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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Dresden
Beschluss verkündet am 11.07.2007
Aktenzeichen: 8 U 1000/07
Rechtsgebiete: GVG


Vorschriften:

GVG § 119 Abs. 1 Nr. 1b
1. Eine unter Hinweis auf § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG vorgenommene Weiterleitung der Akten durch das als Berufungsgericht angerufene Landgericht an das Oberlandesgericht, um die der Berufungsführer nicht gebeten hat, begründet grundsätzlich keine Sachbefassungs- und Entscheidungszuständigkeit des letztgenannten Gerichtes.

2. Eine solche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts scheidet erst recht dann aus, wenn die Weitergabe der Akten ohne Gewährung rechtlichen Gehörs erfolgt ist, die funktionelle Unzuständigkeit des angerufeenen Landgerichts nicht einmal klar auf der Hand liegt und der Berufungsführer überdies nachträglich deutlich macht, dass er das Landgericht weiterhin für zuständig hält.


Oberlandesgericht Dresden

Aktenzeichen: 8 U 1000/07

Beschluss

des 8. Zivilsenats vom 11.07.2007

In dem Rechtsstreit

wegen Mietforderung; PKH-Antrag für beabsichtigte Berufung

hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Dresden ohne mündliche Verhandlung durch

Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht H... , Richter am Oberlandesgericht B... und Richter am Amtsgericht R...

beschlossen:

Tenor:

Die Sache wird an das Landgericht Chemnitz zur Fortführung des dort anhängigen Verfahrens 6 S 162/07 zurückgegeben.

Gründe:

I.

Am 27.04.2007 reichte der Beklagte, dem das anzugreifende Urteil des Amtsgerichts am 04.04.2007 zugestellt worden war, einen Prozesskostenhilfeantrag nebst Entwurf einer Berufungsbegründung beim Landgericht ein. Der Kammervorsitzende leitete den Antrag der Prozessbevollmächtigten des Klägers zu. Diese hielt das Gesuch für nicht aussichtsreich; zu Recht habe das Amtsgericht der Klage stattgegeben. Am 21.06.2007 verfügte der Berichterstatter der Kammer:

"2. Das Landgericht Chemnitz ist nicht für die Entscheidung über die Berufung/den PKH-Antrag des Berufungsverfahrens zuständig. Der Kläger hatte zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit seinen allgemeinen Gerichtsstand im Ausland. Aus diesem Grunde ist für die Berufung gegen die Entscheidung des Amtsgerichtes ausschließlich das OLG Dresden zuständig.

3. Ziffer 2 zur Kenntnisnahme an die Prozessbevollmächtigten beider Seiten unter Hinweis darauf, dass die Akte dem Oberlandesgericht Dresden vorgelegt wird.

4. Akte an OLG Dresden unter Hinweis auf Ziffer 2 der Verfügung.

5. Abtragen."

Die Akten gingen am 28.06.2007 beim Oberlandesgericht ein. Nach einem telefonischen Hinweis des Senatsvorsitzenden auf § 119 GVG und zur Frage der Wiedereinsetzung hat der Beklagte geltend gemacht, ausweislich der Klageschrift habe der Kläger bei Klageerhebung in Deutschland gewohnt. Damit sei das Landgericht Chemnitz zuständig. Bei diesem sei der Prozesskostenhilfeantrag rechtzeitig gestellt worden, so dass es auf Wiedereinsetzungsfragen nicht ankomme.

II.

Eine Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag hat der Senat nicht zu treffen. Vielmehr ist die Sache an das Landgericht zur weiteren Behandlung und Entscheidung in eigener Zuständigkeit zurückzugeben.

1. Der Beklagte hat das Landgericht als (künftiges) Berufungsgericht angerufen und nicht, auch nicht im Sinne einer nachträglichen Billigung, um "Verweisung" oder formlose Angabe an das Oberlandesgericht gebeten. Die unaufgeforderte Weitergabe der Akten durch ein fälschlich angerufenes Landegericht an das in Wahrheit gemäß § 119 GVG zuständige Oberlandesgericht kann im Einzelfall angebracht sein und die Sachbefassungs- und Entscheidungszuständigkeit des letztgenannten Gerichtes begründen. Voraussetzung ist aber stets, dass die Unzuständigkeit des vom Berufungsführer/Antragsteller angerufenen Landgerichts klar und unzweifelhaft auf der Hand liegt. Diese Einschränkung gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - den Beteiligten, namentlich dem (künftigen) Berufungsführer, vor der Abgabe kein rechtliches Gehör gewährt worden und außerdem, bezogen auf ein Verfahren vor dem Oberlandesgericht, sowohl die Berufungsfrist als auch die identische Frist zur Stellung eines Prozesskostenhilfeantrages, um später Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist erlangen zu können, verstrichen ist.

