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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Urteil verkündet am 24.09.2003
Aktenzeichen: 9 U 114/03
Rechtsgebiete: BGB, ZPO, SGB VII


Vorschriften:

BGB § 823 Abs. 1
ZPO § 531 Abs. 2
ZPO § 531 Abs. 1
SGB VII § 2 Abs. 1 Nr. 8
SGB VII § 2 Abs. 2 Nr. 8
SGB VII § 8 Abs. 1
SGB VII § 105 Abs. 1 S. 1
SGB VII § 106 Abs. 1 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Oberlandesgericht Celle Im Namen des Volkes Urteil

9 U 114/03

Verkündet am 24. September 2003

In dem Rechtsstreit

pp.

hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. S... und die Richter am Oberlandesgericht Prof. Dr. A... und S... aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10. September 2003 für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts L... vom 25. April 2003 wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsrechtszuges.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Beschwer: unter 20.000 Euro.

Gründe:

I.

Der Kläger begehrt Schmerzensgeld wegen einer Knieverletzung, die ihm der damals die zweite Grundschulklasse besuchende Beklagte am 1. Juni 2001 auf dem Schulgelände zugefügt haben soll. An diesem Tage fand in zeitlichem Zusammenhang mit dem Schulunterricht eine körperliche Auseinandersetzung zwischen den Parteien statt, deren genauen Umstände streitig sind. Der Kläger hat erstinstanzlich behauptet, im Verlauf der Auseinandersetzung habe ihm der Beklagte gezielt durch einen Griff das Knie verdreht. Das Landgericht hat die Klage nach Vernehmung eines Zeugen aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen abgewiesen.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Vorbringen in modifizierter Form weiter und macht sich die Sachdarstellung des vernommenen Zeugen zu Eigen. Er meint im Übrigen, die Sachdarstellung des Zeugen sei nach Tatort, Tatzeit und erlittener Verletzung nicht wesentlich abweichend vom anfänglichen Vortrag des Klägers; der Zeuge habe bestätigt, dass der Beklagte ohne erkennbaren Grund auf den Kläger losgegangen sei und ihn vorsätzlich verletzt habe. Dahingestellt bleiben könne, ob die Verletzung durch einen Sprung ins Knie, wie der Zeuge ausgesagt habe, oder durch ein Verdrehen des Knies erfolgt sei. Jedenfalls aber habe das Landgericht auf die Bedeutung der Abweichung ausreichend hinweisen müssen, wenn es die Sachdarstellung des Zeugen zur Entscheidungsgrundlage habe machen wollen. Der Eintritt einer schweren Verletzungsfolge im Falle eines direkten Angriffs im Kniebereich sei als möglich vorauszusehen. Somit habe der Beklagte den Eintritt des Erfolges billigend in Kauf genommen und bedingt vorsätzlich gehandelt. Die Zufügung körperlicher Schmerzen ziehe in der Regel eine Verletzung des von der Handlung betroffenen Körperteils nach sich. Diese Verknüpfung sei auch einem Jugendlichen im Alter des Beklagten zugänglich.

Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und bestreitet ohne weiteren Beweisantritt sowohl die Verlaufsschilderung des Klägers als auch die Angaben des Zeugen. Das Landgericht habe in der mündlichen Verhandlung die Konsequenzen der Beweisaufnahme erörtert.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist nicht begründet, weil ein deliktischer Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB wegen der Enthaftungsregelung im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht gegeben ist.

1.

a) Der Kläger stützt seine Klage in der Berufungsinstanz auf neues Vorbringen, weil er sich erst mit der Berufungsbegründung die von seinem erstinstanzlichen Sachvortrag erheblich abweichende Aussage des erstinstanzlich vernommenen Zeugen zu Eigen gemacht hat. Entgegen der Ansicht des Klägers stimmt die Darstellung des Zeugen nicht im Wesentlichen mit dem Geschehensablauf überein, den der Kläger vorgetragen hat. Die Unterschiede sind im Hinblick auf die spezifischen Vorsatzerfordernisse der Haftung für eine schulbezogene Verletzung (nachfolgend 2.) relevant. An einer eigenmächtigen Verwertung der Sachdarstellung des Zeugen war das Landgericht aufgrund der Verhandlungsmaxime gehindert (vgl. dazu BGH NJW-RR 1990, 507; Musielak, ZPO, 3. Aufl. 2002, Einl. Rdnr. 37). Den Prozessvertreter des Klägers auf dieses Grundprinzip des Zivilprozessrechts hinzuweisen, hatte das Landgericht keinen Anlass; erst recht brauchte es ihm seinen eigenen klagebegründenden Vortrag nicht in Erinnerung zu rufen.

