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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 22.03.2000
Aktenzeichen: 2 Ws 89/00
Rechtsgebiete: GG, GVG


Vorschriften:

GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
GVG § 78 b Abs. 1 Nr. 1
GVG § 78 b Abs. 1 Nr. 2
Leitsatz

Es verstößt gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters, wenn die Strafvollstreckungskammer durch drei Richter statt durch den zuständigen Einzelrichter entscheidet.


OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF

2 Ws 89/00 2 Ws 90/00 48 Js 345/93 48 Js 174/95 StA Duisburg

Beschluß

In der Strafsache

wegen Vergewaltigung

hat der 2. Strafsenat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht S den Richter am Oberlandesgericht B und die Richterin am Amtsgericht B am 22. März 2000 auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluß der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Mönchengladbach vom 11. Januar 2000 (StVK 119 und 134/99) nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft

beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.

Die Aussetzungen der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Mülheim/Ruhr vom 22. März 1994 (48 Js 345/93 StA Duisburg) und der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des' Amtsgerichts Mülheim/Ruhr vom 7. September 1995 (48 Js 174/95 StA Duisburg) werden widerrufen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden dem Verurteilten auferlegt.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Mülheim/Ruhr hat den Beschwerdeführer am 22. März 1994 wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Durch Urteil des Amtsgerichts Mülheim/Ruhr vom 7. September 1995 ist gegen den Verurteilten wegen Vergewaltigung in vier Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verhängt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) angeordnet worden. Durch Beschluß vom 3. Dezember 1997 hat die Strafvollstreckungskammer den weiteren Vollzug der Unterbringung und die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 7. September 1995 zur Bewährung ausgesetzt. Durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Bonn vom 30. März 1999 ist der Beschwerdeführer wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt worden, die er inzwischen vollständig verbüßt hat.

Durch den angefochtenen Beschluß hat die Strafvollstreckungskammer die Strafaussetzungen zur Bewährung widerrufen.

II.

Die sofortige Beschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, weil die Strafvollstreckungskamrner in der Besetzung mit drei Richtern entschieden hat, obgleich die Voraussetzungen des § 78 b Abs. 1 Nr. 1 GVG nicht erfüllt sind. Denn gegen den Verurteilten war nur eine Maßregel nach § 64 StGB angeordnet worden, was die Strafvollstreckungskammer offensichtlich übersehen hat.

1.

Der angefochtene Beschluß unterliegt aus formellen Gründen der Aufhebung, weil ein funktionell unzuständiges Gericht entschieden hat und der Verurteilte dadurch seinem gesetzlichen Richter entzogen worden ist.

Soweit unter Heranziehung des Rechtsgedankens aus § 269 StPO die Auffassung vertreten wird, eine Entscheidung durch die mit drei Richtern besetzte Strafvollstreckungskammer anstelle des an sich gemäß § 78 b Abs. 1 Nr. 2 GVG zuständigen Einzelrichters sei unschädlich (vgl. OLG Düsseldorf, 4. Strafsenat, NStZ 1984, 477; LR-Siolek, 25. Aufl., § 78 b GVG Rdnr. 12; Kleinknecht/Meyer-Goßner, 44. Aufl., § 78 b GVG Rdnr. 8), vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Zwar ist dieser Meinung zuzugeben, daß die Zuständigkeitsverteilung in § 78 b GVG auf dem Gedanken beruht, die Strafvollstreckungskammern in weniger bedeutsamen Verfahren zu entlasten und lediglich in den enumerativ aufgezählten Fällen, die für den jeweils Betroffen von erheblich größerer Bedeutung sind, eine qualitativ bessere Ausstattung durch die Kenntnisse und den Sachverstand von drei Berufsrichtern zu schaffen (vgl. BT-Drucksache 7/550 S. 319 und 7/1261 S. 34). Daraus kann indessen allein nicht gefolgert werden, daß bei Entscheidung durch die nicht zuständige große Strafvollstreckungskammer dem Betroffenen der größere Sachverstand zugute komme und er nicht in seinen Rechten beeinträchtigt sei, weil ihm die präsumtive höhere Richtigkeit der Entscheidung zum Vorteil gereiche (so aber OLG Düsseldorf, 4. Strafsenat, aaO, LR-Siolek, aaO). Denn eine Rechtsgutbeeinträchtigung ist schon deshalb gegeben, weil der Betroffene in seinem grundgesetzlich verbürgten Anspruch auf Entscheidung durch den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt ist. Es erscheint auch inkonsequent, in den Fällen, in denen der Einzelrichter anstelle der gemäß § 78 b Abs. 1 Nr. 1 GVG zuständigen großen Strafvollstreckungskammer entschieden hat, wegen der nicht ordnungsgemäßen Besetzung einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG anzunehmen, einen solchen indessen unter Berufung auf den Rechtsgedanken des § 269 StPO im umgekehrten Fall zu verneinen (so LR-Siolek, aaO, Rdnr. 13).

