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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Beschluss verkündet am 01.02.2006
Aktenzeichen: 4 AR 2/06
Rechtsgebiete: InsO, ZPO


Vorschriften:

InsO § 3
InsO § 4
ZPO § 281
1. Eine Verweisung des Insolvenzverfahrens durch das für den Sitz der Gesellschaft nach § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO zuständige Insolvenzgericht ist erst zulässig, wenn das Insolvenzgericht sämtliche vorgetragenen Umstände gewürdigt und von Amts wegen den Sachverhalt umfassend aufgeklärt hat.

2. Erfolgt die Verweisung ohne eine entsprechende Prüfung allein aufgrund der Angaben im Insolvenzantrag, entbehrt sie jeder gesetzlichen Grundlage und muss zumindest objektiv als willkürlich angesehen werden.

3. Die Mitnahme der Geschäftsunterlagen durch den (neu bestellten) Geschäftsführer begründet keine Zuständigkeit des für den Wohnsitz des Geschäftsführers zuständigen Insolvenzgerichts.


4 AR 2/06

Beschluss

In dem Verfahren

über die Bestimmung des zuständigen Gerichts

hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht H. und die Richter am Oberlandesgericht R. und P. auf Vorlage des Amtsgerichts - Insolvenzgerichts - Potsdam vom 14. Dezember 2005 am 1. Februar 2006 beschlossen:

Tenor:

Örtlich zuständig ist das Amtsgericht - Insolvenzgericht - L.

Gründe:

I.

Die Schuldnerin hat ihren Sitz in L. Sie ist dort unter HRB 2674 eingetragen. Sie wird derzeit von einem Geschäftsführer vertreten, dessen Anschrift A. P., G. lautet. Seit wann der jetzige Geschäftsführer bestellt ist, kann den Akten nicht entnommen werden. Die letzte Eintragung im HRB ist am 26. Oktober 2005 erfolgt. Nach den Ausführungen des Geschäftsführers im Insolvenzantrag vom 03. November 2005 hat die Schuldnerin ihren Geschäftsbetrieb eingestellt. Die Geschäftsunterlagen sollen sich zum Teil am Wohnsitz des Geschäftsführers befinden, der im Zuständigkeitsbereich des AG P. liegt.

Der jetzige Gesellschafter D. der Schuldnerin hat mit Schriftsatz vom 03. November 2005, eingegangen beim Amtsgericht Lüneburg am 07. November 2005, beantragt, das Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin zu eröffnen. Zugleich hat er den Antrag gestellt, das Verfahren an das für seinen Wohnsitz zuständige Insolvenzgericht in P. zu verweisen, weil eine Geschäftstätigkeit am Sitz der Gesellschaft in L. nicht mehr entfaltet werde. Die Geschäftsräume in L., .. seien aufgegeben worden. Die Geschäftsunterlagen der Schuldnerin habe er teilweise an seinen Wohnsitz verbracht, teilweise seien die Unterlagen zu einer - nicht näher bezeichneten - Wirtschaftsberatungsgesellschaft nach B. verbracht worden, die prüfen solle, ob eine Fortführung von Teilbereichen der Schuldnerin möglich sei.

Das Insolvenzverfahren sei aufgrund der Verbringung der Geschäftsunterlagen in den B. Raum in P. abzuwickeln. Dort würden noch eine Reihe von Abwicklungstätigkeiten, wie die Sichtung und Bearbeitung der Post, die Prüfung von Gewährleistungsansprüchen usw., die Erstellung von Umsatzvoranmeldungen usw. entfaltet. Ob mit der Durchführung dieser Abwicklungstätigkeiten die "Wirtschaftsberatungsgesellschaft" in B. beauftragt worden ist, oder der Geschäftsführer D. selbst diese Tätigkeiten ausführen will, ist dem Antrag nicht eindeutig zu entnehmen, jedenfalls soll in G. die Erreichbarkeit der Schuldnerin im Rahmen des Insolvenzverfahrens jederzeit gesichert sein.