b) Der Senat hat erhebliche Bedenken, das neue Vorbringen des Klägers in der Berufungsinstanz zuzulassen, braucht dazu aber keine abschließende Entscheidung zu treffen, weil die Klage auch auf der Grundlage dieses Vorbringens unbegründet ist. Der Zulassung des zweitinstanzlichen Vorbringens steht der Wortlaut des § 531 Abs. 2 ZPO entgegen. Der Kläger hat in der Verhandlung vor dem Senat keine Gründe vorzutragen vermocht, aus denen sich ergibt, dass er nicht nachlässig gehandelt hat, als er die Geltendmachung der nunmehrigen Sachdarstellung in erster Instanz unterließ (§ 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO); er musste schließlich selbst am besten wissen, wie er verletzt worden ist. Die ZPO-Reform des Jahres 2001 wollte die Ermittlung des entscheidungserheblichen Prozessstoffes grundsätzlich auf die erste Instanz konzentrieren, um damit für eine schonende Inanspruchnahme der Rechtsprechungsressourcen zu sorgen (vgl. nur MünchKommZPO/Rimmelspacher, Ergänzungsband 2. Aufl. 2002, § 531 Rdnr. 1). Allerdings wird die Auffassung vertreten, in erster Instanz zurückgewiesene Angriffs- und Verteidigungsmittel, die nach § 531 Abs. 1 ZPO präkludiert sind, ohne dass es darauf ankommt, ob der Rechtsstreit durch eine zweitinstanzliche Zulassung verzögert wird, seien ausnahmsweise zuzulassen, wenn die Tatsachen in der Berufungsinstanz unstreitig geworden sind (MünchKommZPO/Rimmelspacher § 531 Rdnr. 14 in Verb, mit Rdnr. 11; Zöller/Gummer, ZPO 23. Aufl. 2002, § 531 Rdnr. 10). Der Senat lässt dahingestellt, ob dieser Ansicht zu folgen ist und ob die Ausnahme auch im Rahmen des § 531 Abs. 2 ZPO für unstreitiges neues Vorbringen gilt oder gar in der besonderen Konstellation des vorliegenden Falles für Tatsachenstoff, der zwar streitig geblieben ist, jedoch in erster Instanz nach einer Beweisaufnahme abschließend und umfassend gewürdigt worden ist, und der ohne Angriffe auf die Beweiswürdigung mangels weiterer Beweisantritte keiner weiteren Aufklärung zugänglich ist.

2. Ein deliktsrechtlicher Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB ist aufgrund der Enthaftungsregelung der §§ 105 Abs. 1 S. 1, 106 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII nicht gegeben, weil der Beklagte die Verletzung dem Kläger schulbezogen zugefügt und dabei nicht mit einem auf die behaupteten schweren Verletzungsfolgen bezogenen Vorsatz gehandelt hat.

Es ist zwischen den Parteien nicht streitig, dass die Verletzung einen Versicherungsfall i.S.d. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII darstellt, nämlich einen Unfall bei einer versicherten schulbezogenen Tätigkeit nach §§ 8 Abs. 1, 2 Abs. 2 Nr. 8 SGB VII. Raufereien zwischen Schülern vor oder nach dem Schulunterricht auf dem Schulgelände und daraus hervorgehende Verletzungen sind unabhängig vom Ausmaß der Aggressivität dem versicherten Schulbesuch zuzurechnen (vgl. dazu BGHZ 67, 279, 283; VersR 1990, 404; NJW 1992, 2032, 2033; Wussow/Schneider, Unfallhaftpflichtrecht, 15. Aufl. 2002, Kap. 80 Rdnr. 135, 139).

Als Vorsatz reicht zwar bedingter Vorsatz aus. Er muss sich aber nicht nur auf die bloße Schädigungshandlung erstrecken, sondern Eintritt und Umfang des konkret eingetretenen Schadens umfassen (BGH NJW 2003, 1605 = VersR 2003, 595; OLG Nürnberg NJW-RR 2003, 160; Senat VersR 1999, 1550; für den eigentlichen Arbeitsunfall ebenso BAG NJW 2003, 1890, 1891; Wussow/Schneider Kap. 80 Rdnr. 87). Insoweit weicht die Regelung von den zu § 823 Abs. 1 BGB aufgestellten Anforderungen ab, wonach das Verschulden nicht auf den Haftungsumfang zu beziehen ist (für privilegierte Arbeitnehmerhaftungen zur Verminderung voller Risikozurechnung ebenfalls abweichend BAG NJW 2003, 377, 380). Die Einwände gegen die gefestigte und vom BGH jüngst bekräftigte Rechtsprechung (Ebers NJW 2003, 2655) sieht der Senat als nicht stichhaltig an; sie werden dem System der begrenzten Haftungsersetzung durch Unfallversicherungsschutz nicht gerecht.

Es sind keinerlei konkrete Anhaltspunkte (zu diesem Erfordernis OLG Nürnberg NJW-RR 2003, 160, 161) dafür ersichtlich, dass der Beklagte die schweren und eventuell dauerhaften Folgen der Knieverletzung des Klägers vorhergesehen hat. Im Gegenteil spricht das Lebensalter des Beklagten, der im Verletzungszeitpunkt Zweitklässler war, gegen eine derartige Folgenerwägung, wie bereits das Landgericht zutreffend angenommen hat. Sie setzt laienhafte anatomische Kenntnisse über den Aufbau des Knies voraus, die regelmäßig erst in höherem Lebensalter erworben werden. Es ist nicht einmal festzustellen, dass der Beklagte überhaupt damit rechnete, mit dem Sprung gegen das Bein des Klägers speziell dessen Knie zu treffen.

Für den Schmerzensgeldanspruch ist irrelevant, dass der Beklagte sich vorgestellt haben wird, dass der Sprung gegen das Bein des Klägers schmerzhafte Wirkung haben werde. Eine in den Vorsatz aufgenommene minderschwere Gesundheitsbeeinträchtigung, die bei Überschreitung bloßen Bagatellcharakters zur Gewährung eines Schmerzensgeldbetrages deutlich unterhalb der Begehrensvorstellung des Klägers führen könnte, müsste von der Verletzung mit den eingetretenen schweren Folgen klar abgrenzbar sein; dazu lassen sich keine Feststellungen treffen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Ende der Entscheidung

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