige Schwerpunktsetzung des Amtsgerichts auf die Frage, ob der Angeklagte die im Hauptverhandlungstermin vorgelegten Mobilcards jeweils selbst gekauft hat, besorgen, dass das Tatgericht die maßgeblichen Gesichtspunkte für die Strafbarkeitsfrage verkannt haben könnte. Denn nach den Feststellungen des Amtsgericht ist die Mobilcard frei übertragbar und berechtigt jeden, der sie gerade bei sich führt, zur Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs. Deshalb kommt es grundsätzlich gerade nicht darauf an, wer die Mobilcard gekauft hat, sondern wem sie tatsächlich zur Verfügung stand. Aus der Überzeugung des Gerichts, der Angeklagte habe die Mobilcard nicht selbst gekauft, lässt sich deshalb ohne ergänzende zusätzliche Erwägungen und Feststellungen auch nicht herleiten, dass er vorsätzlich ohne Fahrschein gefahren ist. Darlegungen hierzu fehlen. Diese sind jedoch unentbehrlich, weil allein die Widerlegung einer entlastenden Einlassung des Angeklagten grundsätzlich nicht Grundlage einer den Angeklagten belastenden Sachverhaltsdarstellung sein kann (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., Rdnr. 11 a zu § 261).

III.

Das angefochtene Urteil und der bisherige Verfahrensgang geben zudem Anlass für nachfolgende Hinweise für die neue Verhandlung und Entscheidung:

1. Ein Verweis auf die bei den Akten befindlichen Mobilcards gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO wegen der Einzelheiten, wie ihn das Amtsgericht vorgenommen hat, ist unzulässig, weil die Fahrausweise keine Abbildungen i. S. der Norm sind (siehe nur Meyer-Goßner, a. a. O., Rdnr. 9 zu § 267).

2. Das angefochtene Urteil verhält sich nicht zu der dem Amtsgericht mit dem Strafbefehl unterbreiteten Tat vom 1. Juli 2005. Das hat zur Folge, dass das Verfahren wegen dieser Tat nach wie vor bei der Abteilung 210 des Amtsgerichts anhängig ist (BGH NStZ 1993, 551 f.; BGHR § 352 Abs. 1 Prüfungsumfang 4, "nicht behandelte Straftat"). Dem Senat ist es deshalb verwehrt, hinsichtlich dieser Tat irgendeine Entscheidung zu treffen. Selbst eine Einstellung nach § 153 oder 154 StPO durch den Senat kommt nicht in Betracht.

Für die weitere Sachbehandlung empfiehlt sich deshalb eine Verbindung der Verfahren (§ 4 Abs. 1 StPO) bei dem infolge der Zurückverweisung neu mit der Sache befassten Strafrichter entweder zu neuer Verhandlung und Entscheidung oder aber zur Einstellung nach § 153 StPO, die nunmehr auch angesichts von Verfah-rensdauer und Zeitablauf seit Tatbegehung ernsthaft in Betracht zu ziehen sein könnte.

Ende der Entscheidung

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