Mit Beschluss vom 08. November 2005 hat sich das Amtsgericht Lüneburg - Insolvenzgericht - im Hinblick auf die Angaben des Antrag stellenden Geschäftsführers der Schuldnerin ohne weitere Ermittlungen für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das für dessen Wohnsitz zuständige Amtsgericht P. verwiesen. Eine Begründung dieser Entscheidung ist dem Beschluss nicht zu entnehmen, abgesehen von einem nicht näher ausgeführten Verweis auf "Schmerbach, Frankfurter Kommentar, § 3, Rn. 9 ff".

Mit Beschluss vom 14. Dezember 2003 hat auch das Amtsgericht Potsdam seine örtliche Zuständigkeit verneint und die Sache zur Gerichtsstandsbestimmung nach § 4 InsO i. V. m. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO dem Oberlandesgericht Celle vorgelegt. Zur Begründung hat das Amtsgericht Potsdam ausgeführt, eine örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Potsdam sei nicht gegeben. Der Sitz der Schuldnerin liege nicht im Zuständigkeitsbereich des Gerichts, eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit der Schuldnerin existiere dort ebenfalls nicht. Das AG L. habe nicht ausgeführt, warum trotz der Einstellung des Geschäftsbetriebs der Schuldnerin eine Geschäftstätigkeit in P. bestehen solle, die eine Zuständigkeit nach § 3 Abs. 1 InsO begründen könne. Mit der Rechtsprechung zur Zuständigkeitserschleichung, die der Verweisungsentscheidung des AG Lüneburg entgegen stehe, habe sich das AG nicht auseinander gesetzt.

Für das Insolvenzverfahren sei deshalb das Amtsgericht Lüneburg - Insolvenzgericht - zuständig. Der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts sei ausnahmsweise auch nicht bindend geworden. Er sei willkürlich.

II.

Das Oberlandesgericht Celle ist zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonfliktes zwischen dem zunächst befassten Amtsgerichts - Insolvenzgericht - L. und dem Amtsgericht - Insolvenzgericht - P. gemäß § 4 InsO i. V. m. § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO, § 9 EGZPO berufen.

Die Voraussetzungen für die gerichtliche Bestimmung des zuständigen Gerichts gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Sowohl das Amtsgericht L. als auch das Amtsgericht Ch. haben sich rechtskräftig für unzuständig erklärt. Das Amtsgericht P. hat die Akten zur Bestimmung des zuständigen Gerichts gemäß § 37 Abs. 1 ZPO vorgelegt.

Zuständig für die Entscheidung über den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist das Amtsgericht - Insolvenzgericht - L.. In seinem Bezirk befindet sich der im Handelsregister eingetragene Sitz der Schuldnerin. Der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts L. vom 08. November 2005 ist objektiv willkürlich und hat deshalb keine Bindungswirkung nach § 4 InsO i. V. m. § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entfaltet.

1. Die Schuldnerin hat nach der Mitteilung ihres jetzigen Geschäftsführers in dem Antrag vom 03. November 2005 ihren Geschäftsbetrieb eingestellt und ihre Geschäftsräume aufgegeben. Die Anwendung des § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO - nach dieser Vorschrift ist das Insolvenzgericht zuständig, in dessen Bezirk der Mittelpunkt der selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners liegt (dazu: Kübler/Prütting, InsO, § 3 Rz. 7; MünchKommInsO/Ganter, § 3 Rz. 7 ff.; Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl., § 3 Rz. 4) - auf den sich das Insolvenzgericht L. seine nicht näher begründete Entscheidung wohl gestützt hat, als es seine Zuständigkeit verneint hat, kommt hiernach nicht mehr in Betracht.

2. Das Insolvenzgericht L. hätte deshalb die Beurteilung seiner Zuständigkeit auf § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO stützen müssen. Nach dieser Vorschrift ist das Insolvenzgericht örtlich ausschließlich zuständig, in dessen Bezirk der Schuldner seinen allgemeinen Gerichtsstand hat. Da vorliegend der Sitz der Schuldnerin im Zuständigkeitsbezirk des Insolvenzgerichts L. liegt, hätte das Gericht seine örtliche Zuständigkeit nicht verneinen dürfen. Eine Sitzverlegung nach P. ist unstreitig nicht erfolgt.

