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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 09.12.1999
Aktenzeichen: 1 Ws 963/99
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
StGB § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2

Eine der Aussetzung der Vollstreckung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung entgegenstehende ungünstige Sozialprognose kann nicht allein daraus hergeleitet werden, dass dem Verurteilten bisher keine Vollzugslockerungen gewährt worden seien und auch seine ausländerrechtliche Situation ungeklärt sei, wenn insbesondere nicht festgestellt ist, dass der Verurteilte diese Umstände selbst zu verantworten hat.

OLG Düsseldorf, 1. Strafsenat, Beschluß vom 09.12.1999 - 1 Ws 963/99 -


OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF

BESCHLUSS

1 Ws 963/99 8 VRs 32/99 StA Krefeld

In der Strafvollstreckungssache

gegen

...

wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz

hat der 1. Strafsenat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht S... sowie die Richter am Oberlandesgericht H... und S... auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluß der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Krefeld vom 26. Oktober 1999 - 33 StVK 264/99 - nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft am 9. Dezember 1999 beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten der Beschwerde, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Landgericht Krefeld hat gegen den Verurteilten am 3. März 1998 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge auf eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten erkannt. Die Entscheidung ist seit dem 21. Januar 1999 rechtskräftig. Seit diesem Tage verbüßt der Verurteilte die Freiheitsstrafe unter Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft. Zwei Drittel der Strafe waren am 26. November 1999 verbüßt. Das Strafende ist auf den 26. Januar 2001 notiert.

Mit Beschluß vom 26. Oktober 1999 hat es die Strafvollstreckungskammer - gemäß dem Antrag der Staatsanwaltschaft und in Übereinstimmung mit der negativen Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt - abgelehnt, die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Krefeld vom 3. März 1998 gemäß § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung auszusetzen. Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde des Verurteilten, die zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz führt.

II.

1. Die Strafvollstreckungskammer hat ihre ablehnende Entscheidung wie folgt begründet:

"Es kann nicht verantwortet werden zu erproben, ob sich der Verurteilte außerhalb des Strafvollzuges straffrei führen wird. Zwar ist der Verurteilte in vorliegendem Verfahren Erstverbüßer und darüber hinaus nicht vorbestraft. Er verhält sich auch in der Justizvollzugsanstalt beanstandungsfrei. Der Verurteilte ist aber bisher in der Justizvollzugsanstalt durch Lockerungen noch nicht erprobt worden. Angesichts der längeren Strafverbüßung hält die Kammer vor einer Entlassung in die Freiheit eine Erprobung durch Lockerung des Vollzuges für erforderlich, um dem Verurteilten die Gelegenheit zu geben, seine familiären Bindungen und beruflichen Möglichkeiten zu prüfen. Hinzu kommt, daß offenbar eine vollziehbare Ausweisungsverfügung vorliegt, so daß die ausländerrechtliche Situation des Verurteilten bisher noch nicht geklärt ist.

Unter diesen Voraussetzungen kann dem Verurteilten zur Zeit eine günstige Zukunftsprognose nicht gestellt werden."

2. Der angefochtene Beschluß hat keinen Bestand, weil er an schwerwiegenden Begründungsmängeln leidet.

a) Gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB setzt das Gericht die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind, dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann und der Verurteilte einwilligt. Bei der Entscheidung sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgutes, das Verhalten des Verurteilten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind (§ 57 Abs. 1 Satz 2 StGB).

Allerdings setzt das Erprobungswagnis nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB nicht voraus, daß die Gewißheit oder Gewähr eines zukünftigen straffreien Verhaltens des Verurteilten außerhalb des Strafvollzuges besteht. Vielmehr genügt insoweit eine realistische - wirkliche - Chance für eine positive Prognose (vgl. Senatsbeschluß vom 26. August 1999 - 1 Ws 741/99 -; OLG Düsseldorf - 3. Strafsenat - NStZ 1988, 272/273; ferner Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl., § 57 Rdnr. 6 m.w.N.). Erforderlich ist hierfür eine durch Tatsachen belegte überwiegende Wahrscheinlichkeit, wobei der Zweifelssatz nicht gilt und verbleibende Restzweifel sich zu Ungunsten des Verurteilten auswirken (vgl. Senat a.a.O.; Tröndle/Fischer, a.a.O., § 57 Rdnr. 6 a und § 56 Rdnr. 5, jew. m.w.N.).

b) Bei der unter Beachtung der vorgenannten Kriterien zu treffenden Prognoseentscheidung hat die Strafvollstreckungskammer sich nicht in hinreichender Weise mit der Frage auseinandergesetzt, ob von dem Verurteilten zum jetzigen Zeitpunkt noch die Begehung rechtswidriger Taten, und wenn ja, welcher, droht. Hierzu bestand jedoch umso mehr Veranlassung, als der nicht vorbestrafte Beschwerdeführer Erstverbüßer ist und - unter Anrechnung der Untersuchungshaft - nunmehr über zwei Jahre und vier Monate ununterbrochen die Einwirkungen des Freiheitsentzuges verspürt. Mit dessen zunehmender Dauer verlieren aber die Tatumstände - vor allem bei einem bislang unbestraften Verurteilten - an Aussagekraft, während die Umstände an Bedeutung gewinnen, die Erkenntnisse über das Erreichen des Vollzugsziels und damit wichtige Informationen für die zu treffende Prognoseentscheidung vermitteln (vgl. dazu BVerfG Beschluß vom 24. Oktober 1999 - 2 BvR 1538/99 -, Pressemitteilungen des BVerfG Nr. 115/99 vom 4. November 1999, abgedruckt unter "NJW-Informationen") in Heft 47/1999 XVI).

