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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 28.08.2000
Aktenzeichen: 1 U 272/99
Rechtsgebiete: StVG, StVO, ZPO


Vorschriften:

StVG § 17 Abs. 1
StVO § 9 Abs. 5
ZPO § 92 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

1 U 272/99 17 O 149/99 LG Wuppertal

Verkündet am 28. August 2000

G, Justizangestellte als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf auf die mündliche Verhandlung vom 19. Juni 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. E, den Richter am Oberlandesgericht P und den Richter am Landgericht B

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 19. Oktober 1999 verkündete Urteil des Landgerichts Wuppertal unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefaßt:

Es wird festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger 30 % der künftigen materiellen Schäden aus dem Unfall vom 06.01.1996 zu ersetzen, soweit kein gesetzlicher Forderungsübergang auf Dritte erfolgt.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des ersten Rechtszuges tragen der Kläger zu 93 % und der Beklagte zu 7 %.

Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 96 % und der Beklagte zu 4 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist im wesentlichen unbegründet.

I.

Da der Unfall vom 6. Januar 1996 weder für den Kläger noch für den bei dem Unfall verstorbenen Versicherungsnehmer des Beklagten unabwendbar war (§ 7 Abs. 2 StVG), was beide Parteien einräumen, ist eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile nach § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmen.

Im Rahmen dieser Abwägung sind zu Lasten einer Partei nur solche Umstände zu berücksichtigen, die unstreitig oder bewiesen sind. Das Landgericht hat dem Kläger danach einen Anspruch auf Ersatz von - auch durch den Beklagten anerkannten - 30 % seiner unfallbedingten Schäden zuerkannt. Der Senat hält diese Haftungsverteilung entgegen der Auffassung des Klägers, der auch in der Berufungsinstanz eine Quote von 2/3 zu seinen Gunsten weiterverfolgt, für zutreffend.

1.

Dem Kläger ist ein schuldhafter Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO anzulasten. Der Unfall hat sich unstreitig im Zuge eines vom Kläger mit seinem Pkw durchgeführten Wendemanövers ereignet. Damit spricht für sein unfallursächliches schuldhaftes Verhalten aber bereits ein Anscheinsbeweis.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der sich der Senat angeschlossen hat (vgl. BGH DAR 1985, 316; Urteil des Senats vom 7. Oktober 1996 - 1 U 28/96), ist davon auszugehen, daß zur Begründung dieses Anscheinsbeweises genügt, daß das Wendemanöver unstreitig oder nachgewiesen ist. Nach der Lebenserfahrung ist dann, wenn ein wendendes Kraftfahrzeug mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs zusammenstößt, die Schlußfolgerung gerechtfertigt, daß der Wendende sich nicht so verhalten hat, daß eine Gefährdung des anderen unfallbeteiligten Verkehrsteilnehmers ausgeschlossen war (§ 9 Abs. 5 StVO). Die Typizität des Geschehensablaufs als Grundlage des Anscheinsbeweises wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß Herr M S mit seinem Motorrad Y die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um mindestens 18 km/h; möglicherweise sogar erheblich mehr, überschritten hat. Gleichfalls ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, daß Herr S unmittelbar vor dem Zusammenstoß - vermutlich vorschriftswidrig (Überfahren einer durchgezogenen Linie) - mehrere Pkw in einem Zug überholt hatte und anschließend nicht ordnungsgemäß nach rechts eingeschert, sondern im Bereich der Fahrbahnmitte geblieben war. All diese Umstände geben dem Unfallereignis in seiner Gesamtheit nicht den Anstrich eines atypischen Geschehensablaufs. Bedeutung gewinnen sie erst für die Frage der Erschütterung des Anscheinsbeweises.