Auch die Berufung auf den in § 269 StPO enthaltenen allgemeinen Rechtsgrundsatz kann nach Auffassung des Senats nicht dazu führen, wegen der präsumtiv besseren Qualifikation der großen Strafvollstreckungskammer hinzunehmen, daß der Betroffene dem gesetzlichen Richter entzogen wird. Zwar gereicht es gemäß § 269 StPO einem Angeklagten nicht zum Nachteil, wenn statt eines an sich zuständigen Strafrichters das Schöffengericht entschieden hat. Daraus kann auch bei isolierter Betrachtung aber nicht abgeleitet werden, daß dieser Grundsatz erst recht im Verhältnis der kleinen zur großen Strafvollstreckungskammer gilt, weil es dort nur um die Frage der Besetzung eines einheitlichen Spruchkörpers, nicht aber um zwei unterschiedlich zuständige Gerichte verschiedener Ordnungen geht. Der aus § 269 StPO folgende Grundsatz kann nur in den Fällen zur Anwendung kommen; in denen das Gesetz einem mit der Sache befaßten Gericht höherer Ordnung die Befugnis zur eigenen Sachentscheidung einräumt. Die große Strafvollstreckungskammer ist gegenüber der mit einem Richter besetzten kleinen Kammer nach der Regelung in § 78 b GVG aber kein Gericht höherer Ordnung. Der Gesetzgeber hat in den nicht § 78 b Abs. 1 Nr. 1 GVG unterfallenden Verfahren gerade der großen Strafvollstreckungskammer die Befugnis entzogen, in diesen eigene Entscheidungen zu treffen und diese Kompetenz ausschließlich dem Einzelrichter zugewiesen. In einem solchen Fall funktioneller Zuständigkeitsabgrenzung kann der Grundsatz des § 269 StPO keine Anwendung finden, vielmehr ist allein der Einzelrichter als gesetzlicher Richter anzusehen.

Im übrigen muß nach Auffassung des Senats eine umfassende Wertung unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte vorgenommen werden, die im Ergebnis dazu führt, daß eine unter Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zustandegekommene Entscheidung eines unzuständigen Gerichts der Aufhebung unterliegt (so auch OLG Koblenz NStZ 1984, 284 LS; Kissel, 2. Aufl., § 78 b GVG Rdnr. 9, § 16 GVG Rdnr. 29).

So spricht schon der Wortlaut des § 78 b GVG, der eine klare Zuständigkeitsabgrenzung vornimmt, für die hier vertretene Auffassung.

Maßgebend ist ferner ein Gesichtspunkt, der vor allem im Rahmen der §§ 119 Abs. 6 Satz 1, 126 Abs. 2 Satz 3, 140 Abs. 2 Satz 1, 141 Abs. 4 StPO herangezogen wird. Die überwiegende Rechtsprechung und Literatur (vgl. OLG Düsseldorf, 5. Strafsenat, NJW 1982, 1471, 1472; OLG Bremen Rpfleger 1968. 397; OLG Frankfurt StV 1988, 536; OLG Hamm NJW 1969, 1865, 1866; OLG Karlsruhe NJW 1974, 110; OLG Koblenz NJW 1981, 1570; MDR 1978, 693; OLG Köln JMBl NW 1967, 103; OLG München StV 1995, 140, 141; Kleinknecht/Meyer-Goßner, aaO, § 126 StPO Rdnr. 10; LR-Hilger, 25. Aufl., § 126 StPO Rdnr. 19; a.A. Senatsbeschluß vom 14.2.1997 = StV 1998, 41; OLG Düsseldorf, 1. Strafsenat, MDR 1985, 603; JMBI NW 1968, 227, 228; OLG Hamburg NJW 1965, 2362, 2363; KK-Boujong, 4. Aufl., § 126 StPO Rdnr. 13) vertreten hier die Auffassung, daß eine Entscheidung durch den gesamten Spruchkörper anstelle des zuständigen Vorsitzenden schon im Hinblick auf problematische Abstimmungsergebnisse nicht hingenommen werden könne. Soweit das Gesetz Entscheidungen dem Kollegium entziehe und dem Vorsitzenden zuweise, dürfe nicht auch nur die Möglichkeit bestehen, daß der zuständige Vorsitzende von den nicht zuständigen Beisitzern in seiner Meinungsbildung beeinflußt oder gar überstimmt werde (vgl. Senatsbeschluß vom 23.7.1968 = JMBI NW 1969, 115, 116).