3. Soweit in dem Insolvenzantrag ausgeführt worden ist, dass in P./B. noch umfangreiche Abwicklungstätigkeiten stattfänden, vermögen diese eine Zuständigkeit nach § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht zu begründen, da es sich nicht um auf wirtschaftlichen Erwerb gerichtete Tätigkeiten, sondern um bloße Abwicklung handelt, sofern derartige Tätigkeiten tatsächlich überhaupt stattfinden. Die Angaben der Schuldnerin bestehen im Übrigen ohnehin nur aus einem nichtssagenden Katalog theoretisch denkbarer Abwicklungsmaßnahmen, dem jegliche Substanz fehlt. Die Angaben zu den angeblichen Abwicklungsmaßnahmen im Antrag sind genauso unbestimmt, wie die Angaben zur Aufgabe der selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin. Bei dieser Sachlage ist eine Zuständigkeit des für den "Geschäftssitz" des neuen Geschäftsführers zuständigen Insolvenzgerichts ausgeschlossen, zumal dieser nicht einmal offen legt, welche Unterlagen er an seinen Wohnsitz mitgenommen hat und welche Unterlagen er der "Wirtschaftsberatungsgesellschaft" überlassen hat, deren genaue Bezeichnung und Anschrift im Insolvenzantrag verheimlicht wird.

4. Allein die Mitnahme der Geschäftsunterlagen begründet eine Zuständigkeit des für den Sitz des Geschäftsführers zuständigen Insolvenzgerichts nicht (s. OLG Celle, ZInsO 2004, 205 = NZI 2004, 258; OLG Celle, ZInsO 2004, 91; OLG Hamm, ZInsO 1999, 533; MünchKommInsO/Ganter, § 3 Rz. 8, Uhlenbruck, 12. Aufl., § 3 Rz. 11). Zwar wird erwogen, eine Zuständigkeit des Gerichts am Wohnsitz des Geschäftsführers dann anzunehmen, wenn dieser tatsächlich noch Abwicklungstätigkeiten entfaltet. Insoweit hat aber das Insolvenzgericht L. im Rahmen seiner Verpflichtung, die Zuständigkeit von Amts wegen aufzuklären (dazu: Kübler/Prütting, InsO, § 3 Rz. 13 f.) nicht ermittelt, ob tatsächlich noch Abwicklungsmaßnahmen in P./B. stattfinden.

Die Zuständigkeit des Insolvenzgerichts, bei dem der Geschäftsführer der nicht mehr werbend tätigen Gesellschaft seinen Wohnsitz hat, kann allenfalls ganz ausnahmsweise gegeben sein, wenn keine andere Zuständigkeit greift. Deshalb muss das Insolvenzgericht, das seine nach § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO an sich gegebene Zuständigkeit verneint, im Einzelnen feststellen, welche Tätigkeiten am Sitz des Geschäftsführers tatsächlich noch entfaltet werden, die es rechtfertigen könnten, das Verfahren an dieses Gericht zu verweisen. Auf die pauschale Behauptung, die Abwicklung werde vom Wohnsitz des Geschäftsführers aus geleitet, darf es die Verneinung seiner örtlichen Zuständigkeit jedenfalls nicht stützen.

