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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Dresden
Beschluss verkündet am 11.12.2006
Aktenzeichen: Ss (OWi) 650/06
Rechtsgebiete: StVG, StVO, BKatV


Vorschriften:

StVG § 24
StVO § 1 Abs. 2
StVO § 9
StVO § 9 Abs. 5
StVO § 49 Abs. 1 Nr. 1
BKatV § 1
Den auf einem Tankstellengelände an einer Tanksäule rückwärts fahrenden Pkw-Fahrer trifft gegenüber dem hinter ihm stehenden Fahrzeug nur die sich aus § 1 Abs. 2 StVO ergebende allgemeine Rücksichtnahmepflicht, nicht jedoch die erhöhte Sorgfaltspflicht aus § 9 Abs. 5 StVO.
Oberlandesgericht Dresden Beschluss

Aktenzeichen: Ss (OWi) 650/06

vom 11. Dezember 2006

in der Bußgeldsache

wegen Verkehrsordnungswidrigkeit

Tenor:

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Torgau vom 02. Mai 2006 im Schuld- und Rechtsfolgenausspruch wie folgt neu gefasst:

Der Betroffene wird wegen fahrlässigen Außerachtlassens der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt mit Schädigung eines anderen zu einer Geldbuße von 35,00 EUR verurteilt.

2. Die Liste der angewendeten Vorschriften wird wie folgt neu gefasst: §§ 1 Abs. 2, 49 Abs. 1 Nr. 1 StVO, § 24 StVG, § 1 BKatV, Nr. 1.4 BKat.

3. Die Kosten des Rechtsmittels und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Betroffenen hat die Staatskasse zu tragen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen "wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 9 Abs. 5, 1 Abs. 2, 49 StVO, § 24 StVG" zu einer Geldbuße von 60,00 EUR verurteilt.

Der Betroffene befuhr am 18. Juli 2005 in Torgau die in der Eilenburger Straße gelegene HEM-Tankstelle und wartete in seinem Fahrzeug vor einer Zapfsäule. Als er nach etwa drei bis vier Minuten bemerkt hatte, dass er sich an einer Zapfsäule für Lkw-Diesel befand, entschloss er sich, an eine andere Zapfsäule zu fahren. Er setzte deshalb zurück und kollidierte aus Unachtsamkeit mit einem etwa fünf bis sechs Meter hinter ihm stehenden Lkw.

Gegen das Urteil richtet sich der Betroffene mit seinem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Er meint, es liege lediglich ein (fahrlässig begangener) Verstoß gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht vor, der die Verhängung der Regelgeldbuße von 35,00 EUR rechtfertige.

Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat beantragt, den Zulassungsantrag als unbegründet zu verwerfen.

II.

Mit Beschluss vom heutigen Tag hat der zuständige Einzelrichter die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts zugelassen, um vereinzelte obergerichtliche Leitsätze zu festigen (vgl. Göhler-Seitz, OWiG, 14. Aufl., § 80 Rdnr. 3 m.w.N.). Der Senat für Bußgeldsachen entscheidet über die Rechtsbeschwerde nunmehr in der Besetzung mit drei Richtern (§ 80 a Abs. 3 OWiG).

Die zugelassene Rechtsbeschwerde hat in vollem Umfang Erfolg; sie führt im Wege der eigenen Sachentscheidung des Senats zu der angestrebten Neufassung des Schuld- und Rechtsfolgenausspruchs.

1. Das Fehlen ausdrücklicher Rechtsbeschwerdeanträge ist im vorliegenden Fall unerheblich. Das Urteil wird auf eine zugelassene Rechtsbeschwerde nur geprüft, soweit es angefochten ist (§ 352 Abs. 1 StPO, §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 3 OWiG). Der Umfang der Anfechtung muss deshalb grundsätzlich durch die Rechtsbeschwerdeanträge bezeichnet werden, die in der Begründungsschrift zu stellen sind (§ 344 Abs. 1 StPO, §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 3 OWiG) und die den erstrebten Umfang der Urteilsaufhebung (§ 353 Abs. 1 StPO, §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 3 OWiG) klarstellen müssen.

Das Fehlen eines solchen Antrages ist jedoch unschädlich, wenn das Ziel der Rechtsbeschwerde aus der Begründungsschrift erkennbar ist (Göhler-Seitz, OWiG, 14. Aufl., § 79 Rdnr. 27 a m.w.N.).