Welche Bedeutung der Gesetzgeber dem gesetzlichen Richter beimißt, wird besonders in der seit dem 1. März 1998 geltenden Vorschrift des § 80 a OWiG deutlich. In den in § 80 a Abs. 2 OWiG aufgeführten Fällen entscheidet der Einzelrichter, im übrigen ist das mit drei Richtern besetzte Gremium zuständig. Verfahren, in denen der Einzelrichter zu befinden hat, kann das Richtergremium, dem in der Regel auch der Einzelrichter angehört, nicht ohne weiteres an sich ziehen; vielmehr bedarf es einer vom Einzelrichter ausdrücklich vorgenommenen Übertragung der Sache auf das Gremium, damit dieses zur Entscheidung aufgerufen wird (§ 80 a Abs. 3 OWiG).

Schließlich ist bei der vorzunehmenden Gesamtschau zu berücksichtigen, daß das Prinzip des gesetzlichen Richters Verfassungsrang hat und die Rechtsstaatlichkeit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung sichern soll. Es gilt nicht nur für das Gericht als organisatorische Einheit, sondern auch für den im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Richter (vgl. BVerfGE 40, 356, 361).

Zwar liegt eine Richterentziehung bei einer auf einem Verfahrensirrtum beruhenden gesetzwidrigen Besetzung nicht vor (vgl. BVerfGE 30, 165, 167); indessen führt vorliegend nicht allein die Verletzung des Verfassungsprinzips zur Aufhebung der durch einen unzuständigen Spruchkörper getroffenen Entscheidung. Von entscheidender Bedeutung bei der Beantwortung der zu beurteilenden Rechtsfrage ist vielmehr, daß eine Durchbrechung des grundgesetzlich verankerten Anspruchs auf Entscheidung durch den gesetzlichen Richter grundsätzlich nicht hingenommen werden kann und dessen Geltung in der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung ständig betont und zunehmend hervorgehoben wird.

2.

Einer Zurückverweisung an den zuständigen Einzelrichter der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts bedarf es nicht.

Das Oberlandesgericht kann gemäß § 309 Abs. 2 StPO in der Sache selbst entscheiden, weil es sowohl das der großen als auch der kleinen Strafvollstreckungskammer übergeordnete Beschwerdegericht ist und es dem allgemein geltenden Beschleunigungsgebot widersprechen würde, wenn im selben Instanzenzug das Verfahren trotz eigener Entscheidungsmöglichkeit durch Zurückverweisung verzögert wird (so auch OLG Frankfurt StV 1989, 491; OLG Hamm, 2. Strafsenat, NStZ 1992, 407; LR-Siolek, aaO, § 78 b GVG Rdnr. 14; a.A. OLG Düsseldorf, 4. Strafsenat, StV 1991, 432; OLG Hamm. 4. Strafsenat, NStZ 1994, 146; OLG Karlsruhe DJ 1998, 603).

III.

In der Sache selbst ist der Auffassung der Strafvollstreckungskammer in dem angefochtenen Beschluß zuzustimmen.

Der Widerruf der Strafaussetzungen zur Bewährung ist vorliegend im Hinblick auf die neuerliche in den Bewährungszeiten begangene Straftat und die darin zum Ausdruck gekommene unverändert aggressive Einstellung des Verurteilten zwingend geboten. Minder schwere Maßnahmen reichen angesichts des eklatanten Bewährungsversagens und der bei der Tatausführung in der Nacht zum 11. September 1998 entwickelten kriminellen Energie ersichtlich nicht aus. Abgesehen davon hat, die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Mönchengladbach bereits durch Beschluß vom 3. Dezember 1997 eine Maßnahme iSd § 56 f Abs. 2 StGB getroffen und die Bewährungszeit aus dem Bewährungsbeschluß vom 22. März 1994 verlängert.

Das Landgericht hat bisher nicht über die Frage des Widerrufs der bedingten Aussetzung der Unterbringung (§ 67 g StGB) gemäß Beschluß vom 3. Dezember 1997 befunden. Die Frage wird daher von der Strafvollstreckungskammer noch zu prüfen sein.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO. Das Rechtsmittel des Verurteilten hat hinsichtlich des erstrebten Ziels (Absehen vom Bewährungswiderruf) in der Sache keinen Erfolg gehabt, so daß er die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen hat.

Ende der Entscheidung

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