Der den Kläger belastende Anscheinsbeweis ist nicht erschüttert. Der Kläger hat nicht nachgewiesen, daß die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes besteht. Zwar muß der Kläger nicht beweisen, daß das Fahrzeug des fließenden Verkehrs bei Beginn des Wendemanövers noch unsichtbar oder jedenfalls noch so weit entfernt war, daß er dessen Gefährdung für ausgeschlossen halten durfte (vgl. BGH a.a.O.; Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 3. Aufl., § 16 StVG Rdnr. 915). Indessen genügt die Möglichkeit einer ungewöhnlich hohen Annäherungsgeschwindigkeit zur Entkräftung des Anscheinsbeweises nicht. Ausgeräumt ist er auch nicht dadurch, daß Herr S bei Beginn des Wendemanövers für den Kläger unsichtbar gewesen sein kann. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus. Vielmehr hätte zur Überzeugung des Senats ein Sachverhalt feststehen müssen, aus dem sich die ernsthafte Möglichkeit einer so hohen Geschwindigkeit des Motorradfahrers S ergibt, daß er für den Kläger bei Einleitung des Wendemanövers noch nicht sichtbar oder noch so weit entfernt war, um von ihm als gefährdet angesehen werden zu müssen. Dieser Nachweis ist dem Kläger nicht gelungen. Er hat auch nicht bewiesen, daß die behauptete Unsichtbarkeit des Motorradfahrers infolge des Überholvorgangs (Verdecktsein durch die überholten Pkw) mehr als eine bloße Möglichkeit ist. Wahrscheinlich war der Motorradfahrer für den Kläger bei äußerster Sorgfalt als ein Verkehrsteilnehmer sichtbar, der bei Durchführung des Wendemanövers in Gefahr geraten kann.

Bereits die Feststellungen des Sachverständigen P denen der Kläger nicht entgegengetreten ist, sprechen dafür, daß dieser eine Gefährdung des auf seinem Motorrad herannahenden Versicherungsnehmers des Beklagten nicht ausschließen durfte. Das beleuchtete Motorrad war im Zeitpunkt der Entschließung des Klägers, das Wendemanöver durchzuführen, 72,5 m bis 85 m vom Kollisionsort entfernt, bei Einleitung des Wendemanövers waren es noch 62 m Iris 73 m. Auch in der Zeit zwischen der Entschlußfassung und dem Anfahren muß sich der Wendende mit äußerster Sorgfalt darüber vergewissern, ob er sich gefahrlos in den Raum des fließenden Verkehrs begeben und das Wendemanöver einleiten und durchführen kann, ohne die Fahrzeuge des fließenden Verkehrs zu gefährden. Daß diese mit überhöhter Geschwindigkeit herankommen, muß in Rechnung gestellt werden; allerdings nur in gewissen Grenzen, die hier aber nicht überschritten sind.

Es kann nicht festgestellt werden, daß der Versicherungsnehmer des Beklagten im Zeitpunkt des Beginns des Wendemanövers verdeckt war, so daß der Kläger von einem für den Motorradfahrer ungefährlichen Wenden ausgehen konnte. Einiges spricht für die gegenteilige Annahme.

Der Sachverständige P schließt zwar nicht aus, daß sich die beiden Kräder eventuell noch im "Sichtschatten" hinter den zu überholenden Personenkraftwagen befanden, als der Kläger sich entschloß, das Wendemanöver einzuleiten. Entsprechende Feststellungen für den entscheidenden Zeitpunkt des Beginns des Wendemanövers konnte der Sachverständige jedoch nicht treffen. Vorliegend kann schon nach der Weg-Zeit-Berechnung des Sachverständigen P nicht ausgeschlossen werden, daß der Überholvorgang bereits beendet war und sich die Motorräder vor den überholten Kraftfahrzeugen befanden, als der Kläger sich entschloß, das Wendemanöver durchzuführen. Selbst wenn die Motorräder sich in diesem Moment noch im Überholvorgang befunden haben sollten, bleibt in Betracht zu ziehen, daß zumindest die Körper der Fahrer für den Kläger zu erkennen waren. Eine nahezu liegende Haltung des Herrn S ist zwar möglich, aber nicht einmal wahrscheinlich.