2. Im Streitfall ist nicht ausgeschlossen, sondern liegt im Gegenteil sogar nahe, dass das Landgericht funktionell zuständig ist.

Die Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG, der auch für mietrechtliche Streitigkeiten der vorliegenden Art eingreift (grundlegend BGH, Beschluss vom 15.07.2003 - VIII ZB 30/03, NJW 2003, 3278), sind nach dem Wortlaut der Vorschrift erfüllt, wenn der Kläger im Zeitpunkt der (Begründung der) Rechtshängigkeit keinen inländischen allgemeinen Gerichtsstand hatte. Das hat der Berichterstatter des Landgerichts ohne nähere Erläuterung angenommen. Der Beklagte behauptet dagegen unter Hinweis auf die in der Klageschrift vom 10.01.2006 mitgeteilte Anschrift in Köln das Gegenteil. Im gesamten ersten Rechtszug und bis zur Berichterstatterverfügung des Landgerichts vom 21.06.2007 spielte die Frage, ob der Kläger bei Zustellung der Klage am 29.05.2006 seinen Wohnsitz (§ 13 ZPO) und damit seinen allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland hatte, keine Rolle. In einem Schriftsatz vom 22.01.2006 teilte die Prozessbevollmächtigte des Klägers dem sachbearbeitenden Amtsgerichtsdirektor zwar "wunschgemäß" (den Akten ist nicht zu entnehmen, ob es einen solchen Wunsch gab und woher dieser ggf. rührte) die Anschrift des Mandanten wie folgt mit: P.O. Box 35, B... , Südafrika.

Schon wie diese Nachricht zu deuten ist, namentlich ob dies bedeuten sollte, der Kläger habe seinen Wohnsitz als dauerhaften Lebensmittelpunkt in Südafrika, ist aber offen. Überdies wurde der Schriftsatz vom 22.01.2006 - entgegen einem handschriftlichen Zusatz in der Verfügung des Amtsgerichtsdirektors - im Zuge der Zustellung der Anordnung des schriftlichen Vorverfahrens vom 15.05.2006 und der Klage dem Beklagten nicht übermittelt. Dies hat der sachbearbeitende Rechtsanwalt des Beklagten in einem Telefonat vom 09.07.2007 anhand des ihm vollständig vorliegenden Akteninhalts versichert; der Inhalt des Empfangsbekenntnisses vom 29.05.2006 stimmt hiermit überein. Damit ist gegenwärtig davon auszugehen, dass der Beklagte erstmals durch das Rubrum des Prozesskostenhilfebeschlusses des Amtsgerichts vom 25.10.2006 von der Postfachanschrift des Klägers in Südafrika und durch die Terminierungsverfügung vom selben Tag von der - später befolgten - Aufforderung des Gerichts an den Kläger erfahren hat, eine zustellungsfähige Anschrift mitzuteilen. Er konnte deshalb - nach dem bisherigen Erkenntnisstand - mindestens bis zum 09.07.2007 davon ausgehen, der Kläger habe seinen Wohnsitz von der in der Klageschrift und auch im Mietvertrag genannten Anschrift in Köln erst nach Zustellung der Klage nach Südafrika verlegt.

Bei dieser Sachlage spricht Überwiegendes für die Berufungszuständigkeit des Landgerichts. Weder war erstinstanzlich "unstreitig" (solches schied bereits mangels Kenntnis des Beklagten vom Schriftsatz vom 22.01.2006 aus), noch hat das Amtsgericht ausdrücklich festgestellt, dass der Kläger bei Zustellung der Klage keinen Inlandswohnsitz hatte. Wie in einer solchen, ganz außergewöhnlichen Konstellation § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG zu handhaben ist, ist trotz inzwischen beinahe zahlloser Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zu § 119 GVG noch nicht höchstrichterlich geklärt. Zwar obliegt dem Berufungsführer der Nachweis der Prozessvoraussetzung der funktionellen Zuständigkeit des angerufenen Gerichts (BGH, Beschlüsse vom 28.03.2006 - VIII ZB 100/04, NJW 2006, 1808 und vom 19.09.2006 - X ZB 31/05, Volltext in juris). Danach müsste, damit die Zuständigkeit des angerufenen Landgerichts eröffnet ist, grundsätzlich der Beklagte beweisen, dass der Kläger bei Zustellung der Klage seinen allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland hatte. Dies liegt hier aber unter zwei Gesichtspunkten nahe:

Zum einen könnte der Wohnsitz des Klägers in Deutschland im Mai 2006, bezogen auf den Sach- und Streitstand erster Instanz, sogar - gewissermaßen umgekehrt - als unstreitig zu behandeln sein, weil der "blasse" Inhalt der nachgereichten Mitteilung des Klägers zu einer Postfachanschrift in Südafrika die klare (Wohnsitz-)Angabe in der Klageschrift womöglich nicht entkräftete, sondern nach wie vor von einem Wohnsitz des deutschen Klägers in Deutschland auszugehen war. Dieser unstreitige erstinstanzliche Sachverhalt wäre dann der Prüfung der Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG bindend zugrunde zu legen (BGH, Beschluss vom 28.01.2004 - VIII ZB 66/03, NJW-RR 2004, 1073).

Wollte man den Schriftsatz vom 22.01.2006 dagegen großzügig als neue Wohnsitzangabe bzw. jedenfalls als eindeutigen Hinweis auf einen nicht mehr in Deutschland bestehenden allgemeinen Gerichtsstand des Klägers verstehen, wäre zum anderen die Frage zu beantworten, ob die objektiv formulierten Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG wortlautgetreu selbst dann anzuwenden sind, wenn dem beklagten inlandsansässigen Berufungsführer eine Klageschrift zugestellt wurde, die eine Klägeranschrift in Deutschland bezeichnet, und er bis zur Einlegung des Rechtsmittels (bzw. Stellung eines entsprechenden Prozesskostenhilfeantrages) auch sonst keine Informationen über die Wohnsitzverlagerung des Klägers ins Ausland vor Rechtshängigkeit erhalten hat. Manches dürfte dafür sprechen, in einem solchen außergewöhnlichen Fall den Anwendungsbereich der Vorschrift nicht für eröffnet zu halten und eine teleologische Reduktion zu erwägen. Gerade weil die Norm - die im Lichte des rechtsstaatlichen Gebotes der Rechtsmittelklarheit auszulegen ist, welches die den Parteien in zumutbarer Weise mögliche Ermittlung des zuständigen Rechtsmittelgerichtes einschließt - auf klare, den Parteien erkennbare Verhältnisse abstellt und dem Berufungsführer die Darlegungs- und Beweislast für die funktionelle Zuständigkeit des angerufenen Gerichts obliegt, kam nach dem Kenntnisstand des Beklagten im Grunde nur die Anrufung des Landgerichts in Betracht; die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts konnte er hingegen - ohne weitere Nachforschungen, zu denen aus seiner Sicht kaum Anlass bestanden haben dürfte - bis zum Ablauf der Berufungsfrist nicht einmal darlegen.

3. Die vorbezeichneten und andere Fragen, die sich stellen könnten, hat der Senat derzeit nicht zu entscheiden. Da jedenfalls von einer unzweifelhaften Zuständigkeit des Oberlandesgerichts gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG nicht ausgegangen werden kann, ist die Sache an das vom Antragsteller angerufene und auch nachträglich für allein zuständig gehaltene Landgericht zurückzugeben. Vorsorglich wird der Beklagte, dessen Prozessbevollmächtigte seit dem 09.07.2007 Kenntnis von dem Inhalt des Schriftsatzes vom 22.01.2006 haben, darauf hingewiesen, dass es sich, sollte in Wahrheit die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts begründet sein, aus Gründen äußerster anwaltlicher Sorgfalt empfehlen könnte, innerhalb unter Umständen seit dem 09.07.2007 laufender "Wiedereinsetzungsfrist" für das rechtzeitige Vorliegen eines Prozesskostenhilfeantrages samt Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse oder einer Berufungsschrift samt Wiedereinsetzungsantrag beim Oberlandesgericht Sorge zu tragen. Eine förmliche Verweisung zwischen Landgericht und Oberlandesgericht wird nach Auffassung des Senates nicht in Betracht kommen (vgl. Senatsbeschluss vom 11.12.2006 - 8 U 1940/06, OLGR Dresden 2007, 288).

Ende der Entscheidung

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