Dieser seitens des OLG Celle schon bisher vertretenen Auffassung (vgl. OLG Celle, ZInsO 2004, 205 = NZI 2004, 258) hat sich nunmehr auch der BGH in einem Verfahren auf Vorlage des OLG Karlsruhe angeschlossen, in dem das OLG das Insolvenzgericht am Sitz des zur Durchführung des Insolvenzverfahrens neu bestellten Geschäftsführers entgegen der Auffassung der Mehrzahl der Oberlandesgerichte (vgl. BayObLG NJWRR 2004, 986; OLG Celle, a.a.O.; OLG Stuttgart, OLGR 2004, 184; OLG Schleswig, NZI 2004, 264) als für die Durchführung des Insolvenzverfahrens zuständiges Gericht bestimmen wollte und die Sache deshalb wegen seiner abweichenden Rechtsauffassung dem BGH nach § 36 Abs. 3 InsO zur Entscheidung vorgelegt hat (vgl. BGH, Beschl. v. 13.12.2005 - X ARZ 223/05). Eine Verweisung des Insolvenzverfahrens durch das für den Sitz der Gesellschaft nach § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO zuständige Insolvenzgericht ist jedoch nach dieser Entscheidung des BGH erst zulässig, wenn das Insolvenzgericht sämtliche vorgetragenen Umstände gewürdigt und von Amts wegen den Sachverhalt weiter aufgeklärt hat. Erfolgt die Verweisung - so wie dies auch vorliegend geschehen ist - ohne eine entsprechende Prüfung, entbehrt sie auch nach der Entscheidung des BGH jeder gesetzlichen Grundlage und muss als willkürlich betrachtet werden.

5. Irgendwelche konkreten Anhaltspunkte für eine von § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO abweichende örtliche Zuständigkeit sind vorliegend nicht festzustellen, der Senat hatte deshalb das Amtsgericht - Insolvenzgericht - L. als örtlich zuständiges Gericht zu bestimmen, weil die Schuldnerin ihren Sitz auch weiterhin in seinem Bezirk hat (s. hierzu auch BayObLG, NZI 1999, 457; OLG Braunschweig, NZI 2000, 266, 267; OLG Hamm, ZInsO 1999, 533; OLG Hamm, NZI 2000, 220, 221; OLG Köln, NZI 2000, 232). Der allgemeine Gerichtsstand einer GmbH ist der satzungsmäßig festgelegte und in das Handelsregister eingetragene Sitz der Gesellschaft (§ 4 InsO i. V. m. §§ 12, 17 Abs. 1 ZPO, §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 7 Abs. 1, 10 GmbHG). Eine Sitzverlegung von L. nach P. ist unstreitig nicht erfolgt, die Verlagerung der Geschäftsleitung und die Aufgabe der Geschäftsräume hat den Sitz der Gesellschaft unberührt gelassen.

III.

Durch den Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts L. ist eine Bindungswirkung nicht eingetreten. Die Verweisung war objektiv willkürlich (dazu BGH, Beschl. v. 13. 12. 2005 - X ARZ 223/05; BGH, NJW 1993, 1273; BayObLG, NZI 2001, 372, 373; OLG Celle, ZInsO 2004, 205; Senat, Beschl. v. 17.08.2004 - 4 AR 71/04, ZInsO 2005, 100; Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl., § 3 Rz. 7; Zöller/Greger, ZPO, § 36 Rz. 17, 17 a), weil das Amtsgericht L. seine örtliche Zuständigkeit verneint hat, obwohl es nicht festgestellt hat, tatsächlich unzuständig zu sein. Das Amtsgericht L. - Insolvenzgericht - hat keine Umstände ermittelt, die berechtigte Zweifel an seiner gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO offensichtlich gegebenen örtlichen Zuständigkeit hätten rechtfertigen können. Es hatte aufgrund der Angaben des Geschäftsführers der Schuldnerin im Insolvenzantrag keinen Anlass, zu dem für die Zuständigkeitsbestimmung maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung von einer selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin in B./P. gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO und damit von einer vorrangigen Zuständigkeit des Amtsgericht P. auszugehen. Vielmehr hatte es schon aufgrund des Insolvenzantrags, der entsprechenden Musteranträgen entspricht, derartig viele Anhaltspunkte für einen Fall der gewerbsmäßigen "Firmenbestattung", dass es sich mit der Frage einer Erschleichung der Zuständigkeit des Amtsgerichts P. durch den neu bestellten Geschäftsführer der Schuldnerin hätte auseinander setzen müssen. Da dies unterblieben ist und das Insolvenzgericht seiner Amtsermittlungspflicht aus § 5 InsO nicht nachgekommen ist, war es als örtlich zuständiges Insolvenzgericht zu bestimmen (s. auch BGH, Beschl. v. 13. 12. 2005 - X ARZ 223/05).

Ende der Entscheidung

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