Die Einholung des von der Berufung beantragten Sachverständigengutachtens zu der behaupteten Unmöglichkeit, den Versicherungsnehmer des Beklagten zu erkennen, verspricht keine weitere Aufklärung. Dazu müßte unter anderem festgestellt werden können, wo sich die Pkw im Zeitpunkt der Entschlußfassung des Klägers bzw. beim tatsächlichen Beginn des Wendemanövers befanden. Derartige Berechnungen erfordern aber, wie dem Senat als Fachsenat für Verkehrsunfallsachen bekannt ist, nicht mehr mögliche Feststellungen zu dem konkreten Beschleunigungsverhalten der überholten Kraftfahrzeuge nach deren Anfahren an der vor dem Kollisionsort gelegenen Kreuzung.

Im übrigen ist auch ungeklärt, in welcher Position (normal sitzend oder liegend) Herr S die Pkw überholt hat.

2.

Auch den Versicherungsnehmer des Beklagten trifft aufgrund der Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit ein unfallursächliches Verschulden, was auch der Beklagte einräumt.

Zu seinen Lasten ist jedoch lediglich eine Geschwindigkeit von 68 km/h zu berücksichtigen, die der Sachverständige P als untere Grenze angenommen hat.

3.

Berücksichtigt man bei der Abwägung dieses beiderseitige unfallursächliche Verschulden, gelangt man mit dem Landgericht zu einer Quote von 70 % zu Lasten des Klägers. Den Wendenden treffen gegenüber dem fließenden Verkehr besondere Sorgfaltspflichten. Er hat jede Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Demgegenüber wiegt die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um 18 km/h weniger schwer.

II.

1.

Unter Berücksichtigung dieser Quote hält der Senat das bereits an den Kläger gezahlte Schmerzensgeld in Höhe von 20.000 DM als Ausgleich für die Folgen der unfallbedingten Verletzungen und ihren fortbestehenden Beschwerden - vereinzelt verspürt er noch ein Kribbelgefühl und es bestehen noch Einschränkungen bei schnellem Laufen - für ausreichend. Bei dem Kläger ist zwar, was das Landgericht nicht berücksichtigt hat, eine Fußheberschwäche als Dauerschaden verblieben. Diese beeinträchtigt den Kläger zur Zeit jedoch objektivierbar nicht in nennenswertem Umfang. Nach dem vorgelegten Gutachten des Neurologen Dr. T zeigt sich bei dem Kläger ein unauffälliges Gangbild.

2.

Dem weiteren Zahlungsanspruch des Klägers (233,33 DM) steht, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, unter Berücksichtigung der bereits erfolgten Zahlungen des Beklagten die festgestellte Quote entgegen.

3.

Aufgrund der nach der Erfahrung des Senats beim Kläger durch die knöchernen Verletzungen bestehenden Arthrosegefahr und dem von dem Beklagten zugestandenen Haftungsanteil von 30 % war dem nunmehr im Berufungsverfahren erstmals gestellten Feststellungsantrag hinsichtlich des materiellen Zukunftsschadens unter Berücksichtigung der Quote teilweise zu entsprechen.

4.

Was den immateriellen Zukunftsschaden angeht, so hat der Kläger den erstinstanzlich gestellten Feststellungsantrag im zweiten Rechtszug ausdrücklich fallen gelassen (Berufungsbegründung Seite 2).

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Anlaß, die Revision zu zuzulassen, besteht nicht (§ 546 Abs. 1 ZPO).

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird in Abänderung des Beschlusses des Senats vom 24.01.2000 auf 22.233,33 DM festgesetzt (233,33 DM + 20.000,- DM + 2.000,- DM [= 2/3 von 3.000,- DM]).

Die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung wird abgeändert; der Streitwert für das landgerichtliche Verfahren beträgt 21.566,33 DM, wobei der Feststellungsantrag mit 1.333,- DM (= 2/3 von 2.000,- DM) zu bewerten war.

Beschwer: jeweils unter 60.000,00 DM

Ende der Entscheidung

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