Im vorliegenden Fall kann der Begründungsschrift mit der notwendigen Klarheit entnommen werden, dass der Betroffene lediglich eine Verurteilung wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO zu der Regelgeldbuße von 35,00 EUR anstrebt.

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die Erwägungen, mit denen das Amtsgericht einen Verstoß gegen §§ 9 Abs. 5, 49 Abs. 1 Nr. 2 StVO angenommen hat, halten sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Zutreffend ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass sich der Betroffene beim Zurücksetzen seines Fahrzeugs auf dem Tankstellengelände im öffentlichen Verkehrsraum befunden hat. Denn öffentlich im Sinne des Straßenverkehrsrechts sind auch die Wege und Plätze, die aufgrund ausdrücklicher oder stillschweigender Billigung des Verfügungsberechtigten für die Benutzung durch jedermann tatsächlich freigegeben sind. Dies gilt damit auch für eine Tankstelle, jedenfalls solange die Abgabe von Treibstoff möglich ist (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1988, 231; OLG Köln NZV 1994, 438 jeweils m.w.N.).

Gleichwohl ist § 9 Abs. 5 StVO im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Die Vorschrift regelt primär die besondere Sorgfaltspflicht gegenüber dem fließenden Verkehr (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 9 StVO, Rdnr. 51 m.w.N.). Der mit dem fließenden - und deshalb in der Regel rascheren - Verkehr verbundenen erhöhten Unfallgefahr soll durch eine gegenüber der allgemeinen Sorgfaltspflicht aus § 1 Abs. 2 StVO gesteigerte Sorgfaltspflicht desjenigen begegnet werden, der im fließenden Verkehr rückwärts fährt oder in diesen Verkehr rückwärts einfährt (OLG Stuttgart NZV 2004, 420). Dies ist bei dem auf einem Tankstellengelände herrschenden Verkehr nicht der Fall. Denn hier hat weniger das Bestreben nach möglichst zügiger Orstveränderung Bedeutung, sondern das Befahren des Tankstellengeländes dient dem Aufsuchen von Tanksäulen oder sonstiger Einrichtungen der Tankstelle (OLG Düsseldorf NZV 1988, 231). Die Verkehrssituationen sind vielmehr mit denen auf Parkplätzen sowie in Parkhäusern und Tiefgaragen vergleichbar (vgl. hierzu OLG Frankfurt VRS 57, 207; OLG Frankfurt VRS 57, 207; DAR 1980, 247; KG Berlin VRS 64, 104; OLG Hamburg DAR 2000, 41). Auch der Verordnungsgeber war der Ansicht, dass sich § 9 StVO nur an den Fahrverkehr wendet (VkBl. 1970, 806).

Die vom Amtsgericht zur Begründung der erhöhten Sorgfaltspflicht herangezogene Auffassung, dass auch Fußgänger von dem Schutzzweck des § 9 Abs. 5 StVO erfasst sein sollen (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 9 StVO Rdnr. 51), ändert die Bewertung des vorliegenden Falls nicht; der Betroffene ist mit einem stehenden Fahrzeug kollidiert.

Soweit das Oberlandesgericht Köln meint, durch § 9 Abs. 5 StVO werde jeder Verkehrsteilnehmer geschützt (VersR 1992, 332; DAR 2001, 223), ist eine Vorlage an den Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 GVG, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG nicht veranlasst. Die zitierten Entscheidungen sind in Zivilsachen ergangen (OLG Stuttgart DAR 1995, 32 m.w.N.; Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., § 121 GVG Rdnr. 6) und betrafen zudem andere Sachverhalte. In dem einem Fall war ein Fußgänger geschädigt worden, in dem anderen Fall ein Verkehrsteilnehmer, der aus einem Grundstück auf die Straße eingefahren war.

III.

Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen sind vollständig. Es ist auszuschließen, dass eine neue Hauptverhandlung noch Aufschlüsse zu erbringen vermag. Der Senat entscheidet deshalb in der Sache selbst (§ 79 Abs. 6 OWiG) und verhängt wegen des von den Urteilsfeststellungen getragenen fahrlässigen Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO die Regelgeldbuße gemäß § 1 BKatV, Nr. 1.4 BKat in Höhe von 35,00 EUR.

IV.

Die Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Betroffenen beruht auf § 473 Abs. 3 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., § 473 Rdnr. 23; OLG Düsseldorf JR 1991, 120).

Ende der Entscheidung

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