aa) Mit diesen Grundsätzen, denen der Senat folgt, ist nicht vereinbar, daß die Strafvollstreckungskammer ungeachtet der Tatsache, daß der Verurteilte nicht vorbestrafter Erstverbüßer ist, seiner bisher beanstandungsfreien Führung im Vollzug und der von der JVA ebenfalls bestätigten Erfüllung seiner Arbeitspflicht ersichtlich keine Bedeutung beigemessen hat. Daran wird deutlich, daß die Strafvollstreckungskammer sich bei ihrer ablehnenden Entscheidung maßgeblich und einseitig von Umständen hat leiten lassen, die ihre Grundlage in der abgeurteilten Tat finden und den Beschwerdeführer in der Vergangenheit als Dealer mit größeren Mengen Heroin kennzeichneten. Dadurch aber ist die Strafvollstreckungskammer nicht zu einer auf einer umfassenden Tatsachengrundlage beruhenden realen Einschätzung der heute nach Verbüßung von mehr als zwei Jahren und vier Monaten Freiheitsstrafe von dem Beschwerdeführer noch ausgehenden Gefahren gelangt (vgl. dazu BVerfG, a.a.O.).

bb) Soweit die Strafvollstreckungskammer ihre Entscheidung darauf stützt, der Verurteilte sei bisher noch nicht durch Vollzugslockerungen erprobt worden, kann das zwar gegen eine positive Sozialprognose sprechen. Jedoch hätte im Sinne der von Verfassungs wegen gebotenen umfänglichen Aufklärung festgestellt werden müssen, aus welchen Gründen dem Verurteilten solche Lockerungen bisher verweigert worden sind. Nur wenn ihre Nichtgewährung auf einer tragfähigen Begründung beruht, darf dieser Umstand zum Nachteil des Verurteilten verwertet werden (vgl. BVerfG, a.a.O.). Der angefochtene Beschluß enthält hierzu jedoch keinerlei Feststellungen. Auch der Stellungnahme der JVA ist nicht zu entnehmen, aus welchen Gründen der Verurteilte bisher nicht in den Genuß von Vollzugslockerungen gelangt ist.

cc) Eine positive Sozialprognose kann schließlich nicht mit dem Hinweis verneint werden, die ausländerrechtliche Situation des Beschwerdeführers sei ungeklärt. Die Strafvollstreckungskammer hat es auch insoweit versäumt, aufzuklären und nachvollziehbar darzulegen, weshalb eine solche Klärung bisher nicht möglich war. Nur wenn der Verurteilte durch sein eigenes Verhalten maßgeblich dazu beigetragen hätte, seinen ausländerrechtlichen Status zu verschleiern bzw. seine Feststellung zu vereiteln oder zu erschweren, könnte ihm dies bei der zu stellenden Kriminalprognose nachteilig zugerechnet werden. Der angefochtene Beschluß läßt indessen nicht erkennen, daß die Strafvollstreckungskammer sich dessen überhaupt bewußt war. Sie hat sich ersichtlich darauf beschränkt, die Stellungnahme der JVA zu dieser Frage ungeprüft und unkritisch zu übernehmen.

III.

Angesichts der aufgezeigten schwerwiegenden Begründungsmängel unterliegt der angefochtene Beschluß der Aufhebung.

Der Senat erachtet es für geboten, die Sache zu neuer Prüfung und Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen. Dies ist abweichend von der Regel des § 309 Abs. 2 StPO gerechtfertigt, weil die Frage der Sozialprognose ohne weitere Nachforschungen und Erhebungen unter Beachtung des Beschwerdevorbringens nicht abschließend beurteilt werden kann. Insoweit darf dem Beschwerdeführer keine Instanz verloren gehen (vgl. hierzu Beschlüsse des Senats vom 3. Juli 1984 - 1 Ws 644/84 -, vom 15. Februar 1990 - 1 Ws 134-135/90 -, vom 16. Februar 1995 - 1 Ws 122-124/95 -; ferner Senat StV 1986, 367 sowie Senatsbeschluß vom 19. November 1997 - 1 Ws 803/97 -, alle m.w.N.).

Die Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz ist schließlich entgegen der Regel des § 309 Abs. 2 StPO auch deshalb gerechtfertigt, weil nach Zage des Falles eine eingehende mündliche Anhörung des Verurteilten zu den aufgeworfenen Fragen erforderlich sein wird, die im Beschwerdeverfahren regelmäßig aber nicht stattfindet (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., § 309 Rdnr. 7 und 8, § 454 Rdnr. 47, jeweils m.w.N.).

Da zur Zeit nicht abschließend beurteilt werden kann, ob die sofortige Beschwerde endgültig Erfolg hat, obliegt der Strafvollstreckungskammer auch die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels.



Ende der Entscheidung

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